Was den Indianer nicht umhaut, kann für Konsumenten industrieller Lebensmittel kaum schädlich sein. Schon gar nicht, wenn es süß schmeckt, keine Kalorien hat, aus nachwachsenden, pflanzlichen Rohstoffen gewonnen wird – und mithin allen Ansprüchen an ein modernes, ökologisch korrektes Trendprodukt gerecht wird. Die Menschheit darf sich deshalb auf Stevia rebaudiana bertoni freuen, ein Kraut aus Südamerika, dessen getrocknete Blätter die Guarani-Indianer dort seit etwa fünf Jahrhunderten in ihren Matetee bröseln. Statt Zucker. Wenn es gut läuft, wird Stevia alsbald den Weltmarkt für Süßungsmittel überwuchern: Vor wenigen Tagen hat die europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) mehreren
Kultur : Grün ist das neue Süß
Stoffe aus der Stevia-Pflanze sollen auf natürliche Weise Zucker und Kalorien sparen. Doch das Natur-Image täuscht
Von
Kathrin Zinkant
äischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) mehreren Surrogatextrakten aus der Pflanze gesundheitliche Unbedenklichkeit bescheinigt. Was plausibel erscheint, denn im Gegensatz zu vollsynthetischen Surrogaten wie Aspartam, Acesulfam, Cyclamat, Saccharin und Neotam kommen Stevia und seine süßenden Wirkstoffe ja aus der Natur.Warum aber sind sie dann nicht viel früher auch in unsere Lebensmittel gekommen? Wer sich gleichermaßen für Reformkost und kalorienarme Ernährung interessiert, hat den Namen Stevia in den vergangenen 30 Jahren häufig gehört. Das Süßblatt, wie die Pflanze unter anderem genannt wird, gilt vielen Anhängern nicht nur als Inbegriff der natürlichen Alternative zu weißem Zucker oder chemischem Imitat, sondern auch als Heilmittel. Es gibt einen Förderkreis mit Namen Free Stevia und eine europäische Initiative, die eine generelle Freigabe der Pflanze und ihrer Bestandteile fordern, seit Jahren schon.Plötzlich keine Zweifel mehrDiese und andere Befürworter des krautigen Süßungsmittels verdächtigten die Süßstoffindustrie der interessengesteuerten Manipulation, nachdem der damalige Aspartam-Hersteller Monsanto Anfang der achtziger Jahre eine Studie finanziert hatte, deren Ergebnisse Zweifel an der Unbedenklichkeit von Stevia aufkommen ließen. In dem Experiment ging es zwar nicht um die Blätter und auch nicht um Extrakte oder die reinen, süßenden Stoffe aus der Pflanze, sondern um ein Folgeprodukt namens Steviol, das sich als potenziell krebserregend erwies. Aber Steviol entsteht, wenn Stevia-Extrakte vom Enzymen im Verdauungstrakt abgebaut werden. Offiziell hieß es sowohl von den US-Behörden als auch bei den europäischen Zulassungsstellen, die Daten zum grünen Zuckerersatz seien zu dünn, als dass einer Zulassung von Stevia zugestimmt werden könne.Die letzte Absage dieser Art ist nun zehn Jahre her, und nach wie vor ist die Pflanze als Zutat in Lebensmitteln verboten. Für die einzelnen Stoffe aber hat sich die Situation geändert: Die Schweiz erlaubte im Herbst 2008 ein Steviagesüßtes Sportgetränk. Zeitgleich wurden Stevia-Süßstoffe in Australien und Neuseeland erlaubt. Im Dezember 2008 akzeptierte die US-Lebensmittelbehörde FDA die Stevia-Rezepturen von Agrarriese Cargill (Truvia®) und Süßstoffhersteller Merisant (Purevia®) als GRAS (Generally Reported As Safe). Kurz darauf kamen Sprite Green von Coca-Cola, diverse Steviagesüßte Getränke und ein Joghurt anderer Hersteller auf den nordamerikanischen Markt. Auch Frankreich hat im vergangenen Jahr eine vorläufige Zulassung für Stevia-Süßstoffe erteilt. Nach erneuter Begutachtung der wissenschaftlichen Erkenntnisse über die beiden relevanten chemischen Verbindungen aus Stevia – die da heißen: Rebaudiosid A und Steviosid – kann man also vielerorts plötzlich keine Risiken mehr für die Gesundheit entdecken.Wie kommt das? Man sollte vermuten, dass sich die zuvor bemängelte Datenlage massiv verändert hat, und es vor allem neue, wissenschaftliche Erkenntnisse sind, die zu der Kehrtwende geführt haben. „Um die Sicherheit von Rebiana [gemeint ist Rebaudiosid A, Anm. der Freitag] zu demonstrieren, hat das Unternehmen ein intensives Forschungsprogramm absolviert, dessen Ergebnisse in Peer-Review-Journalen veröffentlicht und der FDA vorgelegt wurden“, lobt sich zum Beispiel die Coca-Cola-Company, die Truvia® gemeinsam mit Cargill auf den Markt befördert hat.Kein Zurück zur NaturWer aber nach neuen, überzeugenden Belegen für die Sicherheit der Wirkstoffe aus dem Honigkraut sucht, wird enttäuscht: Seit 2000 vergrößerte sich zwar die Menge an Daten, aber nur wenige Studien befassten sich mit den Wirkungen realistischer Konzentrationen auf den gesunden menschlicher Organismus – um den es ja letztlich geht. Ratten dagegen durften für verschiedene Fragestellungen teils absurde Mengen der reinen Süßstoffe futtern, mit widersprüchlichen Resultaten.Erst 2006 zeigte eine weitere umstrittene Studie (dieses Mal von der brasilianischen Süßstoffindustrie finanziert), dass reines Steviosid in Ratten Neubildungen befördert. Andere Studien widerlegten einen krebserregenden Effekt. Man fand Hinweise darauf, dass die Süßstoffe positiv auf Blutdruck und Blutzuckerspiegel wirken. Man fand Hinweise, dass die selben Stoffe keine solche Wirkung entfalten. Und immer wieder ging es um den Einfluss auf die Fruchtbarkeit: 1968 hatten Forscher eine verhütende Wirkung von Stevia-Extrakten in Rattenweibchen beschrieben. Später fand man entsprechende Effekte in Rattenmännchen. Und selbstverständlich erkannte man in zahlreichen Studien, dass Stevia-Süßstoffe die Fruchtbarkeit überhaupt nicht beeinflussen. Was unterm Strich zur selben Erkenntnis führt wie schon bei den synthetischen Süßstoffen: Das geringste Risiko geht ein, wer das Zeug einfach weglässt.Nur wird das den Stevia-Jüngern wohl so wenig einleuchten wie überengagierten Ernährungsforschern, die sich im Kampf gegen das Übergewicht längst auf die Seite der Lebensmittelhersteller geschlagen haben – in dem Glauben, man könne mit Kalorienreduzierten Lebensmittelimitaten irgendetwas bewirken. Die Folge aber ist kein Zurück zur Natur und auch kein Zurück zum richtigen Maß. Sondern nur eine profitable Erweiterung der industriellen Produktpalette, die niemand braucht.