Essen ist eine Notwendigkeit, die große Wut in den Bäuchen erzeugt. Aber die Probleme in der Ernährungsindustrie sind grundlegender, als viele wahrhaben wollen
Jonathan Safran Foer, amerikanischer Autor des 2009 veröffentlichten Weltbestsellers Eating Animals, hat das Thema Essen mittlerweile gründlich satt. Er fand es „bis zu einem bestimmten Punkt interessant“, fast „inspirierend“, erklärt er jetzt in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, aber über diesen erquicklichen Punkt sei man doch schon seit Jahren hinaus. Er würde das Thema deshalb gern ad acta legen.
Allein, er kann nicht. Die Sache, schreibt Foer, lasse ihn nicht los. Ob es uns auch so gehe, will er wissen, was mit Verlaub, nicht einer gewissen Ironie entbehrt – war es doch die deutsche Übersetzung seines Buchs, die im vergangenen Jahr den Boden bereitete für jene überaus heftigen Reaktionen, die der jüng
ionen, die der jüngste Skandal in der Fleischindustrie provozierte. Und ja, natürlich haben alle das Thema Essen satt, gerade deshalb ist es für viele nicht gegessen. Die Debatte der Freitag-Community sei als gutes Beispiel dafür genannt, wie überspannt der Bogen in Sachen Nahrungsmittelindustrie inzwischen ist. Die Frage ist nun, wie man die Emotionen kanalisiert und dafür nutzt, ein schon viel zu lange still geduldetes Problem grundlegend und konzentriert zu lösen, nämlich, dass wir immer wieder Dinge essen, die auf völlig inakzeptable Weise produziert werden – allen voran das Fleisch aus Massentierhaltungen.Fleisch ist zwar nicht das einzige Problem, aber vielleicht ein guter Anfang, weil es mit großer Kontinuität zum Gegenstand Ekel erregender Schlagzeilen gerät, und zugleich auch konsequent die Dogmafallen offenbart, in die man auf der Suche nach einer Systemalternative tappt. Als da wären: Gesundheitmythen, Naturidee und Welthungerfrage. Der Gesundheitsaspekt von Lebensmitteln dient nicht ohne Grund als hartnäckige und vermeintlich rationale Richtschnur für eine andere Ernährung: Seit Justus von Liebig sich Ende des 19. Jahrhunderts in die chemischen Details von Nahrungsmitteln – und zwar bevorzugt von Fleisch – versenkte, hat sich die Forschung nicht mehr von der Idee lösen können, dass die Nährstoffkomposition des Essens einen entscheidenden Einfluss auf die Gesundheit eines Menschen hat.Nachgerade tödlichStudie um Studie will seither wissenschaftliche Belege für konkrete Effekte gefunden haben, seit Ende der Hungerjahre vor allem dafür, dass tierisches Fett und Eiweiß aus Fleisch die Entstehung von Krebs und Herzleiden fördern. Erst 2009 erschien im Fachblatt Archives of Internal Medicine eine Arbeit, die rotem Fleisch angeblich eine tödliche Wirkung bescheinigt. Wer sich häufig mit dem Thema Ernährung befasst, begegnet dieser Studie regelmäßig, vor allem, wenn es darum geht, einen völligen Verzicht auf Fleisch zu propagieren. Die Studie selbst legt aber nur nahe, dass eine nicht genau definierte Reduktion im Verzehr von industriell verarbeitetem Fleisch das Risiko für einen Krebs- oder Herztod senken könnte. Ganz sicher sind sich die Autoren da allerdings auch nicht, weil die Methode der Erhebung – ein Fragebogen zu 124 Lebensmitteln, die die Teilnehmer im Jahr vor der Studie gegessen hatten – eine gute Fehlerquelle darstellt. Das gleiche gilt natürlich für die kurz davor im American Journal of Clinical Nutrition veröffentlichten Ergebnisse einer europäischen Studie, die auf ähnlichem Weg zu dem nun verstörenden Resultat kommt, dass der Verzicht auf Fleisch das Gesamtrisiko für Krebs gar nicht beeinflusst und für Darmkrebs sogar erhöht. Selbst wenn man weitere Erhebungen dieser Art heranzieht, bleibt unterm Strich nur der Verdacht, dass es der Gesundheit grundsätzlich egal ist, ob nun Fleisch oder nicht. Einziger Konsens: Nicht so stark verarbeitet ist besser. Und das ist immerhin etwas. Größte Profiteure ernährungswissenschaftlicher Zwischenerkenntnise sind nämlich seit jeher die werbenden Hersteller industriell gefertigter Lebensmittel. Auch im Fleischsektor. Man denke nur mal an Gefügelwurst.Wenn es aber nun gesundheitsmäßig nicht die Nahrung selbst, sondern ihre Verarbeitung ist – wäre da nicht der Sprung in die paläoanthropologische Vergangenheit das richtige, nach dem beliebten Motto: Zurück zur Natur? Was die Natur für uns Menschen an Nahrung vorgesehen hat, will sie uns bloß nicht verraten. Sicher ist nur, dass sich Homo sapiens seit seiner Entstehung Fleisch zwischen die Kiefer geschoben hat, im Gegensatz zu weit weniger entwickelten Vorfahren, was manchen Forscher zu der These gebracht hat, dass der Fleischkonsum zumindest nicht nachteilig für uns gewesen sei. Andere Forscher sehen den Vorteil sogar gerade darin, dass der moderne Mensch ein Allesfresser war, und sich je nach Angebot und Bedarfslage ernähren konnte. Was für individuellen Kontext weitere Erleichterung verschafft, denn Natur hin, Natur her: Unsere Angebotslage ist so, dass wir uns aussuchen können, was wir essen. Nur: dürfen wir das auch, angesichts der vielen Millionen, die sich nicht in so einer komfortablen Lage befinden?Welt ohne HühnchenDas Argument, die Fleischproduktion verschwende Nahrungsenergie, die andernorts auf diesem Planeten klar fehlt, hat Simon Fairlie dazu gebracht, das Buch Meat: A Benign Extravagance (der Freitag, Nr. 38 2010) zu schreiben. Er wollte wissen, ob die Welt ohne Fleisch wirklich besser dran wäre, und kam nach eingehender Recherche zu dem Ergebnis, dass Fleischverzicht keine Lösung ist – aber der Verzicht auf Massentierhaltung sehr wohl.Und was das simple Verbot eines einzigen Lebensmittels anstelle des angezeigten Systemwechsels letztlich bewirken könnte, beschreiben der Autor John Layman und der Zeichner Rob Guillory in einem dringend zu empfehlenden Comic, der just auf Deutsch erschienen ist (crosscult.de, 16,80€): Chew beschreibt eine Welt, in der der Konsum von Hühnerfleisch nach einer verheerenden Vogelgrippepandemie bei Strafe verboten ist. Der Held der Geschichte, Polizist Tony Chew, sucht zwischen dem legalen Hühnchenimitat „Hynchen“ nach Spuren des echten Huhns (das natürlich alle essen wollen). Dank einer übersinnlichen Fähigkeit fällt ihm das im Wortsinn verdammt leicht: Tony ist ein Cibopath. Er kann nicht nur jede noch so winzige Komponente einer Speise herausschmecken, sondern auch deren Vita vor seinem inneren Auge sehen – woher die Zutat kommt, wie sie behandelt wurde, wer damit zu tun hatte. Und was der Leser mit Tony durchleidet, ist selbst in einer Welt ohne Hühnerfleisch qualvoll. Vom Apfel bis zum Hynchen regieren Chemie und Masse wie eh und je. Und es dämmert: Wären wir alle wie Tony – Fleisch wäre nicht unser Problem und Frau Aigner käme mit ihrem niedlichen Hühnerschutzplan nicht durch. Denn um in Kenntnis aller Umstände sorglos Lebensmittel essen zu können, muss viel, viel mehr passieren.