Dass man besser keine Prognosen wagen soll – speziell nicht, wenn es um die Zukunft geht – ist ein beliebtes Zitat, das von Baseballspielern bis zu Nobelpreisträgern den verschiedensten Quellen zugeschrieben wird. Wer sich an die Expertenmeinungen zu Anfang der laufenden Bundesligasaison erinnert und heute einen Blick auf den Tabellenstand wirft, findet diese Weisheit ebenso bestätigt wie beim Durchblättern von „The World in 2011“. Diese Jahresprognose gab im Dezember das Magazin The Economist heraus. Von möglichen ernsten Problemen für Mubarak und Gaddafi oder einem Bürgerkrieg an der Elfenbeinküste ist dort nicht die Rede. Und auch nicht von der konkreten Gefahr verheerender Erdbeben in Neuseeland oder Japan.
Der Vergleich der Vor
ch der Vorhersagbarkeit politischer Erschütterungen mit geologischen ist nur auf den ersten Blick allzu weit hergeholt. Beiden gemein sind zum Beispiel Spannungen, die sich langsam aufstauen und plötzlich entladen können. Bei beiden können vermeintlich kleine Ereignisse etwas Größeres triggern. Beides sind Resultate eines Zusammenspiels zahlreicher Faktoren, dessen Dynamik und zukünftige Entwicklung selbst für Experten kaum zu durchschauen ist. Erdbeben konkret voraussagen zu können – zumindest wo und zu welchem Zeitpunkt sie auftreten – ist nach Aussage der amerikanische Seismologin Susan Hough anlässlich des Haiti-Bebens Anfang 2010, „der Heilige Gral“ der Geoforschung. Eine hinreichend präzise Methode könnte jährlich zehntausende Leben retten (in der vergangenen Dekade betrug die Zahl der jährlichen Opfer nie weniger als 1.000, dafür oft deutlich mehr als 10.000, in Haiti starben offiziellen Angabe zufolge 380.000 Menschen). Aber der Gral, er ist derzeit so unauffindbar wie der Revolutionsprediktor für tektonische Verschiebungen in der Weltordnung.Der seit dem Tsunami im Indischen Ozean zum bekanntesten deutschen Geoforscher aufgestiegene Jochen Zschau vom Helmholtz-Zentrum in Potsdam hat einmal gesagt, die Erde scheine schlicht „chaotisch“ auf vieles zu reagieren, was in ihr passiert. Die seismologische Forschung kann immer häufiger grob vorhersagen, dass in einer Weltgegend ein Beben bevorsteht und sogar über dessen Stärke gewisse Vorhersagen abgeben, aber nicht über das Wann und das mehr oder minder genaue Wo.In zehn Sekunden aufs HandyZschau ist einer der Miterfinder des deutsch-indonesischen Tsunami-Frühwarnsystems (GITEWS). Das Prinzip dieses Netzwerkes aus Bojen, Seismografen, GPS-Antennen, Satelliten und Computern (Menschen kommen auch vor, sind aber im allgemeinen zu langsam für solche Aufgaben) verdeutlicht, warum man manche Folgen der tektonischen Plattenverschiebungen einigermaßen vorhersagen kann, und andere nicht. Das Schlüsselwort heißt „Folgen“: Tsunamiwellen entstehen als Folge eines Bebens, die Stärke dieses Auslösers und seine Lokalisation lassen sich messen. Die Messungen laufen automatisch in den Computer, der anhand von Geologie und Topografie dann berechnen kann, wann die Welle wo ankommen sollte. Einigermaßen. Die Genauigkeit der Tsunamiwarnungen lässt, vor allem was die Höhe der Welle angeht, immer noch zu wünschen übrig. Aber das Wo und Wann klappt schon ganz gut. Immerhin.Prinzipiell ähnlich funktioniert das Erdbeben-Frühwarnsystem (oder eher „Spätwarnsystem“), das am vergangenen Freitag zum Beispiel den Tokiotern über Fernsehen oder Mobiltelefone eine Minute, bevor alles zu wackeln anfing, das Beben ankündigte. Klare seismische Signale für ein Beben wandern schneller als das Beben selbst, und bis der Computer fast vollautomatisch seine Warnungen auf Fernsehbildschirme, Handydisplays und Lautsprecher schickte, dauert es gerade einmal zehn Sekunden.Eine Minute ist mehr als genug Zeit, sich unter einen Türrahmen zu flüchten, Schnellzüge abzubremsen, Gasleitungen automatisch zu schließen, Ampeln an gefährdeten Brücken automatisch auf Rot zu stellen. Das System hat etwa eine Milliarde Euro gekostet, und es hat – auch wenn die Bilder das nicht glauben machen – geholfen, die Schäden deutlich zu begrenzen, Leben zu retten. Das Beben in Tokio war eine vorhersagbare Folge des Bebens im Epizentrum.Die physikalisch und auch mit Rechnerleistung nicht überwindbare Ironie von Tsunami- als auch Bebenwarnungen ist aber: Je näher das Epizentrum ist – und je gewaltiger damit die Wucht des Ereignisses – desto schneller kommt auch die Welle oder die Erschütterung an. In der Gegend von Sendai kam das Beben nicht etwa eine Minute nach der Warnung, sondern fast zeitgleich. Der Tsunami folgte nur knapp fünf Minuten später – für viele viel zu schnell, um sich retten zu können. Um wie viel besser wäre alles gewesen, hätte es eine echte Warnung vor dem Beben gegeben, deutlich bevor die Schockwelle überhaupt durch den Boden rast. Einen Tag oder auch nur eine Stunde vorher.Vor mehr als einem Vierteljahrhundert sah es danach aus, als wäre so etwas möglich. Anfang 1975 wurde die chinesische Stadt Haicheng evakuiert. Schwache Erdstöße, die Seismologen als foreshocks, als Vorboten eines stärkeren Bebens interpretierten, waren der Anlass. Wahrscheinlich rettete die Aktion mehr als hunderttausend Menschenleben, denn einen Tag später wurde Haicheng tatsächlich von einem massiven Erdbeben getroffen. Ein Zufall, wie man inzwischen weiß: Nur gut fünf Prozent aller schwachen Beben sind Foreshocks – was, sofern man jedes Mal Alarm auslöste, zu einer Fehlalarmquote von etwa 95 Prozent führte. Dazu kommt, dass auch längst nicht jedem großen Beben kleinere vorausgehen. Ein Jahr nach dem Triumph von Haicheng wurde Tangshan erschüttert, ohne jede seismische Foreshock-Vorwarnung. Die Zahl der damaligen Todesopfer wird auf bis zu 750.000 geschätzt.Die Seismologin Susan Hough nennt die Erfahrungen der Erdbeben-Vorhersageforschung eine „Lernkurve der Frustration“. Neben der Foreshock-Methode gibt es zwar einige andere Ansätze, doch auch die resultieren höchstens zufällig hie und da in korrekten Vorhersagen. Vor dem Beben von L’Aquila in den Abruzzen 2009 hatte ein Ingenieur namens Gioacchino Giuliani Warnungen veröffentlicht, die er aus Messungen der Freisetzung des Edelgases Radon aus Gestein ableitete. Doch auch diese Methode produziert bislang meist Fehlalarm und Giuliani hatte nicht einmal Ort und Zeit des Schocks korrekt vorhergesagt. Auch die so genannte VAN-Methode – benannt nach den Anfangsbuchstaben der Familiennamen der drei griechischen Erfinder – kann anhand von elektrischen Signalen aus der Erdkruste gewisse Vorhersagen ableiten helfen. Sie gilt aber ebenfalls als zeitlich, örtlich und bezüglich der Magnitude als weit zu ungenau und ist deshalb bislang kaum relevant für die Praxis.Dass ein starkes Beben für die Tokioter Gegend bevorstand – jetzt, in ein paar Monaten oder auch Jahren – wussten die Seismologen und die Japaner allein aus der historischen Erfahrung. Für Erdbeben gibt es zeitliche und räumliche Muster. Ein Beben einer bestimmten Stärke ist nach einer bestimmten Zeit allein deshalb zu erwarten, weil die tektonischen Platten sich mit gleicher Geschwindigkeit gegen einander bewegen und weil an ihren Rändern stets die gleichen Kräfte wirken, mit denen sie sich ineinander verhaken. Das Ergebnis ist eine Art „Erinnerungseffekt“, der für Beben unter anderem von dem Gießener Geoforscher Armin Bunde analysiert und beschrieben wurde. Was allerdings hinzu kommt ist das chaotische, nicht messbare, nicht vorhersagbare Verhalten. Das Beben kann etwas früher und etwas schwächer oder deutlich später und deutlich stärker kommen und auch der Ort des Epizentrums ist vorher nicht klar. Auch langfristige Erfahrungen mit solchen Mustern können täuschen: Die Reaktoren von Fukushima stehen oder standen dort, wo sie standen, weil gerade diese Gegend als relativ ungefährdet für starke Erdstöße galt.Viele große Beben folgen räumlichen Mustern entlang den Bruchlinien der Erdkruste. Deshalb gelten Erschütterungen in der Region nahe Japan, in Taiwan etwa, jetzt als besonders wahrscheinlich. Ähnliches gilt für Istanbul. Das letzte große Beben in der Gegend gab es 1999 nahe Izmit, 100 Kilometer östlich. Durch das Ereignis haben sich die Spannungen an der Bruchlinie abgebaut, was für Istanbul bedeutet, dass eine ähnliche abrupte Verschiebung als eine Art Nachrück-Effekt bevorsteht. Tom Parsons vom US Geological Survey veröffentlichte 2004 Berechnungen, die bis 2030 eine 70-prozentige Chance für ein solches Ereignis benannten. Und in solchen Wahrscheinlichkeitsbereichen bewegen sich die heutigen Möglichkeiten der Beben-Vorhersage.Raster von ReferenzpunktenEin junger, kombiniert physikalisch-mathematischer Ansatz von Wissenschaftlern aus Delft und Utrecht soll das ändern. Sie wollen die Erde an der Oberfläche und in der Tiefe mit einem Raster von Referenzpunkten durchziehen. Für möglichst viele von diesen Punkten soll es ständig Messungen von Bewegung, Temperatur und Druck geben. „Aus den Geschwindigkeiten, mit denen sich solche Referenzpunkte bewegen, lassen sich die Verschiebungen berechnen“, sagt Kees Vuik von der Technischen Universität Delft. Gebe es große Unterschiede in den Verschiebungen in benachbarten Schichten, würde „die Spannung sehr stark, und wenn sie ein bestimmtes Limit übersteigt, bewegen sich die Schichten abrupt und das führt zu einem Erdbeben.“ Magnitude und Ort des Epizentrums wären so laut Vuik deutlich besser vorherzusagen als bisher. Nur der Zeitpunkt der Zuckung bliebe weiter ein Geheimnis des Erdmantel-Chaos‘.Trotzdem: Auch ohne konkretes Wann schaffen die verfügbaren Vorhersagemethoden potenziell Zeit. Für erdbebensicheres Bauen, das Training des Katastrophenschutzes und der Bevölkerung, die Entwicklung kurzfristigerer Warnsysteme. Und sie schaffen Zeit für den Rückbau von Atomkraftwerken – jene schwer beherrschbare Technologie, die auch ohne Super-Gau ein Jahrzehntausende währendes Strahlenproblem hinterlässt.Womit wir wieder bei politischen Veränderungen und deren recht limitierter Vorhersagbarkeit wären.