Wenn ein Automechaniker Ihnen sagt, dass das Knallen ihres 20 Jahre alten Wagens mit mehr als 99-prozentiger Sicherheit vom Auspuff rührt, werden Sie ihm richtigerweise danken und sagen, er möge einen neuen Auspuff einbauen. Was aber, wenn ein Physiker Ihnen sagt, er habe mit mehr als 99-prozentiger Sicherheit jenes Teilchen gefunden, das den konstituierenden Knall des fast 14 Milliarden Jahre alten Universums um eine fundamentale Erklärung bereichert? Müssen Sie dann jubeln und den Physiker zum Fund eines „Gottesteilchens“ beglückwünschen? Nein. Benutzen Sie zunächst einmal nicht den Begriff Gottesteilchen. Blicken Sie dann mitfühlend drein und sagen Sie: „Da liegt jetzt aber ein schöner Haufen Arbeit vor Euch“.
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Denn in etwa das ist die Nachricht: Die Physiker des Europäischen Kernforschungszentrums CERN, die am Dienstag in einem öffentlichen Seminar zusammenkamen, stehen vor einem arbeitsreichen Jahr 2012 – weil sie aufgrund aktueller Daten neue Hoffnung schöpfen, das letzte fehlende Elementarteilchen ihres Theoriegebäudes doch noch zu finden. Sein Name: Higgs. Sein Job: einer Auswahl anderer Elementarteilchen Masse zu verleihen, in dem es sich an deren Rockzipfel hängt. So verlangt es das sogenannte Standardmodell der Teilchenphysik, damit die Theorie von der Entstehung des Universums durch den Urknall nicht implodiert. Wenn man das Higgs-Teilchen tatsächlich findet, weiß man jedenfalls, dass man sich bisher nicht ganz vertan hat mit diesem Modell und dass sich der Bau des Large Hadron Colliders LHC, der teuersten Maschine der Menschheit, gelohnt hat. (Letzteres dürfte auch für die dort beschäftigten Physiker ein nicht ganz unbedeutender Punkt sein)Mit Higgs in die VerlängerungDass man dem Higgs näher gekommen sei, wie es jetzt heißt, haben Teilchenphysiker allerdings schon ein paar Mal gedacht. Erst vor wenigen Monaten berichtete das CERN über Hinweise auf das flüchtige Teilchen. Bis September war dem Higgs der mittlerweile abgeschaltete Teilchenbeschleuniger Tevatron am Fermilab nahe Chicago auf den Fersen, schon vor vier Jahren berichtete man dort über heiße Spuren. Der Vorgänger des LHC am CERN, der Large Electron–Positron Collider LEP, ging im Jahr 2000 einige Monate in die Verlängerung, nachdem er Hinweise auf das Higgs-Teilchen geliefert hatte. Was nicht für die jüngste frohe Botschaft spricht.Die jetzt vorgestellten Daten haben dennoch etwas exklusives: Das gesuchte Teilchen muss aufgrund seiner Masse nachgewiesen werden, und es kann nicht mehr beliebig schwer sein. Fast alle Bereiche des theoretisch möglichen Spektrums sind abgesucht, es war schon vor dem Seminar klar, dass man, wenn überhaupt, in einem sehr schmalen Massebereich zwischen 114 und 145 Gigaelektronenvolt fündig werden wird. (Das Elektronenvolt ist das Gramm der Elementarteilchen: Es beschreibt die Masse m in Form der Energie E – errechnet aus Einsteins Formel E=mc2, wobei c die Lichtgeschwindigkeit ist). Zwei Versuchsanordnungen namens Atlas und CMS, die an unterschiedlichen Stellen des 27 Kilometer langen Beschleunigers angebracht sind und die mit unterschiedlichen Instrumenten nach denselben Signalen fahnden, haben innerhalb dieses verbliebenen Fensters jetzt ein noch kleineres Fenster ausgemacht – und dabei beide auch an fast derselben Stelle etwas vorbeihuschen sehen.Sehen ist hier natürlich relativ. Wenn das kurzlebige Higgs in der Realität seiner Theorie folgt, hat es keine Ladung. Es wird von den Detektoren der beiden Versuchsanordnungen nur anhand seiner Zerfallsprodukte und mit einiger Rechnerei nachgewiesen werden – ein Ereignis, das man bisher lediglich auf theoretischer Grundlage simulieren konnte (siehe Bild) . Bemerkenswerterweise fanden jetzt sowohl Atlas als auch CMS um etwa 125 GeV herum einen Hicks im Datenmeer, der zwar schwach, aber doch interessant genug zu sein scheint, um den Forschern am Cern die Glückseligkeit aufs Gesicht zu zaubern. Man ist sich fast ganz sicher, nahe dran zu sein. Und verübeln kann man diese Bescherung den Forschern kaum: Auf dem Seminar am Dienstag wurde in keiner Sekunde behauptet, man habe das Higgsteilchen gefunden.Die Physik ist unbarmherzigAber die Physik erweist sich nun einmal als unbarmherzig: Je kleiner der Bereich wird, in dem das Teilchen aller Teilchen seine Hüllen fallen lassen könnte, desto größer wird auch die Wahrscheinlichkeit, das Higgs endgültig ausschließen zu können. Was für das Universum zunächst keine Konsequenzen hätte, wohl aber für die Möglichkeiten, das Universum zu erklären. Es gibt bereits Anwärter auf den Platz des Standardmodells. Außerdem ist da noch die Sache mit der Standardabweichung: 99-prozentige Sicherheit, wie sie das aktuelle Experiment liefert, ist in diesem Zweig der Forschung kein rühmlicher Schnitt. Es müssten schon 99,9999 Prozent sein, damit die verstaubten Champagnerflaschen aus dem Schrank geholt werden.Dass mit dem Higgs nun aber der liebe Gott auf den Plan träte, ist ein Missverständnis. Weder sagt es etwas über den ultimativen Ursprung des Universums aus, noch eint das Higgsteilchen alle Kräfte der Natur in einem Modell, noch ist es überhaupt sicher, dass es nur ein einziges Higgsteilchen geben kann. Deshalb war es auch kein Physiker, der dem Higgs den Namen „Gottesteilchen“ gab. Vielmehr hatte ein Verleger sich geweigert, ein Buch des Nobelpreisträgers Leon Lederman über das Higgs mit „The Goddamn Particle“ zu betiteln, was gewiss weit treffender gewesen wäre. Doch das „damn“ verschwand, sehr zum Missfallen auch von Peter Higgs, der das nach ihm benannte Teilchen in den Sechzigern postuliert hatte. Was die Medien nicht anficht: In Zeiten, in denen Nachrichten zunehmend den Regeln der Verkaufe folgen, müssen sie im Cocktailparty-Vergleich des Higgsfeldes jene Prominenten sein, die den Raum betreten und möglichst viele Gäste an sich heften. In der Realität nennt sich das dann „Hype“.