Vieles im Iran erinnert derzeit an die Situation von Februar 1979, als das Schah-Regime gestürzt wurde. Heute gerät das System des Gottesstaates ins Wanken
Der Aufruhr ist zumindest in Teheran nicht mehr zu stoppen. Auch heute gibt es wieder Kundgebungen der Opposition. Die Gegner der Diktatur haben keine Angst vor den Schlägertrupps der Basidji-Milizen, den paramilitärischen Verteidigern des Systems. Die werden vielmehr in die Flucht geschlagen. Die um ihre Stimme Betrogenen und Gedemütigten befreien sich von ihrer Lethargie. Sie gehen in Teheran zu Hunderttausenden auf die Straße, sie fühlen sich als geballte Kraft, die stark genug ist, um sich gegen die Beleidigungen eines populistischen Machthabers zu wehren.
Der kalte Putsch durch die offenbare Fälschung der Wahlergebnisse scheint gescheitert zu sein, vor einem heißen Putsch dürfte sich Revolutionsführer Ayatollah Chamenei fürchten. Die Al
en. Die Allianz zwischen dem geistlichen Staatsoberhaupt und dem missionarisch besessenen Präsidenten Ahmadinedschad hat einen tiefen Riss bekommen. Heute steht Iran in derselben Situation wie vor 30 Jahren im Februar 1979. Damals ging es darum, die Monarchie zu beenden und das System zu stürzen, heute geht es vielmehr darum, das System des Gottesstaates durch eine friedliche Revolution zu reformieren und eine echte Demokratisierung zu ermöglichen. Mir Hossein Mussawi wagte es als erster in der Geschichte der Islamischen Republik, dem Votum des geistlichen Staatsoberhaupts zu widersprechen. Er ignorierte schlicht dessen Wunsch, das Wahlergebnis zu akzeptieren und sich hinter den gewählten Präsidenten zu stellen.Die sonst übliche Masche „Dem Feind sollte durch innere Einheit eine Absage erteilt werden“, hat diesmal nicht gezogen. Offenkundig hatte Ayatollah Chamenei mit dem Mut und der Risikobereitschaft von Mussawi nicht gerechnet. Durch seine Entschlossenheit, den Wahlbetrug nicht zu akzeptieren und für das Recht des Volkswillens zu kämpfen, ermutigte er seine Wähler. Auch die widersetzen sich ohne Angst vor der Staatsgewalt entschlossen dem Demonstrationsverbot und ermutigten so ihrerseits Mussawi, nicht nachzugeben. Diese sich wechselseitig verstärkende soziale Energie mündete nun in eine Art revolutionäre Situation.Revolutionsführer Chamenei kann es im Augenblick nur um den Systemerhalt gehen, er steht daher vor der Alternative, Ahmadinedschad zu folgen und damit seine eigene Macht und die Legitimation des gesamten Systems aufs Spiel zu setzen, oder aber Ahmadinedschad im Interesse des Systemerhalts zu opfern. Denn im Unterschied zu dem verblendeten Präsidenten muss das geistliche Staatsoberhaupt damit rechnen, dass ein Teil der Streitkräfte einen mögliche heißen Putsch gegen die Bevölkerung nicht mitträgt und die Rechnung Ahmadinedschads abermals nicht aufgeht. Ein erneutes Scheitern nach dem Wahlbetrug, nun auch nach einer Zustimmung zum Gewalteinsatz, würde das Ende der Islamischen Republik einläuten.Deshalb werden wir mit der überwältigenden Mehrheit der Menschen im Iran – hoffentlich – in den nächsten Stunden und Tagen Zeugen einer revolutionären Reform werden, die im Endeffekt dem System des Gottesstaates durch eine friedliche Revolution die diktatorischen Zähne zieht und den Weg für einen neuen und besseren Abschnitt in der Geschichte Irans freilegt. Ayatollah Chamenei bleibt einzig und allein die Wahl, dem Wächterrat nahezulegen, nicht erst in zehn Tagen, sondern sofort Neuwahlen zu beschließen. Es dürfte den Herren in diesem Gremium auch nicht schwer fallen, sich theologische und politische Rechtfertigungen einfallen zu lassen, um Chamenei zu helfen, sein Gesicht zu wahren.Was auch immer geschieht, die Islamische Republik Iran wird nie wieder so sein, wie sie bis vor dem Wahlbetrug war. Das Ende des Gottesstaates würde allerdings noch lange nicht ein Ende der Islamischen Republik implizieren. Denn die Reformbewegung in ihren nicht zu vernachlässigenden Bestandteilen (Mussawi selbst, Chatami, Karroubi und zahlreiche andere Führungspersönlichkeiten mit sozialer Basis) identifiziert sich weiterhin mit einer Republik Iran, die ein islamisches Gesicht hat.Was die Boykotteure übersahenDie Islamische Republik spaltete von Anfang an die Gesellschaft in zwei Teile, in den systemtragenden und den systemkritischen Teil. Weil sich der systemkritische Teil einmischte, gewann 1997 und 2001 der Reformer Mohammad Chatami mit überwältigender Mehrheit die Wahl zum Staatspräsidenten. Doch Chatami fehlte es an Mut, die moralische Kraft des Volkswillens für echte politische und soziale Reformen zu nutzen, so dass sich der systemkritische Teil der Gesellschaft resigniert zurückzog. Dadurch konnte 2005 der Bewerber Ahmadinedschad die Wahlen überhaupt erst gewinnen.Im Juni 2009 sahen die Systemkritiker ziemlich am Ende des Wahlkampfes erneut ihre Chance und beschlossen, den Fehler von 2005 nicht zu wiederholen. Alle Oppositionsgruppen, die mit dem Argument, „das System des Gottesstaates nicht legitimieren zu wollen“, zum Wahlboykott aufriefen, wurden durch den spontan artikulierten Volkswillen eines Besseren belehrt. Die Boykotteure übersahen die Zweigeteiltheit der iranischen Gesellschaft und damit die Möglichkeit, dass der Gottesstaat gerade durch Wahlen auch delegitimiert werden kann. Die Möglichkeit, durch revolutionäre Reformen den Gottesstaat selbst abzuschaffen, ist in der Verfassung eben dieses Staates selbst angelegt. Ähnliche Verhältnisse, wie sie einst für den südafrikanischen Apartheid-Staat galten, der ein jähes Ende gefunden hat.