Es gehört nicht zu den Aufgaben eines CDU-Generalsekretärs, die Welt mit klarem Blick zu sehen. Hermann Gröhe neigt von Berufs wegen zur Übertreibung. Nach der Ankündigung von Oskar Lafontaine, sich aus der Bundespolitik zurückzuziehen, will Gröhe „eine rasante Annäherung“ zwischen Linken und SPD erkennen.
Einmal davon abgesehen, dass rasante Annäherungen im Crash mit Totalschaden enden können – was ist dran an der rot-rot-grünen Debatte, die mit neuer Geschwindigkeit rotiert? Die Entscheidung Lafontaines wird offenbar als wichtiger Baustein einer übergreifenden Veränderung interpretiert: Die Grünen sind auf Partnersuche, die SPD müht sich, einen neuen Existenzsinn zu finden. Und auch bei der Linken
der Linken ist nicht nur das Personaltableau in Bewegung.Wenn nun Abgeordnete die Debatte über eine Mehrheit auf Bundesebene im Jahr 2013 anstoßen und Politiker, Wissenschaftler sowie Bewegungsaktivisten eine Denkfabrik gründen, dann hat das mit Neu-Ordnungen zu tun. Eine Unterzeichnerin des Aufrufs „Das Leben ist bunter“ sagt: „Die Kämpfe der Alten interessieren uns nicht.“ Es handelt sich in diesem Fall offenbar um den Übergang von einer Generation zur nächsten. Beim Institut Solidarische Moderne geht es um die Suche von Gemeinsamkeiten quer zu einem parteipolitischen Koordinatensystems, das als einschränkend empfunden wird.Eine übliche Reaktion auf Wandel ist Beharrung. Das erklärt auch, warum die Gesprächskreise von Politikern aus SPD, Grünen und der Linken immer noch für aufgeregte Schlagzeilen oder für Gesten der Distanzierung sorgen – meistens sogar beides gleichzeitig. Man kennt das aus der Geschichte des Verhältnisses zwischen den rot-rot-grünen Parteien in den vergangenen 20 Jahren.Variation eines alten ThemasKooperation mit der PDS widersprach lange Zeit dem inoffiziellen Pakt der „alten Bundesrepublik“, das einzige parteipolitische Produkt des hinzugekommenen Ostens außen vor zu lassen. Später, in der ersten Hälfte der neunziger Jahre, wurde im Umfeld von parteinahen Zeitungen unter der Überschrift „Crossover“ begonnen, die Sprachlosigkeit gegenüber der PDS zu überwinden. Das war Teil einer Normalisierung, die – Ironie der Geschichte – auf Seiten der SPD nicht zuletzt durch Lafontaine an Dynamik gewann. In den neuen Ländern wurden Regierungsbündnisse möglich, bundesweit wurde die Annäherung vom Optimismus eines möglichen „Politikwechsels“ getragen – 1998 fand dann aber bloß ein Regierungswechsel statt.Dass die Stimmen der PDS für diesen nicht nötig waren, wurde ihr spätes Glück. Eine neue Linke entstand. Niemals mit den Populisten um Lafontaine!, heißt es heute. Das alte Thema musste nur variiert werden – schon die „Dresdner Erklärung“, mit der die SPD 1994 eine Kooperation mit der PDS ausgeschlossen hatte, richtete sich gegen „folgenlose populistische Versprechen“.Wenn jetzt wieder Politiker von SPD, Grünen und Linkspartei über Gemeinsamkeiten und Unterschiede reden, dabei mal parlamentarische Mehrheiten mal anderes im Blick haben, dann rütteln sie also an einer immer noch existierenden, alten Ordnung. Dagegen treten Leute als Bewahrer auf, die, als sie noch nicht ganz so wichtig waren, zu den Veränderern gezählt werden wollten. Andrea Nahles etwa, die einst gegen die Tabuisierung der Linken sprach, und heute im Koalitions-Ausschluss-Wettbewerb sogar Frank-Walter Steinmeier übertrumpft.Vieles davon ist Taktik: Noch am Tag, als Lafontaine seinen Rückzug erklärte, bliesen SPD und Grüne kräftig in die bei den Linken seit Wochen glimmende Glut: Grünen-Chefin Claudia Roth sagte, die Partei müsse sich entscheiden, „ob sie weiter den einfachen Weg in die polternde Fundamentalopposition gehen will oder die Chance ergreift, verantwortlich Politik zu gestalten“. Andere äußerten sich ähnlich.Teil einer alten OrdnungDer Wahlkalender macht die Rhetorik verständlich: Schon im Mai in Nordrhein-Westfalen und auf mittlere Sicht wohl auch auf Bundesebene wird es für rot-grüne Mehrheiten nicht mehr oft reichen. Für eine Erweiterung der machtpolitischen Optionen bietet sich die Linke an – aber nur zu bestimmten Konditionen. Die werden mit Blick auf einen erhofften Nebeneffekt formuliert: Rückt die Partei in der Nach-Lafontaine-Ära von bestimmten Forderungen ab, etwa in der Außenpolitik, würde vielleicht auch ihre wahlpolitische Erfolgssträhne abreißen.In anderer Richtung gibt es etwas ähnliches. Etwa wenn der designierte Linken-Chef Klaus Ernst erklärt, er wolle „dazu beitragen, dass die SPD weiter auf den Pfad der Tugend kommt. Wenn das eintritt, sind wir bereit für Koalitionen.“ Heißt das denn, dass alle Beteiligten erst einander weitgehend ähnlich werden müssen, bevor an Bündnisse zu denken ist?Und überhaupt. Ist nicht die eingefahrene Diskussion über rot-rot-grüne Varianten auch Teil einer überkommenen Ordnung, in der es sich nur in Regierungsmehrheiten denken lässt? Ist die Funktionsweise des Parteiensystems in der „Mediendemokratie“ nicht selbst das größte Hindernis politischer Veränderung.Auswege und UmleitungenInitiativen wie dem Institut Solidarische Moderne geht es um Auswege, Umleitungen. Die Sozialdemokratin Andrea Ypsilanti hat von einer „neuen Bewegung“ gesprochen. Dass die Beteiligten Mitglieder von Parteien sind, tritt in den Hintergrund. Miteinander wird sich von einem Koordinatensystem abgewandt, in dem Ansichten und Parteigrenzen längst nicht mehr kongruent sind. Es gibt, um ein Beispiel zu nennen, bei SPD, Grünen und Linken jeweils Minderheiten, die sich für ein Grundeinkommen ausspricht. Einige von denen gehören nun zu den Gründern einer Initiative, in der sie bei diesem Thema in der Mehrheit sind. Das wird auch auf die Debatten in den Herkunftsparteien zurückwirken, die eine Meinungsvielfalt repräsentieren, die den Gedanken an die Nützlichkeit eines innerparteilichen Crossover aufkommen lässt.Haben die jüngsten rot-rot-grünen Netzwerke eine Zukunft? Die Skepsis derer, die sich an die Initiativen für einen Politikwechsel erinnern, die in den neunziger Jahren alternative Mehrheiten mobilisieren wollten, aber nur die Schröder-Fischer-Regierung bekamen, hat gute Argumente.Vielleicht wird der Gewinn der neuesten Welle von Crossover aber weniger in einem Ergebnis zu suchen sein, wie man es sich bisher vorstellte, einer Regierungsbildung also. Sondern in der Veränderung des Politischen selbst. Man schlage, hat Sven Giegold von den Grünen bei der Vorstellung des Instituts Solidarische Moderne gesagt, ein „neues Kapitel der Form politischer Zusammenarbeit“ auf.