Die Wehrpflicht ist von gestern“, tönte Rainer Brüderle schon 1997, und ganz in diesem Sinne beschloss seine Partei zwei Jahre später den Ausstieg aus der allgemeinen Wehrpflicht in diesem Lande. Zwar ist die notorische Umfallerpartei FDP, was diesen Punkt angeht, in den Koalitionsverhandlungen prompt umgefallen, aber immerhin gelang es ihr noch, den christdemokratischen Regierungspartnern eine Verkürzung der Wehr- und Zivildienstdauer auf zukünftig nur noch sechs Monate abzuhandeln. Das Konzept hierfür will der Verteidigungsminister in dieser Woche fertigstellen und dann den Bundestagsfraktionen vorlegen. Schon vorab sickerte durch, dass Guttenberg statt wie vereinbart von 2011 an die Wehrpflichtigen schon ab Oktober nur noch sechs Monate Dienst leisten
Politik : Freiwillige vor
Verteidiger der Wehrpflicht fürchten um den „Staatsbürger in Uniform“. Dabei wäre gerade eine Freiwilligenarmee eine Chance für ihn
Von
Jürgen Rose
ten lassen will.Zugleich mehren sich die Stimmen derer, die den Sinn eines derartig verkürzten Dienstes arg bezweifeln und die Koalitionsvereinbarung als Sargnagel der allgemeinen Wehrpflicht bezeichnen. Um den staatlichen Zwangsdienst dennoch über die Zeit zu retten, ist der unheiligen Allianz zur Bewahrung des wehrstrukturellen Status quo indes kein Argument zu schade. Zu den beliebtesten zählt hierbei die gebetsmühlenhaft verbreitete Legende, die Führungsphilosophie der „Inneren Führung“ mit ihrem Leitbild vom „Staatsbürger in Uniform“ sei untrennbar an die Existenz der Wehrpflicht geknüpft. Mit dem Wegfall derselben geriete sozusagen das geistig-moralische Fundament der Bundeswehr ins Wanken.Hierzu ist zunächst anzumerken, dass die auf dem Konzept der Inneren Führung basierende Militärreform eine Grundvoraussetzung für die Neugründung der deutschen Streitkräfte war und nicht umgekehrt die Innere Führung Ausfluss des Wehrpflichtsystems. Wie die Entstehungsgeschichte der Bundeswehr zeigt, befasste sich das Parlament zunächst mit den Fragen der Wehrhoheit sowie der Wehrverfassung und inneren Ordnung der neuen Streitkräfte, während die Entscheidung über die Wehrform erst ganz zum Schluss, im Dezember 1956, fiel. Und von November 1955, als die ersten Bundeswehrsoldaten ihre Ernennungsurkunden erhielten, bis April 1957, als die ersten Wehrpflichtigen in die Kasernen einrückten, dienten ausschließlich Freiwillige in der neuen Armee. Nicht „Ohne Wehrpflicht keine Innere Führung“ muss es demnach heißen, sondern „Ohne Innere Führung keine Bundeswehr“.Demokratie in den KasernenWas aber verbirgt sich eigentlich hinter diesem technischen Begriff? Innere Führung definiert die Konstitution einer „StaatsbürgerInnen-Armee“ im Rahmen des demokratischen Rechtsstaates, der zudem als völkerrechtliches Subjekt in eine internationale (Friedens-)Ordnung eingebunden ist. Somit bildet Innere Führung gleichsam das Grundgesetz der Bundeswehr.Worum es ihrem Urheber, dem General, Friedensforscher und Militärphilosophen Wolf Graf von Baudissin, im Kern ging, hat er selbst als die „Entmilitarisierung des soldatischen Selbstverständnisses“ beschrieben – positiv gewendet bedeutet das: die Zivilisierung des Militärs. Diese ist dann erreicht, wenn Streitkräfte menschenrechts-, demokratie- und friedenskompatibel sind, also, wie Baudissin einst postulierte, die „Demokratie nicht am Kasernentor aufhört“.Was zunächst das Militär selbst betrifft, garantiert Innere Führung dem zivilen Bürger im militärischen Dienst der Bundeswehr seine in der Verfassung verbrieften Menschen- und Bürgerrechte, die er ja im Ernstfall unter Einsatz seines Lebens verteidigen soll. Wie das Bundesverwaltungsgericht 2005 geurteilt hat, ist diese Garantie keineswegs an den Status des Soldaten geknüpft, denn: „Das Grundgesetz normiert ... eine Bindung der Streitkräfte an die Grundrechte, nicht jedoch eine Bindung der Grundrechte an die Entscheidungen und Bedarfslagen der Streitkräfte.“ Dies gilt nicht nur zu Friedenszeiten, sondern selbst „im Verteidigungsfall ist die Bindung der Streitkräfte an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG) sowie an ‚Gesetz und Recht’ (Art. 20 Abs. 3 GG) gerade nicht aufgehoben.“ Dieses wegweisende Urteil hat nicht etwa ein Grundwehrdienstleistender, sondern ein Berufssoldat im Rang eines Stabsoffiziers erstritten.Zum zweiten definiert Innere Führung ein grundlegend neues Verhältnis von Militär und Zivilgesellschaft, indem sie nämlich der (Selbst-)Isolation der Streitkräfte entgegenwirken und die Integration der Streitkräfte in den demokratischen Staat und eine offene, pluralistische Gesellschaft fördern soll. Um aber die Aufrechterhaltung des im Grunde demokratiewidrigen staatlichen Zwangsdienstsystems – der Wehrpflicht – zu legitimieren, wird immer wieder das „Reichswehr-Syndrom“ vergangener Zeiten beschworen. Friedrich Merz brachte diese Attitüde als Unions-Fraktionsvorsitzender auf den Punkt, als er ausführte: „Gerade weil wir nicht auf eine ungebrochene Militärtradition zurückgreifen können, brauchen wir nach meiner festen Überzeugung ... auf Dauer die Verankerung der Bundeswehr in der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland durch die Aufrechterhaltung der Wehrpflicht.“Subtile DiffamierungGenau diese These aber, dass sich nämlich nur durch die allgemeine Wehrpflicht die Mutation des Militärs zum Staat im Staate verhindern ließe, birgt eine subtile Diffamierung jener Mehrheit von Zeit- und Berufssoldaten innerhalb der Bundeswehr, die sich als durchaus demokratieverträgliche Staatsbürger in Uniform verstehen. Im Gegensatz zur Reichswehr der Weimarer Republik, in der ganz systematisch ein „Gesinnungssoldatentum“ etabliert wurde, ist die Funktionselite der Bundeswehr in einer rechts- und sozialstaatlich verfassten, freiheitlichen Bundesrepublik aufgewachsen, erzogen und sozialisiert worden. Der Primat der Politik ist unangefochten, die Bundeswehr bliebe auch als Freiwilligenarmee eine Parlamentsarmee. Dafür sorgen die gesellschaftlichen und staatlichen Rahmenbedingungen: die Wehrgesetze, die parlamentarische Kontrolle der Streitkräfte, das Amt des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestags, der Deutsche Bundeswehrverband als Interessenvertretung, kritische Medien und eine kritische Öffentlichkeit sowie nicht zuletzt eine sorgfältige Personalauswahl der Zeit- und Berufssoldaten.Drittens geht Innere Führung von der fundamentalen Erkenntnis aus, dass im Nuklearzeitalter nicht mehr der Krieg, sondern der Frieden der Ernstfall ist. Das Denken in Kategorien der Kriegführungsfähigkeit ist veraltet, entscheidend kommt es auf die Friedenstauglichkeit des Militärs an. Dies mag überholt erscheinen angesichts der gegenwärtig aus wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen geführten Interventions- und Angriffskriege unter Rädelsführerschaft der USA in Tatgemeinschaft mit jeweils ad hoc gebildeten „Koalitionen der Willigen“. Gerade die Wehrpflichtigen indes, die in den Eroberungs-, Versklavungs- und Vernichtungskriegen der jüngeren Vergangenheit als Kanonenfutter dienten, hatten praktisch keine Chance sich ihrer Zwangsrekrutierung zu entziehen.Dagegen erweist sich heutzutage, dass jene Bürger, die nicht bereit sind, für eine Sache, von deren Legitimität sie nicht überzeugt sind, freiwillig zu kämpfen einfach mit den Füßen abstimmen, indem sie der Armee fernbleiben. Denn irgendwann merkt auch ein unterbelichteter Bewerber fürs nationale Ehrenkleid, wenn ihn skrupellose Politiker in die Schlacht lügen wollen und bleibt dem Kriegstheater fern – sofern er eben nicht durch die Wehrpflicht in die Schlacht gezwungen wird. So gesehen erweist sich ein Militärsystem, das vom Prinzip der freiwilligen Dienstleistung abhängt, langfristig als strukturell friedenstauglicher als die auf zwangsrekrutierte Statisten in Uniform gegründete Wehrpflichtarmee.Drei Thesen, eine neue ArmeeDen wohl schlagkräftigsten Grund gegen den Mythos, primär die Wehrpflichtigen garantierten die demokratische Zuverlässigkeit, gesellschaftliche Integration und Friedensbezogenheit einer Armee, lieferte aber der SPD-Bundestagsabgeordnete Fritz Erler während der Wehrdebatten im Bonner Parlament in den 1950er Jahren. Er bemerkte: „Der Geist der Gesamtarmee ... hängt nicht von der Gesinnung der Wehrpflichtigen, sondern von der Gesinnung des Kerns und der Vorgesetzten ab, ... denn der ist in beiden Fällen identisch.“Genau deshalb ist die Innere Führung eben gerade nicht an die Frage der Wehrpflicht gebunden, sondern es geht ihr um die Prägung des Selbstverständnisses der Streitkräfte schlechthin. Angesichts der in den vergangenen Jahrzehnten zutage getretenen Versäumnisse und Defizite müsste der Wandel der Bundeswehr von einer Wehrpflichtarmee zu einer Freiwilligenstreitkraft zugleich als Aufforderung und Chance für eine Wiederbelebung der Inneren Führung begriffen werden, die sich an folgenden drei Thesen zu orientieren hätte:1. Innere Führung ist notwendiger denn je, um sicherzustellen, dass die sich aus der Verfassung ergebenden strikten Bindungen an Recht und Gesetz, an die allgemeinen Regeln des Völkerrechts und an die Grundrechte nicht aufgrund von seitens der Streitkräfte oder ihrer jeweiligen politischen Führung definierten Bedarfs-, Effektivitäts- oder Funktionsanforderungen zur Seite geschoben und durch Abwägung in ihrem Geltungsgehalt und -anspruch gelockert werden. Kurz: Innere Führung hat den Vorrang der Grundrechte vor der Funktionstüchtigkeit des Militärs zu garantieren.2. Das Leitbild vom demokratischen Staatsbürger in Uniform ist wichtiger denn je. Es muss aufrecht erhalten werden, um der Etablierung eines rückwärtsgewandten Kämpferkultes und der Tendenz zu einem neuartigen Söldnertum entgegenzuwirken. Innere Führung wird gebraucht, um die Bundeswehr weiterzuentwickeln – von einer Armee in der Demokratie zu einer demokratischen Armee.3. Innere Führung gewährleistet die Umsetzung des Friedensauftrags des Grundgesetzes und beschränkt die Bundeswehr einzig und allein auf den ihr vorgegebenen Verteidigungsauftrag. Damit ist Innere Führung unverzichtbar, um die heutzutage weitgehend verlorene friedensethische Legitimität der Bundeswehr wiederherzustellen.