Es ist der Dienstag nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen. Das Jahr: 2005. Am Mittag flattert den Redaktionen eine Vorabmeldung der Bild-Zeitung ins Haus: „Oskar Lafontaine ist bereit, für ein Linksbündnis aus WASG und PDS anzutreten!“ Der Saarländer kehrt auf die Berliner Bühne zurück. Es ist die Geburtsstunde einer neuen Linken.
Lafontaine galt vielen damals als Retter. Die parlamentarische Linke lag im Westen am Boden, im Osten hatte sie schon bessere Tage gesehen. Die PDS saß mit zwei einsamen Abgeordneten im Bundestag. Die Wahlalternative, mit der Gewerkschafter und enttäuschte Sozialdemokraten die Lücke in der parteipolitischen Repräsentation schließen wollten, hatte an Rhein und Ruhr nur 2,2 Prozent erreicht. Dann k
ht. Dann kam ausgerechnet Gerhard Schröder und ließ aus enttäuschten Erwartungen neue Hoffnungen entstehen. Sein Versuch, sich in Neuwahlen zu retten, schaffte eine Gelegenheit. Und Lafontaine, der Instinktpolitiker und Stratege, nutzte sie.Als er es tat, war klar, dass hier nicht einfach nur ein prominenter Sozialdemokrat die Seiten wechselte. Ein Oskar Lafontaine kommt nicht einfach nur an Bord. Ein Oskar Lafontaine nimmt sich das Steuer. Man muss diese Persönlichkeit begreifen, um zu verstehen, warum es in der Linken immer beides gegeben hat: den Kult um den Saarländer und die Kritik an seinem Führungsstil. Ohne ihn hätte die Linke bei der Bundestagswahl von 2005 nicht einen solchen Erfolg errungen – mit 8,7 Prozent landete man sogar noch vor den Grünen. Mit Lafontaine aber geriet auch ein gewachsenes Machtgefüge durcheinander – in der PDS.Lafontaine erschien anderen deshalb weniger als Retter denn als Bedrohung. Einem Spitzenpolitiker der Linkspartei schwante damals schon, dass die Sache einen Haken hat. Seine Bedenken illustrierte er in folgendem Bild: Es sei zwar praktisch so, dass der große Fisch PDS mit der Wahlalternative einen kleineren schlucken würde. Vor lauter Appetit habe der Beutemacher aber erst spät bemerkt, dass da längst ein noch größerer Hecht lauerte, um sich nun seinerseits den dick gewordenen Happen einzuverleiben. Die Partei, die Ost-Sozialisten und West-Gewerkschafter durch Fusion schmiedeten, sie wurde Lafontaines Linke.Urheber einer ganzen Partei„Das Fell wird erst verteilt, wenn der Bär erlegt ist, das heißt, wenn die neue Partei gegründet ist“, hat der Saarländer einmal auf die Frage geantwortet, ob er für den Vorsitz kandidieren werde. An seiner Wahl zweifelte da längst niemand mehr. Aber Lafontaine meinte mehr als nur eine Funktion, die ihn, den Gremienmuffel, kaum lockte. Es war die Aussicht, eine Partei zu gestalten, die manches von der Wahlalternative und einiges von der PDS in sich tragen würde. Und viel von Lafontaine.Man kann darin das Bedürfnis nach Wiedergutmachung sehen. 1999 hatten Schröder und Bild den Saarländer zum Rückzug provoziert. Es war Lafontaines größte Niederlage, und die sollte nun rückgängig gemacht werden. „Heute vertritt die Linke das Programm der SPD, das 1998 bei den Wählerinnen und Wählern noch große Zustimmung fand – in der Außen-, Wirtschafts- und Sozialpolitik“, diesen Satz hat er oft gesagt. Und wo der Lauf der Zeit es nötig machte, Neues zu formulieren, bestand Lafontaine auf Urheberschaft: „Was ich vorgetragen habe, ist noch nicht ein ausformuliertes Programm“, erklärte er einmal. „Es sollte aber deutlich machen, aufgrund welcher Prinzipien wir versuchen wollen, die Politik der nächsten Jahre zu entwickeln.“Dabei war nie die „große Erzählung“ Lafontaines Anliegen, der allumfassende Rahmen für den vielstimmigen Pluralismus. Die Programmdebatte hat er lange verzögert und als sie nicht mehr aufzuhalten war, machte er klar, was die Partei viel eher braucht: Sätze, mit denen sich die Linke unterscheidet, ein erfahrbares Profil jenseits verwechselbarer Programmlyrik: Man müsse die Linke daran erkennen, was sie nicht tun wird, so Lafontaine.Die Genossen sprechen heute gern von einem Markenkern: Raus aus Afghanistan, Hartz IV abwählen, ein Ja zum Mindestlohn und ein Nein zur Rente ab 67 – das sind Forderungen, für die es in Umfragen weit über die linke Anhängerschaft hinaus Mehrheiten gibt. Und es sind Ziele, mit denen man die Sozialdemokraten vor sich hertreiben kann. Lafontaine schafft es, die eine Hand gegenüber den Sozialdemokraten auszustrecken und mit der anderen auf deren „neoliberale Politik“ zu zeigen. Gerade aus diesem Spannungsverhältnis soll seine Partei ihre Erfolge beziehen. Sie tut es bis heute.Nun geht Lafontaine und was hinterlässt er? „Wir sind mit der Linken weiter, als ich gedacht habe, als es vor fünf Jahren losging“, sagt der Saarländer. Da ist der offensichtliche Erfolg: Die Linke hat das Parteiensystem verändert und weil sie längst etabliert ist, zürnen die Etablierten. Beim zweiten Einzug in den Bundestag schaffte die Linke 11,9 Prozent. Sie ist mit Fraktionen in dreizehn Landtagen vertreten, sieben davon im Westen.Da ist aber auch die offensichtliche Gefahr: „Ohne Lafontaine hätte es die Partei nicht gegeben, aber seine Dominanz hat auch eine Kehrseite“, hat André Brie vor einem Jahr geschrieben. „Seine Stärken werden dann zur Schwäche der Linkspartei, wenn sie sich ganz auf diese Führung verlässt.“ Der Ex-Europaabgeordnete musste seinerzeit viel Kritik einstecken, was auch am Titel seines – ausgerechnet – im Spiegel veröffentlichten Zwischenrufs lag: „Der Lafontainismus“. Doch Bries Formel wurde dann doch noch wahr: in jenem Moment, als der Saarländer wegen einer Erkrankung die Kraft einbüßte, weiter an der Spitze der Partei zu stehen. Er galt nun nicht mehr nur als Erfolgsgarant, sondern wurde in einem Moment für „unverzichtbar“ erklärt, in dem sich abzeichnete, dass die Partei auf ihn wird verzichten müssen.Der „Lafontainismus“ trägt Kürzel wie „G.04“ und findet sich im Antragsheft zum Rostocker Parteitag am Wochenende. „Allen Spekulationen zum Trotz“ werde die Partei auch nach dem Rückzug ihres Vorsitzenden „für linke Politik streiten. Sie bekräftigt die Kerngedanken Oskar Lafontaines“, heißt es da. Die einen bemühen ein politisches Vermächtnis als Bollwerk gegen die Reformer. Die anderen wollen Erfolge konservieren, deren Wiederholung unsicher ist, wenn Lafontaine nicht mehr in der ersten Reihe steht. Wie lange das Fell des Bären, von dem der 66-Jährige einst sprach, seine Nachfolger wird wärmen können, muss sich zeigen. Nicht ausgeschlossen, dass es beim Gerangel zerreißt.Es ist der Tag der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen. Das Jahr: 2010. Lafontaine feiert im heimischen Wallerfangen den Geburtstag seiner Frau Christa Müller. Man sei bereit, signalisiert er von Ferne, „einen Regierungswechsel mit zu ermöglichen, wenn damit der Sozialabbau über den Bundesrat gestoppt werden kann.“ Sein Wort zählt weiterhin. Aber Oskar Lafontaine ist zurück im Saarland. Die Gründungsgeschichte der Linken endet hier.