Ein riesiger Teil der erzeugten Lebensmittel landet im Abfall, bevor er den Verbraucher erreicht. Dabei können alle etwas tun – vor allem Handelsketten und Politiker
Es ist ein Skandal, der sich täglich ereignet: Die Hälfte der Lebensmittel, die weltweit erzeugt werden, landet auf dem Müll. Eine erschreckende Zahl, die zeigt, wie sehr die Wertschätzung von Lebensmitteln gesunken ist. Offenbar ist die Erfahrung der Lebensmittelknappheit nach dem Krieg vergessen. Vorbei die Ermahnungen unserer Väter und Großmütter, keine Reste auf dem Teller liegen zu lassen. Lebensmittel sind heute Massenware, die Discounter unterbieten sich im Preis. Im Supermarkt können wir uns zwischen mehr als 100 Joghurtsorten entscheiden, eine Auswahl, die nur zu oft im Kühlschrank verdirbt.
Heute geben die Deutschen nur noch wenig mehr als zehn Prozent ihres Einkommens für Lebensmittel aus. In den sechziger und siebziger Jahren des
Jahren des vergangenen Jahrhunderts waren es noch bis zu 40 Prozent. In der Hektik des Alltags kaufen viele nur noch einmal in der Woche ein: Am Samstag wird der Kühlschrank vollgestopft, aber in den nächsten Tagen kommt man erst spät nach Hause oder entscheidet sich spontan, doch einmal essen zu gehen. Und schon verkommt ein Teil der Waren.Es gibt für Deutschland keine Untersuchung über den Anteil an Lebensmittelabfällen im häuslichen Müll. Aber Zahlen aus dem Ausland geben eine Größenordnung an, die auch für Deutschland gelten dürfte: Felicitas Schneider vom Institut für Abfallwirtschaft in Wien fand heraus, dass pro Haushalt und Jahr im Schnitt Nahrungsmittel im Wert von 400 Euro weggeworfen werden. Ein Großteil davon, bevor sie überhaupt Zeit hatten, schlecht zu werden.Die Verschwendung von Essen ist vor allem eine Verschwendung von natürlichen Ressourcen. Lebensmittel werden mit einem enormen Energieaufwand erzeugt. Das Stockholm Water Institute (SWI) errechnete, dass ein Viertel des gesamten Wasserverbrauchs der Erde für die Produktion derjenigen Lebensmittel vergeudet wird, die schließlich vernichtet werden.Katastrophal sind auch die Folgen für das Weltklima, denn ein Drittel der Klimagase werden von der Landwirtschaft produziert. Die Forscher des SWI gehen davon aus, dass weltweit etwa die Hälfte der landwirtschaftlichen Erzeugnisse auf dem Müll landet. Konkret heißt das, dass zwischen 15 und 20 Prozent der Klimagase bei der Produktion unseres Lebensmittel-Mülls entstehen. Das ist mehr als der gesamte Ausstoß des weltweiten Transportsektors. Diese Größenordnung wurde bisher unterschätzt.Sicher kann man die Abfälle aus der Nahrungsmittelproduktion nicht auf Null herunterfahren, aber eine Halbierung des Lebensmittel-Mülls ist im realistischen Bereich. Ohne große Einbußen beim Lebensstandard könnten damit etwa ebenso viele Klimagase eingespart werden, wie wenn jedes zweite Auto stillgelegt würde.Wir sind es gewohnt, im Supermarkt zu jeder Tages- und Jahreszeit alles zu finden: Erdbeeren im Dezember und frisches Brot bis in die Nacht. Das sorgfältig arrangierte Überangebot verführt uns, mehr zu kaufen, als wir letztendlich verarbeiten und essen können. Vieles wandert daher vom Kühlschrank direkt in den Mülleimer, ohne dass es überhaupt auf den Tisch gekommen ist. Weil es schnell gehen muss, greifen wir gern zu vorgefertigtem Convenience Food. Das, was von den vorportionierten Mengen übrigbleibt, wird entsorgt. Denn viele haben verlernt, wie wir aus den Resten einer Mahlzeit ein neues Essen zaubern können.Ein fauliges Blatt und weWer sich auf die Suche nach den Ursachen für die Lebensmittel-Verschwendung macht, sollte das Problem aber nicht vorschnell darauf reduzieren, was der Einzelne tun kann. Wenn sich etwas ändern soll, muss auch das Gebaren der Handelsketten und der Politik in den Blick kommen.Schließlich beginnt die Verschwendung bereits früh in der Versorgungskette: Die meisten weggeworfenen Lebensmittel landen auf dem Müll, bevor sie den Verbraucher erreichen. Eigentlich müsste der Handel schon aus finanziellen Gründen daran interessiert sein, diese Verschwendung zu begrenzen. Doch um den Käufern die immer gleichen, perfekt aussehenden Produkte anbieten zu können, wird besonders bei frischer Ware kräftig aussortiert.Sobald ein Blatt faulig ist, wird der ganze Salat weggeworfen. Wenn nur ein einziger Pfirsich schimmelt, wird der Rest der Packung gleich mit entsorgt. Die Arbeitszeit der Angestellten darauf zu verwenden, einzelne Obst- und Gemüsestücke auszusortieren, ist für den Händler zu teuer. Milch- und Käseprodukte werden zwei Tage vor Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums aus den Regalen entfernt und weggeworfen. Das meiste davon wäre noch gut genießbar, auch über das Datum hinaus. Eine einfache Prüfung – schauen, riechen, schmecken – würde reichen, doch viele trauen sich das nicht mehr zu. Was fast kein Verbraucher weiß: Das Datum wird von den Herstellern selbst aufgedruckt, nicht etwa von einer Behörde. Und unter dem Vorwand des Verbraucherschutzes setzen die Produzenten die „Haltbarkeitsfristen“ immer kürzer an.Doch um Haltbarkeit im Wortsinn geht es nur bei Fleisch-, Fisch- und Eierprodukten, da ist das Verbrauchsdatum aus hygienischen Gründen unbedingt zu beachten. Das Datum, das auf allen anderen Produkten steht, garantiert dagegen nur bestimmte Eigenschaften des Produktes. Zum Beispiel, dass ein Joghurt cremig bleibt. Nach Ablauf ist ein Joghurt meist noch tagelang einwandfrei für den Verzehr geeignet, es kann nur geschehen, dass sich etwas Molke absetzt. Einmal durchrühren und der Joghurt wäre wieder so cremig wie zuvor.Besonders dramatisch: BrotEine Supermarktkette in den Niederlanden hatte kürzlich eine Idee: Kunden, die ein Produkt mit einer Ablauffrist von weniger als zwei Tagen entdecken, dürfen ihren Fund umsonst mitzunehmen. Ein origineller Einfall, der die Optik umdreht: Die Kunden suchen nicht mehr nach Produkten mit möglichst langem Haltbarkeitsdatum, sondern sie machen es sich zum Sport, Lebensmittel mitzunehmen, die sonst mit großer Wahrscheinlichkeit vernichtet worden wären. Hierzulande sind solche Ideen noch nicht verbreitet. Einige Supermärkte reduzieren immerhin die Preise für Waren kurz vor Ablauf oder mit leichten Schäden. Die meisten Händler aber befürchten, sich damit die Preise kaputtzumachen.Für die durchaus scharf kalkulierenden Unternehmen scheint es rentabler zu sein, Überschuss für die Mülltonne zu produzieren. Denn schlimmer als etwas wegzuwerfen ist es, Käufer zu verlieren. Die Befürchtung: Kunden könnten wegbleiben, weil sie nicht zu jeder Tageszeit die gesamte Produktpalette angeboten bekommen.Ein besonders dramatisches Beispiel ist das Brot. Kein anderes Produkt wird in so großen Mengen weggeworfen. Eine Durchschnitts-Bäckerei schmeißt 10 bis 20 Prozent ihrer Tagesproduktion in die Mülltonne oder liefert den Ausschuss im besten Fall an eine Tafel oder einen Tierfutterhersteller. Der Kunde sei es inzwischen gewohnt, bis Ladenschluss das komplette Angebot an Brot und Backwaren vorzufinden. Die Verschwendung ist immens – jährlich werden in Deutschland 500.000 Tonnen Brot weggeworfen. Damit könnte ganz Niedersachsen versorgt werden.Das System der Verschwendung fängt auf dem Acker an. Das liegt vor allem an den Normen des Handels, die Form, Farbe und Größe von landwirtschaftlichen Erzeugnissen bestimmen. Viele denken bei Normen in erster Linie an die Bürokratie der Europäischen Union. Das bekannteste Beispiel ist die Gurke, deren Krümmung bis 2009 von der EU normiert wurde. Doch als Brüssel die Gurken-Norm abschaffte, hat der Handel die alten Standards einfach beibehalten. Es ist für den Transport und die Lagerung praktischer, wenn die Gurken schön gerade sind und dieselbe Länge haben.Bei optischen Macken ist es etwas anderes: Wir sind inzwischen gewohnt, dass das Obst und Gemüse im Supermarkt perfekt aussieht. Äpfel mit Schorf, Bananen mit braunen Flecken, verzweigte Karotten – das würde im Supermarkt liegen bleiben. Ob bei Äpfeln oder Kartoffeln – was nicht in das Raster passt oder kleine Macken hat, bleibt auf dem Feld liegen. Bei Kartoffeln sind das in der Regel vierzig bis fünfzig Prozent der Ernte.Hoffen und HandelnDie Handelsnormen haben nichts mit der Ernährungsqualität oder dem Geschmack der Lebensmittel zu tun, es geht vor allem um die Optik. Auf dem globalisierten Markt, auf dem Produkte oft über mehrere Kontinente hinweg gekauft werden, erleichtern diese Normen dem Handel, Produkte unbesehen zu bestellen. So weiß er genau, was er zu erwarten hat. Doch das, was nicht in die Norm passt, kann der Landwirt bestenfalls noch auf einem lokalen Wochenmarkt verkaufen, das meiste muss er aussortieren – so wird etwa ein Zehntel der Bananenernte schon auf der Plantage aussortiert.Was also tun? Es geht nicht um Verzicht. Es geht um mehr Effizienz, und um ein politisches Bewusstsein dafür, dass Mechanismen, die für einzelne Unternehmen rentabel sein mögen, volkswirtschaftlich gesehen katastrophal sind. Es gibt viele hoffnungsvolle Ansätze: Immer mehr kaufen bewusst regionale Produkte, das verringert die Abfallmengen beim Transport. Wer auf dem Wochenmarkt einkauft, beäugt die Ware weniger kritisch als im Supermarkt. Wer ein Gemüseabo bestellt, lernt flexibel zu kochen – er muss seine Mahlzeiten aus den Zutaten zaubern, die die Felder gerade hergeben. Die Community Supported Agriculture in den USA geht noch einen Schritt weiter und verzichtet auf jeden Zwischenhandel. Das Modell ist simpel, aber revolutionär: Eine Kooperative von Verbrauchern nimmt direkt Landwirte unter Vertrag und wird dafür regelmäßig mit frischen Produkten aus ökologischem Anbau versorgt. Der Landwirt kann kalkulieren, wie viel er jede Woche ernten muss, und der Rest bleibt dort, wo er am frischesten gelagert werden kann: unter der Erde.Aber auch die Supermärkte können ihre Müllmenge reduzieren, einfach indem sie ihr Angebot an frischen Produkten gegen Abend oder am Wochenende etwas ausdünnen. Handelsketten könnten die Verringerung der Lebensmittel-Abfälle als Unternehmensziel festschreiben und ihre Kunden damit überzeugen, dass es im Sinne des Klimaschutzes und als Beitrag gegen den Welthunger geschieht. Doch solange es für den Handel rentabler ist, Ware wegzuwerfen, anstatt ihren Preis vor Ablauf herunterzusetzen, wird er es auch tun. Deshalb braucht es die Politik. Sie muss sicherstellen, dass es für Unternehmen nicht die günstigste Möglichkeit bleibt, unverdorbene Lebensmittel in die Mülltonne stopfen.