Auf einmal waren sie wieder da, die alten Gutsherren. Nach all den Jahren. Die Mauer war noch nicht lange gefallen, der Arbeiter- und Bauernstaat DDR noch nicht lange Geschichte. Kein Wunder, dass das Staunen in Friedersdorf groß war. Über Jahrhunderte hatte der Ort im Osten Brandenburgs der Familie von der Marwitz gehört. Doch dann war der Krieg gekommen und schließlich die Bodenreform in der sowjetischen Besatzungszone. Unter der Losung „Junkerland in Bauernhand“ wird der Adel damals enteignet. Das Ehepaar von der Marwitz flieht nach Bayern, schweigt all die Jahre, auch ihrem Sohn Hans-Georg erzählen sie kaum etwas von der alten Heimat. Bis 1990, bis zur Wiedervereinigung. Und Hans-Georg von der Marwitz entschließt sich, nach Brandenburg zu ziehe
Politik : Glanz und Geifer
Der Adel galt lange als Relikt einer überwundenen Epoche. Doch selbst in Deutschland haben Aristokraten mehr Einfluss, als die meisten aus dem Volk zu glauben wagen
ehen, um einen Biobauernhof aufzubauen. Dass es der alte Familiensitz wird – „ein Zufall“, wie er sagt.Hans-Georg von der Marwitz sitzt in seinem Berliner Bundestagsbüro, den Arm über einen Stuhl gelehnt, die langen Beine in der Anzughose überschlagen. Er schenkt Mineralwasser und Kaffee nach, während er von der Rückkehr nach Friedersdorf erzählt. Damals, 1990, seien sie nicht von allen Bewohnern mit offenen Armen empfangen worden. Vielen hätte es nicht gefallen, dass seine Familie wieder auftauchte, Landflächen kaufte und pachtete. Neid habe dabei eine Rolle gespielt, sagt von der Marwitz und die feinen Gesichtszüge des 50-Jährigen regen sich. Bei den Alten war das anders: „Jetzt kommen die guten alten Zeiten wieder“, dachten einige. Sie hätten sich noch an seinen Großvater erinnern können, der das Krankenhaus gebaut und das Dorf im Krieg evakuiert habe. Hans-Georg von der Marwitz versteht sich eigentlich als Kommunalpolitiker, er kämpft gegen die Speicherung von Kohlendioxid unter der Erde, gegen den Einsatz von Gentechnik. Im Jahr 2002 trat er in die CDU ein. Seit 2008 sitzt er im Bundestag. „Weil ich gebeten wurde“, wie er sagt.Stets auf dem richtigen Posten Dort ist er in ehrenwerter Gesellschaft: In den Bundestag wurden sieben Abgeordnete mit adliger Herkunft gewählt. Verglichen mit der Gesamtbevölkerung ist das sehr viel: Während Deutschland etwa 82 Millionen Einwohner hat, gibt es Schätzungen zufolge nur 80.000 bis 120.000 Adlige. Zwar hat der Adel seinen rechtlichen Status nach 1945 verloren, der Adel in der DDR seinen Besitz und große Teile des ostelbischen Adels auch seine Heimat. In der alten Bundesrepublik hat es der Hochadel aber geschafft, sich als exklusive Gruppe zu konservieren und sein Vermögen, seine Schlösser und sein Land zu behalten.Seit der Wende jedenfalls gewinnt der Adel wieder an Einfluss. Jüngere Adlige interessieren sich für die Familientraditionen und gehen unbefangen damit um. Laut Adelsforscherin Monika Wienfort haben sich viele adlige Familien nach der Wende auf ihre Geschichte zurückbesonnen und Adelsvereine sowie Familientreffen wiederbelebt. Und derzeit beweisen der Rummel um die Hochzeit des britischen Prinzenpaars William und Kate, die Karl-Theodor-Fangruppen im Fall Guttenberg sowie eine florierende Regenbogenpresse: Der „gemeine Bürger“ hat sich sein Interesse an den Blaublütern nicht aberziehen lassen – weder von Marktliberalen, noch von Sozialisten. Auch wenn der Adel längst nicht mehr an allen Schaltstellen des Staats sitzt: Er besitzt mehr Macht als viele denken.Verglichen mit seiner Größe ist der Adel in fast allen wichtigen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens überproportional vertreten, zum Beispiel in der Wirtschaft: In den 30 Dax-Unternehmen kommen zwei Vorstandsvorsitzende und ein Aufsichtsratsvorsitzender aus dem alten Adel. Das ist viel angesichts der Tatsache, dass der Adel nur ein Promille der Bevölkerung ausmacht, sagt Eliteforscher Michael Hartmann. Ihre Netzwerke würden Adligen helfen, schneller aufzusteigen als andere Gruppen. Hochadelsfamilien wie die zu Bismarcks kämen allein schon durch ihr Eigentum in Kontakt mit Aufsichtsräten, die auch in anderen Unternehmen an der Spitze sind. Auch auf privaten Veranstaltungen lernten sie Leute aus der Wirtschaft kennen und erführen zugleich, wie sich Unternehmen entwickeln und wer dort die Fäden zieht. Dieser Informationsvorsprung ist laut Hartmann entscheidend.Einer, der diesen Vorteil besonders gut zu nutzen wusste, ist August Baron von Finck, einer der zehn reichsten Deutschen. Von Finck stammt aus einer Bankiersfamilie, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts nobilitiert wurde. Als sein Vater starb, übernahm von Finck die Privatbank Merck Finck Co. Seit er sie 1990 verkauft hat, vermehrt er sein Geld, indem er in Immobilien, Brauereien, Chemiekonzerne und Versicherungen investiert. Seinen politischen Einfluss wiederum steigerte er, indem er mehrere Millionen Euro an die FDP, die CSU, aber auch den rechtsgerichteten Euro-Gegner Manfred Brunner spendete.Viele Privatbanken waren noch bis vor wenigen Jahren in Adelshand. Die Vorfahren der adligen Bankiers waren meist im Kaiserreich nobilitiert worden, neben den von Fincks etwa auch die von Oppenheims und die von Bethmanns. Zwar mussten in der Finanzkrise viele verkaufen, ihre Häuser existieren aber häufig noch als Töchter anderer Banken. Eigenständig ist noch das Bankhaus Metzler, das vollständig im Familienbesitz ist.Mehr Kontinuität zeigen die adligen Großgrundbesitzer: Der größte Privatwald Deutschlands ist in der Hand der Familie von Thurn und Taxis – mit 28.000 Hektar ist er etwa halb so groß wie die Fläche des Bodensees. Aber auch die Grafen Fugger, die Fürsten Hohenlohe und Hohenzollern-Sigmaringen besitzen im Südwesten Deutschlands Wälder, die sich über weite Gebiete erstrecken. Da passt es, dass Karl-Theodor zu Guttenbergs Bruder, Philipp zu Guttenberg, Präsident des Waldbesitzerverbandes ist. Bei der Forstwirtschaft allein bleibt es oft nicht, viele adlige Familien öffnen die Tore ihrer Anwesen, um mit Tourismus Geld zu verdienen.Oft behaupten Adlige, der Titel habe für sie keine Bedeutung mehr. Er tue sich schwer, sich als Adligen zu bezeichnen, sagte etwa Prinz Georg Friedrich von Preußen einmal, Chef des Hauses Hohenzollern und Ururenkel von Kaiser Wilhelm II. Nicht selten sind solche Sätze jedoch Untertreibunen. Hans-Georg von der Marwitz nennt seinen Adelstitel einen Namenszusatz, „nicht mehr und nicht weniger“. Ein Blick auf seine Internetseite zeigt jedoch ein anderes Bild: Dort kann der Leser seine Familiengeschichte nachlesen, er erfährt etwas über den „festen Charakter“ der Familie und über einen Ahnen, der sich als preußischer General dem Befehl Friedrich des Großen widersetzte, ein Jagdschloss zu plündern. Seine Mitarbeiter hätten die Seite eingerichtet, um den Anfragen Rechnung zu tragen, entschuldigt sich von der Marwitz. Beeindruckt sei er aber schon von der Haltung seiner Vorfahren. Dass er jetzt die Tradition wieder in Anspruch nehmen könne, das bedeute für ihn vor allem Verantwortung. Er selbst sehe sich als Statthalter des Betriebs in Friedersdorf. Wie ein Geschenk sei es für ihn, dort wieder verwurzelt zu sein, wie viele Generationen vor und womöglich auch nach ihm. „Das gibt einem eine ganz andere Kraft, es schafft politisch eine innere Freiheit und Unabhängigkeit, ja eine Geborgenheit.“Es ist diese gefühlte Unabhängigkeit, wegen der ein Politiker wie Karl-Theodor zu Guttenberg als zukünftiger Kanzler gehandelt wurde, und Ursula von der Leyen als Bundespräsidentin. Die Hoffnung: Adlige kleben nicht am Job. Wenn sie etwas nicht verantworten können, treten sie zurück; wenn sie aber überzeugt sind, dann verfolgen sie ihre Ziele auch gegen harten Widerstand. Selbst wenn sich dieses Bild meist als Mischung aus Projektion und Inszenierung erweist: Das Image hilft adligen Politikern, beliebt und erfolgreich zu werden.Trotz des Einflusses, den der Adel heute ausübt, wäre es vorschnell, von einer zielgerichteten, gemeinsamen Standespolitik zu sprechen. Dafür sei der Adel inzwischen viel zu heterogen, sagt der Historiker und Adelsforscher Eckart Conze von der Universität Marburg. Der Adel als soziale Gruppe habe alle Prozesse der Differenzierung durchlaufen, den auch andere Gruppen durchgemacht hätten. Alleine der Habitus und das Auftreten verbindet Politiker wie von der Leyen und zu Guttenberg – wobei etwa schon Thomas de Maizière wieder einen anderen Politikstil vertritt. Die Historikerin Monika Wienfort glaubt gar, dass sich der Habitus, der adligen Politikern zugeschrieben wird, gar nicht so sehr von dem des Hanseaten unterscheidet. Es hänge eben viel von eigenen Projektionen ab. Der Bürger sehe das, was er sehen wolle.Sehnsucht nach FührungDas Phänomen zu Guttenberg sei dennoch kein Zufall, sondern habe mit dem Glaubwürdigkeitsverlust der Politik zu tun, sagt Eckart Conze. Es habe sich der Eindruck verstärkt, dass Politiker ihre Überzeugungen je nach Stimmungslage über Bord schmissen. Laut Conze wächst deswegen die Sehnsucht nach Führungsfiguren, die durch Beständigkeit und nicht durch Wendigkeit auffallen. Nicht bloß die Bevölkerung, auch Politiker glaubten wohl eher, im Adel fündig zu werden.Ein Blick auf die politische Realität zeigt jedoch: Adligen Politikern nach 1945 ging es weniger um Beständigkeit in der Politik als um eine gute Figur auf der großen Bühne und darum, das Land zu repräsentieren, wie es etwa Richard von Weizsäcker als Bundespräsident tat. Schließlich war der Adel schon immer in der Diplomatie stark vertreten, auch heute noch. Viele Adlige werden heute noch Botschafter, weil sie einer „familiären Adelstradition“ nachgingen, sagt Monika Wienfort. Die Grundlage dafür schaffen die Eltern: Erziehung, Internate und Eliteuniversitäten im Ausland bereiten die Sprösslinge vor.Seine größte Macht erhält der Adel jedoch durch die Aufmerksamkeit der Medien. Ein Politiker wie zu Guttenberg sei eben viel unterhaltsamer als ein Gewerkschafter aus Bottrop-Süd, der nach langen Jahren mit einem Mandat belohnt wird, sagt Eckart Conze. Er stellt weniger eine Revitalisierung des Adels fest, als eine Medialisierung der Politik. „Seine Bedeutung erhält der Adel als Prominentengruppe“, sagt der Historiker. Das sei ein Geben und Nehmen. Den Adligen sei die Aufmerksamkeit bewusst und sie wüssten, wie sie sich das zu Nutze machen und „Anerkennungsprofite“ sammeln können.Ein Gegenmodell verfolgen Jutta Ditfurth und Hermann Otto Solms. Beide stammen aus alten Adelsgeschlechtern, haben ihren Titel aber abgelegt. Das passe einfach nicht zur Demokratie, begründete das Solms, immerhin ein geborener Prinz. Spricht man Hans-Georg von der Marwitz darauf an, so schweigt er und blickt an die Decke, als suche er nach einer Erklärung. Dann führt er den Blick zurück und sagt: „Das kann ich nicht nachvollziehen.“ Er selbst nenne sich zwar auch oft Hans Marwitz. Aber den Titel abzulegen: „Das ist doch vor sich her getragenes Understatement.“