Kopftuch-Bloggerin Kübra Gümüsay kämpft dagegen, dass jeder ihre Haarfarbe kennt. Der Post-Privatist Christian Heller sagt: Bald sind wir ohnehin alle nackt. Ein Streit
Der Freitag: Frau Gümüsay, Sie verbergen ihre Haare. Warum?
Kübra Gümüsay:
Als ich etwa zehn Jahre alt war, habe ich ein Kopftuch angezogen, weil es in meinem Umfeld viele Frauen damit gab, die sehr souverän und selbstbewusst waren. Das Kopftuch hat sie bestärkt und motiviert. Und altklug, wie ich war, wollte ich also auch ein Kopftuch. Erst mit 15 habe ich mich intensiver und bewusster mit meiner Religion auseinandergesetzt und festgestellt: Das Kopftuch ist für mich eine religiöse Pflicht. Ja, ich will es tragen. Dann habe ich mich gefragt: Möchte ich dafür einstehen in einer Gesellschaft, in der das kontrovers diskutiert wird? Und ich habe beschlossen: Ja, ich kann es tragen.
Herr Heller, Sie sagen, dass man in Zeiten der Digitalisie
skutiert wird? Und ich habe beschlossen: Ja, ich kann es tragen. Herr Heller, Sie sagen, dass man in Zeiten der Digitalisierung seine Daten ohnehin nicht bei sich behalten kann. Und: Wenn sich alle entblößen, ist Nacktheit der Normalzustand, und der Kontrollverlust über die Daten verliert seinen Schrecken. Soll Kübra Gümüsay ihr Kopftuch ablegen?Christian Heller: Nein, das Kopftuch ist ja ein Merkmal, mit dem sie in die Öffentlichkeit tritt. Die Alternative wäre doch, dass sie sich versteckt, indem sie die gleiche Kleidung trägt wie alle anderen, damit niemand die Nase rümpft. Das wäre das Gegenteil der Offenheit, die ich meine.Aber sie tritt in die Öffentlichkeit, indem sie etwas verbirgt.Heller: Ja, ihre Haare bleiben verborgen. Aber mit einer Frisur eckt man ja heute nicht an. Man kann auch mit roter Irokesen-Bürste als seriöser Talkgast eingeladen werden. Entscheidend ist, dass sie ihre Lebenswelt öffentlich macht, statt sie unter Verschluss zu halten.Gümüsay: Das Kopftuch eckt tatsächlich nicht deshalb an, weil ich meine Haare verdecke, sondern wegen der vermeintlichen Aussage, die der Betrachter darin entdeckt – Unterdrückung, Zwang und so weiter. Mit dem Kopftuch gebe ich aber nur preis, dass ich mich zum Islam bekenne.Sie bloggen über Ihr Leben als Kopftuchträgerin. Können Sie also damit leben, dass andere Menschen alles über Sie wissen?Gümüsay: Ich blogge über verschiedenste Themen. Das Kopftuch ist nur ein Aspekt meines Lebens. Dass der öffentlich ist, damit komme ich klar, auch wenn mir deshalb Hass entgegenschlägt; etwa, wenn so genannte „Islamkritiker“ auf meinen Blog kommen und schimpfen. Einige meiner Freundinnen dagegen vermeiden die Gefahr, angefeindet zu werden, indem sie das Kopftuch lieber nicht tragen. Andere nehmen es irgendwann ab, wieder andere ziehen sich zurück oder wandern aus.Was dürfen wir nicht über Sie wissen, Frau Gümüsay?Gümüsay: Das allermeiste von mir! Ich fühle mich bedrängt, wenn man sich anmaßt, ganz selbstverständlich Privates von mir erfragen zu dürfen, nur weil ich als Muslimin öffentlich bin. Ich schätze meine Privatsphäre. Herr Heller, Sie dagegen veröffentlichen Ihren Tagesablauf im Netz. Wir wissen, wann Sie Döner essen, wann Sie das Kackofantenlied bei Youtube aufrufen und dass Sie sich zwischen 21.35 Uhr und 23.30 Uhr auf dieses Gespräch vorbereitet haben. So soll die Zukunft aussehen?Heller: Einer der Gründe, warum ich so viel über mich ins Netz stelle, ist, zu schauen: Was wird denn gegen mich verwendet? Welche Folgen hat es, wenn ich so viel über mich preisgebe? Wo dreht man mir daraus einen Strick?Und, wo?Heller: Bisher nirgends.Aber alles, was Sie tun, dokumentieren Sie nun auch wieder nicht. Sie wählen aus. Im Grunde tragen Sie also ein digitales Kopftuch: Sie zeigen etwas von sich, um andere Dinge zu verbergen.Heller: Ja, zum Beispiel schreibe ich nicht auf, mit welchen Menschen ich irgendwo bin, weil die nicht zwangsläufig damit einverstanden sind, dass ich mit deren Privatleben so umgehe wie mit meinem. Und auch von mir veröffentliche ich tatsächlich nicht alles. Ich habe noch keine Webcam in meiner Wohnung stehen.Gümüsay: Noch?Heller: Genau: noch. Ich wage mich an neue Bereiche heran, um zu sehen, wann ich sage: Oh, jetzt wird‘s härter, da muss ich überlegen, wie ich damit umgehe.Wie würden Sie damit umgehen, wenn nicht Sie auswählen würden, was über Sie öffentlich wird, sondern wir?Heller: Es würde sicher ungeahnte Probleme aufwerfen, wenn die Welt Dinge von mir weiß, die ich nicht sagen will. Aber verstehen Sie: Wir bewegen uns genau in diese Richtung, und wir sollten lernen, mit solchen Kontrollverlusten umzugehen, anstatt vergeblich zu versuchen, sie zu vermeiden.Datenschützer wollen diese Kontrollverluste eindämmen.Heller: Datenschützer versuchen, uns davor zu bewahren, dass Daten, die wir anderen anvertrauen, Wege einschlagen, die wir nicht vorhersehen. Der Datenschutz gaukelt vor, dass Informationen, die ich in den Vorgarten entlasse, nicht auf die Straße flüchten. Darauf kann sich aber im Netz niemand mehr verlassen. Wir müssen also Strategien entwickeln, damit umzugehen, dass Informationen über uns öffentlich sind, was wir nicht in der Hand haben.Gümüsay: Eilen Sie nicht in eine Richtung voraus, in die die Gesellschaft vielleicht nicht gehen wird?Heller: Möglicherweise. Andererseits sehe ich nichts, was sich diesem Trend wirkungsvoll entgegenstellt. Ich sehe, dass wir eine immer höhere Integration und Erfassung von Daten haben, wir haben immer bessere Algorithmen und immer schnellere Maschinen, um diese Daten auszuwerten. Und wenn wir nicht beschließen, Technologie pauschal zu bremsen und alle einzusperren, die sich neue Computer und neue Algorithmen ausdenken, haben wir wenig in der Hand, um die Entwicklung aufzuhalten.Gümüsay: Doch. In meinem Freundeskreis treten viele aus Facebook aus und verweigern sich dem Internet. Ein Bekannter schreibt sogar nur noch an der... Na, wie heißt das nochmal?Nicht etwa Schreibmaschine?Gümüsay: Doch, genau, Schreibmaschine. Manche sind konsequent nur über Fax zu erreichen. Oder sagen, ich benutze nur manches im Internet. Ich sehe das bei vielen Leuten. Da gibt es regelrecht eine neue Bewegung, die man vielleicht im Auge behalten sollte.Heller: Diese Leute glauben, dass sie sich dieser Entwicklung entgegenstellen können, indem sie Sachen machen wie: nur getrennte Identitäten im Netz verwenden und den Browser wechseln. Oder auch: Indem sie Menschen meiden, die sich in der digitalen Welt verausgaben. Das führt aber letztlich doch dazu, dass man sich abkapselt. Langfristig bugsiert man sich damit ins Abseits.Gümüsay: Ich möchte aber, dass persönliche Freiheit weiter über der Informationsfreiheit steht.Heller: Das ist wohl der entscheidende Unterschied: Ich glaube, dass mein Recht, zu bestimmen, was die Welt über mich weiß, weniger schwer wiegt als mein Recht, zu sagen, was ich möchte. Und je mehr Leute das in die Welt tragen – wie Sie es mit ihrer Kopftuch-Kolumne ja auch tun, Frau Gümüsay –, desto größer wird die Vielfalt an Identitätsangeboten. Und desto größer wird die Toleranz. Gümüsay: Mein Blog habe ich aufgemacht, damit muslimische Frauen in der Öffentlichkeit eine Stimme haben, aber doch nicht, weil ich glaube, dass jeder alles von sich preisgeben soll. Ihre Haltung verbindet sich auch mit Zwang. Ich will nicht die Kontrolle darüber verlieren müssen, welche Informationen zugänglich werden und wie ich mich präsentiere.Heller: Ich sage nicht, dass alle Leute, die etwas zu verlieren haben, sich nackig machen sollen. Sondern ich sage: Die Zukunft kommt, und es wäre besser, sich darauf einzustellen.Haben Sie denn im Moment die Kontrolle darüber, wie Sie sich präsentieren, Frau Gümüsay?Gümüsay: Sobald man im Internet Informationen freigibt, hat man keine absolute Kontrolle mehr: Wenn ich etwas blogge, wird das hinterfragt und diskutiert. Aber ich behalte eine relative Kontrolle, die sollten wir bewahren. Heller: Sie kontern die bestehenden Bilder über Kopftuchträgerinnen, indem Sie Ihr eigenes Bild ins Netz stellen. In dem Moment, in dem sehr viel mehr Leute ihr Selbstbild in die Welt tragen, erweitern sie das Angebot an Identitätsressourcen, an denen sich Menschen orientieren können. So entsteht Vielfalt. Und wenn wir gerade dadurch erkennen, dass wir mehr Toleranz brauchen, dann ist das eine Emanzipationsstrategie. Klassisches Beispiel: Outing. Als die Homosexuellen an die Öffentlichkeit traten, wuchs die Toleranz.Es besteht ja ein Unterschied zwischen Selbst- und Fremd-Outing. Rosa von Praunheim etwa hat einst Hape Kerkeling geoutet. Entspricht das Ihrer Vorstellung?Heller: Outing ist in meinem Denken nichts, was ich von Kerkeling fordern würde. Es wäre einfach nicht aufzuhalten, dass bekannt wird, dass er schwul ist.So war es ja. Er wurde zwangsgeoutet.Heller: Ja. Aber das ist für mich weniger eine moralische Frage. Wenn wir das Ende der Privatheit als Zustandsbeschreibung sehen, dann kommt ein Outing früher oder später eben.Gümüsay: Aber das ist doch nicht erstrebenswert. Hätte mich als Kind jemand wegen meines Kopftuchs so beschimpft, wie es heute bisweilen geschieht, hätte ich nie das Selbstvertrauen entwickelt, das ich heute brauche, um mein Lebensmodell zu verteidigen.Sie sagen also: Ich bin in einer Position der Schwäche, und ich brauche einen Schutzbereich.Gümüsay: Einen Raum, in dem sich eine Idee entwickeln kann, bevor die Öffentlichkeit über einen hereinbricht. Herr Heller, ich finde, dass Ihre Perspektive die eines Menschen ist, der vielen Normen entspricht. Aus der Position von jemandem, der eine Minderheitenrolle einnimmt, sehe ich viele Gefahren in Ihrer Idee der „Post-Privacy“. Ich fürchte, dass die Ausgegrenzten noch stärker ausgegrenzt werden. Die ganze Post- Privacy-Debatte ist sehr weiß, männlich und akademisch.Heller: Da stimme ich zu. Und ich suche Lösungen, indem wir miteinander reden. Das ist natürlich utopisch, kitschig und naiv. Aber Fakt ist, dass wir künftig Geheimnisse weniger leicht bewahren können werden.Gümüsay: Noch können wir das, und ich wäre sehr dafür, dass wir diesen Zustand erhalten. Ich arbeite darauf hin, dass man auch in Zukunft Privatsphäre hat. Die Utopie der geheimnislosen Welt geht auf Kosten vieler Individuen, die genau darunter leiden würden. Heller: Aber ich plädiere ja nicht dafür, den Datenschutz in vorauseilendem Gehorsam wegzusäbeln. Natürlich müssen wir sehen, wie wir in der Gegenwart unsere empfindlichen Bereiche schützen können. Aber ich plädiere dafür, dass wir uns nicht auf Datenschutz als Zukunftsmodell verlassen sollten. Ich glaube, dass er nicht das Problem, sondern Symptome angeht.Können Sie das erklären?Heller: Wir diskriminieren zum Beispiel Menschen dafür, dass sie krank sind. Dabei wäre es wünschenswert, wenn wir mehr darüber wüssten, was gesund oder krank macht. Insofern wäre es gut, wenn Menschen über ihre Erbanlagen und ihre Krankheiten reden könnten. Im Moment ist das nachteilig für sie, weil sie dann Probleme mit Versicherungen kriegen. Das bedeutet: Wir müssen das Gesundheitssystem anders organisieren. Das geht nicht von heute auf morgen, aber auf Dauer ist es unhaltbar, dass wir Leute zwingen, Sachen geheimzuhalten, die für andere relevant sind.Und Sie denken, dass wir eher das Gesundheitssystem umbauen, als den Datenschutz durchzusetzen?Heller: Moment, wenn dieser Zustand kommt, den wir Post-Privatheit nennen, dann kollabiert das Gesundheitssystem ganz von selbst. Weil es Leute diskriminiert, weil ihre Krankheiten bekannt werden. Entweder schrumpft es dann zurück auf eine nur für wenige Privilegierte zugängliche Privatversicherung. Oder es wird zu einem Um- oder Neubau kommen.Gümüsay: Oder es führt dazu, dass es gesellschaftlich akzeptiert wird, dass man aufgrund seiner Krankheit diskriminiert wird.Heller: Aber wir sind uns doch einig, dass wir das nicht akzeptieren wollen. Wir sollten die Weichen für mehr Toleranz stellen, statt die Scheuklappen aufzusetzen.Gümüsay: Was mir diese Post-Privacy-Vertreter sympathisch macht, ist ja, dass sie darum kämpfen wollen, dass Menschen nicht mehr aufgrund von Geschlecht, Religion oder Gesundheitszustand diskriminiert werden. Heller: Richtig, das müsste unter Punkt eins des Post-Privacy-Programms stehen.Gümüsay: Und, steht es da?Heller: Na ja, es gibt halt kein Programm, auf dem es stehen könnte. Es gibt nur diese Prognose: Da steuern wir hin.