Der Freitag: Für viele Beobachter schien die Occupy-Bewegung am 17. September aus dem Nichts zu kommen. Ein Blick in die Adbusters-Archive zeigt jedoch, dass der erste Aufruf bereits Mitte Juli erfolgte.
Kalle Lasn: Die Idee, dass wir etwas Provokantes tun und die Wall Street als das ikonische Zentrum des globalen Kapitalismus besetzen wollen, entstand bereits in einem frühen Brainstorming während der arabischen Revolution. Wir dachten damals: Wir hier in Amerika leben auch unter einer Art Regime. Es ist zwar nicht mit dem von Mubarak vergleichbar, wo tagtäglich Menschen auf Polizeiwachen gefoltert werden. Aber wir haben ein Regime der Wirtschaftskonzerne, die unsere Gesetzgebung beeinflussen. Wir brauchen vielleicht keinen harten Regimewechsel wie in Ägypten, aber
lleicht keinen harten Regimewechsel wie in Ägypten, aber einen weichen, der die Korruption in Washington D.C. beseitigt. Bei diesen Brainstormings wurde uns schnell klar: Das betrifft nicht nur Amerika. Die Regierungen haben ihre G20-Treffen, die Unternehmen spielen ihre globalen Machtspielchen – nur wir, das Volk, haben noch nicht gelernt, uns zu globalisieren.Mitte Juli starteten wir etwa zeitgleich drei Dinge: In der damals aktuellen Adbusters-Ausgabe erschien ein zweiseitiges Poster, das zur Besetzung der Wall Street aufrief, wir brachten den Hashtag #occupywallstreet in Umlauf, und wir veröffentlichten auf unserer Seite ein strategisches Briefing. Dann ging der Twitter-Feed mit unserem Hashtag durch die Decke. Aktivisten aus New York stiegen mit ein, und der Hacker-Verbund Anonymous veröffentlichte ein Unterstützer-Video. Das war ein großer Moment.Strategisch gehen Sie also nicht anders vor als jede moderne Werbeagentur?Es klingt vielleicht so, als seien wir gut organisiert und alles wäre durchdacht, aber bei uns regiert der Wahnsinn. Ich war früher in Werbeagenturen tätig und weiß, wie straff organisiert sie sind. Abgesehen von dem Launch arbeiten wir chaotisch und anarchisch. Doch genau das könnte den Erfolg dieser Bewegung ausmachen. Wir Linken haben diesen anarchischen Geist, aus dem Bewegungen und Revolutionen entstehen. Ganz anders funktioniert zum Beispiel die Tea Party, die komplett durchorganisiert ist und so eine Menge Spendengelder von Millionären akquiriert hat.Was macht aus Sicht des Werbe-Experten den Erfolg der Tea Party aus?Rein emotional gesehen dasselbe wie bei uns. Sie haben erkannt, dass in Amerika etwas grundlegend schiefläuft. Und auf ihre eigene, rechte Art haben sie bei den Menschen eine Leidenschaft entfacht. Die Wut, auf die sie bauen, ist der unseren sehr ähnlich: Etwas stimmt nicht in diesem Land, und der demokratische Prozess in Washington D.C. ist durchweg korrupt. Da sind wir uns 100 Prozent einig. Aber dann trennen sich unsere Wege: Die Tea Party denkt, die Regierung ist schuld, wir hingegen glauben, die Wirtschaftsunternehmen sind das Problem. Das ist der große Graben, der uns trennt.Viele hoffen, dass Occupy sich als das Gegengewicht zur Tea Party etablieren kann. Was denken Sie?Ich glaube, diese Bewegung kann weit mehr sein. Wir erleben im Moment die Wiederauferstehung der politischen Linken, über die wir meiner Meinung nach seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1989 reden. Plötzlich finden es Millionen von jungen Menschen auf der ganzen Welt wieder cool, ein Linker zu sein.Auf Ihrem Poster stand: „What is our one demand?“ – Weshalb halten Sie es für so wichtig, dass es diese eine, große Forderung gibt?Sie ist vielleicht in einem direkten Sinne gar nicht so wichtig. Als wir die Frage über den Kopf der Ballerina setzten, war das als Metapher gemeint. Wir wollten einen kreativen Prozess anstoßen, wir wollten die Leute dazu bringen, über diese Frage zu diskutieren und zu streiten. Ich denke, die eine große Forderung lautet: Wir wollen eine andere Zukunft. Das ist eher abstrakt.Vor ein paar Tagen haben Sie dennoch eine konkrete Forderung ausgesprochen: Die nach einer Robin-Hood-Steuer.Wir konnten nicht widerstehen. Aber es ist nur eine erste politische Forderung. Wir wollen damit die G20 direkt konfrontieren, die sich am 3. und 4. November in Frankreich treffen. Occupy hat erst eine nationale und dann eine internationale Debatte ausgelöst. Nun herrscht das Gefühl: „Was kommt als Nächstes?“ Wenn es uns gelingt, dass die Leute am 29. Oktober weltweit für die Robin-Hood-Steuer auf die Straße gehen, dann könnten wir die ersten Früchte der Bewegung ernten.Ihr Kollege Micah White schrieb vor etwa einem Jahr in AdbustersDieses Thema wird uns weiter begleiten. Klicktivismus-Organisationen wie moveon.org sind immer noch groß. Aber die Occupy-Bewegung ist ein wunderbares Gegengift. Junge Leute, die vorher an der Maus klebten, zelten jetzt im Park.Was unterscheidet Occupy von früheren Bewegungen?Ich bin ein alter Mann, der große Moment in meinem Leben war 1968. Wir wollten damals Wolfsrudel sein, wir wollten Führer und Manifeste und klar ausgesprochene Forderungen. Und das hat 1968 nicht funktioniert. Ich glaube, es stimmt, dass wir jetzt anstelle von Wolfsrudeln Schwärme haben. Und anstelle einer vertikalen Revolution wie 1968 ist dies eine horizontale Revolution junger Menschen, die in der Kultur des Internets aufgewachsen sind und egalitärer denken.Die Medien scheinen das anders zu sehen. Spiegel Online etwa machte am Tag nach den weltweiten Protesten einen 20-Jährigen als „neue charismatische Führungsfigur“ aus.Das ist hier nicht anders. Auf CNN reden Männer mittleren Alters über Occupy Wall Street, und man spürt, dass sie nicht wissen, was da geschieht. Sie haben keine Ahnung vom Potenzial dieser Bewegung, geschweige denn von der Magie, die entsteht, wenn ein paar Hundert Leute im Park schlafen und Versammlungen abhalten, bei denen es keine Wortführer gibt.Ist unter den Slogans einer, den Sie besonders originell finden?Es gibt für mich einen, der schon 1968 funktionierte und es noch immer tut: „Live without dead time.“ Darum geht es: Das Leben voll und ganz auszukosten.Das Gespräch führte Christine Käppeler.