Das wiedervereinigte Deutschland sollte nur innerhalb eines sich vereinenden Europas stattfinden. 1990 galt das als Geschäftsgrundlage für Deutschland, einig Vaterland. Kanzler Kohl bedrängte Skeptiker in der westeuropäischen Nachbarschaft mit Bekenntnissen, die Schwüren gleichkamen: Die europäische Grundierung der deutschen Fusion sei über jeden Zweifel erhaben. Derart besänftigt und beschwichtigt, verzichteten Frankreichs Präsident Mitterrand und Britanniens Premierministerin Thatcher schließlich auf Vorsicht und Vorbehalte und hielten nicht länger auf, was als unaufhaltsam beschrieben war. Jener Staat, der am 3. Oktober 1990 inmitten des Kontinents aus dem Schatten der Geschichte trat, wollte ein europäisches Deutschland sein u
Politik : Allen Schwüren zum Trotz
Die Eurokrise stellt zusehends die europäische Geschäftsgrundlage des 3. Oktober 1990 zur Disposition
Von
Lutz Herden
n und die Gewähr gegen ein deutsches Europa bieten – gegen Dominanz, Diktat und Despotie. Alles andere, so hieß es, verletze den emanzipatorischen, demokratischen, übernationalen Geist, der die gewachsene (west-)europäische Gemeinschaft wie ein Vermächtnis durchdringe.Gesamtdeutschland sollte kein tragendes Fundament, keine luxuriöse Beletage, kein schützendes Dach eines Europäisches Hauses sein. Nur Mieter desselben. Nicht weniger, nicht mehr. Deutschland als Gleicher unter Gleichen. Wann hatte es das je gegeben im 20. Jahrhundert? Es klang nach Freude schöner Götterfunken und brachte eine Europa-Saga zu Gehör, die weniger dem wahren Leben dieser Gemeinschaft als einem erhofften und imaginierten galt. Warum nicht? Der Durchbruch zum europäischen Staatenbund oder gar zur Föderation schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Was spielte es da schon für eine Rolle, dass Deutschland 1990 zu unbeschränkter Souveränität zurückkehrte und den 1945 erzwungenen und durch die staatliche Teilung verlängerten Urlaub von der Nation definitiv beendete.Also dochGut 20 Jahre später sind die Konsequenzen dieser Zäsur greifbar, ohne zu überraschen. Souveränität und Stärke des deutschen Nationalstaates überlagern Europa. Euro-Partner können den Mustern deutscher Wirtschaftspolitik nicht mehr entkommen. Besonders mit Griechenland hat die Regierung Merkel für einen Präzedenzfall gesorgt und gezeigt, dass sie den Willen und die Macht besitzt, Stabilitäts- und Sparauflagen zu verhängen, die an ökonomische Selbstaufgabe grenzen.Wer trumpft da auf? Ein europäisches Deutschland oder ein deutscher Vormund für Europa? Allen Schwüren von 1990 zum Trotz, die einer der alten Europäer seinen Nachfolgern in der vorigen Woche noch einmal ins Gedächtnis rief: „Die Gemeinschaftsmethode hat in Europa Vertrauen gestiftet. Sie gibt allen am Tisch Sitz und Stimme. Sie muss auf weitere Sicht wieder Europas Handeln bestimmen“, meinte Hans-Dietrich Genscher. Was also wird aus Deutschland? Der Hegemon aus Überzeugung oder ein Dominator wider Willen, weil es keine Alternative dazu gibt, dass „in Europa deutsch gesprochen“ wird?Zur Erinnerung: Mit einem gewissen Hang zur Anmaßung wollte das Europa der Integrierten vor gut einem Jahrzehnt auf unbekanntes Terrain vordringen, ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass mit einer Währungsunion die Europa-Saga fortan anders und realistischer erzählt werden musste. Schon bald nach Einführung des Euro stellte sich heraus, dass er die Euro-Staaten so vereinen wie spalten konnte, solange deren Union der Logik einer Ellbogengesellschaft gehorchte.Trotz der Gemeinschaftswährung blieb jede Euro-Ökonomie ein nationales Schöpfwerk von Prosperität und Wohlstand, Wettbewerbs- und Konkurrenzfähigkeit. Wird dieser Zweck nur unzureichend erfüllt wie in Griechenland, Portugal, Spanien oder Italien, mutiert die Eurozone zur Desinfektionsanstalt, die Ansteckungsgefahren mindern und Epidemien verhindern soll. Mit anderen Worten: Der Euro hat Europa mit der brutalen Kraft kaufmännischer Dialektik vom Kopf auf die ökonomischen Füße gestellt, seines Heiligenscheins entkleidet und auf ein Verhältnis zwischen Geldgebern und Kostgängern, Macht und Mündel reduziert. Fast überflüssig zu erwähnen, dass in diesem Europäischen Haus die Vorstellung vom gezähmten, mehr der Gemeinschaft dienenden als sich selbst genügenden deutschen Mieter ein frommer Wunsch bleiben muss. Der Euro hat stattdessen das Bewusstsein geschärft für rivalisierende Nationen und Ökonomien. Deren Produktivitäts- und Profitraten entscheiden: Über wie viel Akzeptanz verfügt ein nationaler Kapitalismus? Wie viel muss er sich kaufen, um bestehen zu können. Der Preis für das Überleben ist hoch. Ihn spiegeln die Schulden der Euro-Staaten.Wenn das so ist – und es wäre absurd, die Augen vor der Realität zu verschließen – braucht ein solcher Währungsverbund Führung und Souveränitätsverzicht. Ob Deutschland zu Ersterem berufen sein soll, mag man aus historischen Gründen für bedenklich halten. Dass es im Augenblick dazu berufen ist, ergibt sich aus dem Zustand der Eurozone. Doch es geht um Führung, nicht um Hegemonie. Sie wahrzunehmen, heißt jenseits alles taktischen Kalküls den großen Befreiungsschlag zu wagen, den es nur geben wird, wenn Deutschland sein gesamtes Marktprestige in die Waagschale wirft, um den Euro zu retten und die Überzeugung zu leben: Wir wollen keine Alternative – weder für Griechenland noch für Deutschland.Eben deshalbEs liegt auf der Hand: Wer die Gemeinschaftswährung halten will – etwa durch die Auflage gemeinsamer europäischer Staatsanleihen – muss neben Souveränität gleichsam Prosperität und Wohlstand riskieren, also Opfermut beweisen. Eurobonds verlangen einen größeren finanziellen Einsatz, als der bislang für die Garantien der Europäischen Stabilisierungsfazilität (EFSF) vonnöten ist. Wäre es das wert – das deutsche Opfer fürs Europäische Ganze? Schwer zu sagen. Allein die Geste würde dem Vertrauensvorschuss gleichen, den Frankreich und Großbritannien 1990 zu geben bereit waren, als sie der Wiedervereinigung zustimmten. Das seinerzeit spürbare Ressentiment gegen eine Rückkehr zu deutscher Normalität in Europa war historisch gerechtfertigt. Ein deutscher Prosperitätsverzicht zugunsten des Euro wäre es – eben deshalb – auch.