Ein ganz normaler Morgen für einen 19-Jährigen: Kurz nach 9 Uhr vor dem Computer sitzen und Quake, das Lieblingsspiel, spielen. Mit dem Cursor das Blut wegklicken, damit das Töten auf dem Bildschirm schneller geht. Dann die Maschine herunterfahren. Sie ausschalten. Frühstück: Kaffee und Salamibrötchen, wie immer. Sich kurz darauf anziehen, um die elterliche Wohnung zu verlassen. Es ist Abiturzeit und Englisch, die vierte schriftliche Prüfung steht an. Das sei ja jetzt die letzte, muntert die Mutter den Sohn auf. Der Vater drückt den Jüngsten an die Brust: „Jetzt geht‘s um die Wurst!“ – „Ja, dann ist Schluss“, sagt Robert Steinhäuser.
Erfurt vor zehn Jahren, am 26. April 2002. Ein kalter Freitagvormittag. A
rmittag. Auf der Jungstoilette im Erdgeschoss des Gutenberg-Gymnasiums wechselt der Teenager binnen Sekunden in sein anderes Programm. Aus dem Abiturienten wird kurz nach elf Uhr ein Ninja-Krieger mit gestrickter Wollmaske und einem langärmligen Sweatshirt. Am rechten Bein oberhalb des Knies befestigt er ein Oberschenkel-Holster. Dazu trägt er Fingerhandschuhe. Unnötig zu sagen, dass das Kampf-Outfit komplett in Schwarz sein muss. Um 11.04 Uhr geht bei der Erfurter Polizei der erste Notruf aus der Gutenberg-Schule ein. Das, was bisher nur in den USA, Kanada oder Australien denkbar schien, wird an diesem Morgen deutsche Realität: Robert Steinhäuser tötet an seiner Schule 16 Menschen und richtet dann sich selbst.Schockstarre, Trauer, Angst, mediale Dauerdebatten. Wer war dieser Teenager, der das Land an diesem Morgen so kalt überrennen konnte? Was ist von einem Schulsystem zu halten, das solche seelisch deformierten Täter produziert? Welche Computerspiele, woher die Waffen? Wie geht man mit dem immer früheren Eindringen von medialer Gewalt in die Köpfe von Heranwachsenden um? Mit einem Mal gab es unendlich viel zu reden. Als müsse, wie im Zeitraffer, Wirklichkeit nachgeholt werden. Die Politik war es, die den Akutbedarf ablöschte. „Das ist das Unheil, das vom Himmel gefallen ist“, hieß es. War es Ohnmacht, Reflex, Hilflosigkeit oder gar Kalkül?Heute, zehn Jahre später, ist Erfurt noch immer eine Wunde. Etliche ehemalige Schüler leiden an ihren Erinnerungen. Sie kommen nicht mehr raus aus dem Epizentrum des Geschehens, haben andere Bilder in sich, als die, die man zu offiziellen gemacht hat. „Was wir gebraucht hätten, wären genaue Informationen gewesen“, sagt einer der Angehörigen. Wo aber blieben die? Warum fiel die Aufarbeitung des ersten Amoklaufs an einer deutschen Schule so schwer?Nach Erfurt kamen Coburg, Emsdetten, Winnenden, Ludwigshafen, Lörrach. Mehr als 100 Menschen starben im vergangenen Jahrzehnt hierzulande durch großkalibrige Waffen. Wieviel Zeit ist das im Lebenstakt einer Gesellschaft? Die Welt ist grenzenloser, schneller, atemloser, rabiater geworden. Nach Columbine 1999 kamen Minnesota, Pennsylvania, Cleveland, Jokela, Utoya, Lüttich, Toulouse, Oakland. Amok wurde zum globalen Handlungsmodell, zu einem Katastrophensystem, mit dem wir längst leben. Die gesellschaftliche Halbwertszeit der Trauer sinkt mit jedem Fall.Ist das die Lösung? Sich in der Angst einzurichten? Was also ist möglich? Wer kann was tun?Und: Gibt es eigentlich eine innere Verbindung zwischen Erfurt und Winnenden, dem Amoklauf, der 2009 stattfand? Beide hielten uns am meisten in Atem. Was an ihnen ist deutsch, was global? Schoss Robert Steinhäuser in Erfurt in das Aufgerissene, die Waidwunde einer Umbruchgesellschaft im Osten und Tim Kretschmer in das Zubetonierte, Verstopfte des Effizienz-Westens? Macht es Sinn, das zu fragen?Die Erfurter Staatsanwaltschaft hätte alles unternehmen sollen, um in der Mordserie auf größtmögliche Klarheit zu dringen. Doch für die Aufklärung des Tatgeschehens wurde aus unerklärten Gründen kein Staatsanwalt freigestellt. Eine Sonderermittlungsgruppe kam nicht zum Einsatz. Und die Aufarbeitung ging schnell an die Thüringer Landesregierung über. Überforderung oder bereits Absicht? Richtig ist, dass diese Extremsituation ohne jede Vorerfahrung bewältigt werden musste: Es existierten keine trainierten Handlungsketten, keine Krisenpläne, keine Einsatz-Orientierungssysteme für Schulen. Woher auch?Wenn es nicht nur einer war ...Schon am Tag der Tat selbst, aber auch bei der Ermittlungsarbeit wurde die Frage nach einem zweiten Täter zum Reizthema. Es gab viele – immerhin 86 von 216 durch die Polizei Befragte –, die einen weiteren Tatbeteiligten gesehen haben wollten. Dessen vermeintliche Existenz hatte auch über die Polizeistrategie entschieden: „Langsames Einsickern ins Gelände.“ SEK und Polizei harrten aus, die Rettungsärztin wurde festgesetzt, ärztliche Notversorgung untersagt. Schüler verfolgten über 90 Minuten das schwächer werdende Atmen ihrer im Blut liegenden Lehrer und konnten nichts tun.Erstaunlich viel bleibt über jenen Schwarzen Freitag in Erfurt bis heute ohne Antwort: Was hatte es mit den Warnsignalen und Anrufen vor dem Massaker auf sich, die am Gutenberg-Gymnasium eintrafen und aus der Steinhäuser-Familie, beziehungsweise aus einer Schule der Stadt gekommen sein sollen? Wie sah es im Täterumfeld aus? War Robert Steinhäuser, wie stadtintern schnell nahegelegt wurde, ins Drogenmilieu oder andere Submilieus verstrickt und der 19-Jährige eine Strohfigur für ein ganz anderes Szenario? Wer wusste hier was, wieviel, woher? Wer absolvierte mit ihm die Kampfausbildung? Wer kannte die Tatwaffe?Acht Wochen nach dem Amoklauf lag ein rasch aufgelegter „Vorläufiger Abschlussbericht“ vor. Aus ihm ergaben sich keinerlei strafrechtliche Konsequenzen. Auch schien die Sache mit einem zweiten Täter geklärt: Es gab ihn nicht.Vier Wochen später musste die Polizei die Ermittlungen jedoch erneut prüfen. Von da an ging es fast anderthalb Jahre hin und her, bis der neue Ministerpräsident Dieter Althaus im Januar 2004 meinte: „Zu Gutenberg ist alles gesagt. Der Fall ist geklärt und durch den vorläufigen Abschlussbericht des Innenministeriums ausreichend dargestellt.“ Große Worte. Der direkte öffentliche Einspruch folgte ihnen auf den Fuß, daraufhin wurde die sogenannte Gutenberg-Kommission unter Leitung des damaligen Justizministers und ausgewiesenen Trouble-Shooters Karl Heinz Gasser eingesetzt. Ihre Kompetenz? Auf jeden Fall keine staatsanwaltliche. Das Ganze war juristisch betrachtet ein Placebo. Die Kommission, freilich nur aus „unabhängigen Experten“ zusammengesetzt, durfte noch einmal drehen und wenden, was schon bekannt war.Aber wozu das Ganze? Es erfüllte die Funktion, die Verantwortlichen bei Polizei, Justiz, Verwaltung, Schulverwaltung und Politik aus der Schusslinie zu bringen, und die Strafanzeigen der Angehörigen wegen unterlassener Hilfeleistung abzuwatschen. Der Landesregierung des Freistaats Thüringen ging es mit aller Energie darum, die Erfurter Mordserie außerhalb des Justiziablen zu halten. Verschwörungstheorie oder Vertuschungsstrategie? Was spielte hier zusammen?Der postpolitische Raum im Osten hatte gut zehn Jahre nach dem Mauerfall längst mit schweren Wachstumsrissen zu kämpfen. In Thüringen stößt man dabei immer auf dieselben Namen: Bernhard Vogel, Jg. 1932, Karl Heinz Gasser, Jg. 1944, Manfred Ruge, Jg. 1944, Richard Dewes, Jg. 1948, Dieter Althaus, Jg. 1958. Drei Männer aus dem Westen, zwei aus dem Osten. Fünf Einheitsmacher. Im Nachwende-Thüringen: Ministerpräsidenten, Innenminister, Justizminister, Oberbürgermeister. Kriegskinder und Nachkriegskinder. Mauerkinder.Manfred Ruge: Erfurter Oberbürgermeister von 1990 bis 2006. Zu den Hintergründen der kalabrischen ‘Ndrangheta befragt, äußert er in der ZDF-Dokumentation „Im Netz der Mafia“ von 2008: „Überlegen Sie mal, Sie sitzen an einem Schreibtisch als Oberbürgermeister und haben einen Packen voll Probleme, also wirklich Rucksäcke voll. Und da kommt jemand und sagt: Ich nehme Ihnen die Last ab. Wir machen das, wie Sie es haben wollen. Na, da sind Sie doch glücklich.“ Schon 2000 schrieb das BKA: „1996 wurden mehrere Restaurants in Erfurt eröffnet. Als Geschäftsführer wurden nur Personen angestellt, die entweder verwandt oder Mitglieder des Clans sind.“ Nachdem bekannt geworden war, dass Mafiamitglieder ganze Straßen von Erfurt angekauft hatten, entgegnete Ruge, dass auf der Stirn der Männer ja nicht geschrieben gewesen sei, aus welcher Organisation sie kamen.Wieso eigentlich konnte solch eine jahrelang durchgepokerte Unbedarftheit politisch durchgehen, zumal der Spiegel bereits im Februar 1997 auf den speziellen Demokratiestil des Bürgermeisters hingewiesen hatte. Damals ging es darum, dass Ruge dem Onkel seiner Frau fast 50.000 Mark Entschädigung für ehrenamtliche Beigeordnete zukommen haben lassen soll, auf die er keine Ansprüche gehabt habe. Praktiken, die längst nicht mehr nur im städtischen Bereich Anklang fanden, sondern auch in thüringischen Staatskanzleien.So schrieb der Journalist Jürgen Roth in dem Buch Ermitteln verboten!: „Da gab es z. B. den Politiker Richard Dewes, nach dessen Ernennung zum thüringischen Innenminister sich fast zeitgleich ein höchst ehrenwerter Mann der kalabrischen ’Ndrangeta aus Nordrhein-Westfalen am Regierungssitz in Erfurt niedergelassen hatte, um ein Nobelrestaurant zu eröffnen. Ein Zufall? Obwohl der Innenminister vom Direktor des thüringischen Landeskriminalamts, Uwe Kranz, nach dessen Aussagen immer wieder davor gewarnt hatte, beim ‚Italiener‘ zu dinieren, genossen er und Ministerpräsident Bernhard Vogel die zweifellos exzellenten Speisen. Dass der honorige italienische Gastwirt beim Schmuggel von 100 Kilo Heroin für den kalabrischen La-Minore-Klan mitgespielt haben soll, dass bei ihm Schecks aus Wohnungseinbrüchen gefunden wurden, ebenso Falschgeld, er in Verbindung mit einem Mord stand und in Bochum Bedienstete der Stadt bestochen haben soll – in den neuen Bundesländern sah man das nicht so eng.“Endlosschleife der DekadenzWas Thüringen angeht, lassen sich Korruptions-, Mafia-, Dekadenzgeschichten aller Couleur aus jener Zeit in Endlosschleife erzählen. Der strategisch so günstig liegende Freistaat mauserte sich spätestens ab Mitte der neunziger Jahre zur politischen Waschmaschine irritierender Interessen. Zu einer zunehmend rechtsfreien Zone, in der es Usus wurde, dass irgendwann jeder von etwas anderem schwieg. Man beäugte die Spezialinteressen des anderen, ahnte, wusste und schaute weg. Wer oben war, lebte gut in so einem Land der Komplizen.Bemerkenswert dabei: der dekadente Machtstil von Westpolitikern im Osten ließ in seinem unüberhörbaren Schweigen andere Sachverhalte aus, als der Entgrenzungsstil ostdeutscher Neupolitiker. Der Todesgang von Robert Steinhäuser an seinem Gymnasium ein „Unheil, das vom Himmel fiel?“ Wohl kaum. Politfilz ist Politfilz. Mord ist Mord. Dabei geht es nicht darum, Gewalttätigkeit abzunicken. Aber der Zusammenhang von Politik und Gewalt im Fall Gutenberg lässt nicht mehr zu, ein Phänomen wie Amok zu einer Geschichte von Outsidern zu machen.Amokschützen sind auch keine Dämonen, Todesengel, Monster. Sie kommen nicht von oben oder von außerhalb. Sie sind absolute Insider. Sie hocken im Herzen unserer Gesellschaft, vor ihren schnellen Computern. Robert Steinhäuser aus Erfurt, Bastian Bosse aus Emsdetten, Tim Kretschmer aus Winnenden sind Kinder des Wohlstands: mit nagelneuen Autos vor der Tür, mit gut gefülltem Konto oder Maisonette-Wohnung im Reihenhaus der Eltern. Sie wachsen in Familien auf, in denen doch irgendwas nicht stimmen muss. In die schießen sie nicht, stattdessen werden ihre Todesauftritte zur Operation am politisch blinden Herzen der Gesellschaft.Die Jungs sprechen nicht, sondern halten mit ihren Knarren in die Tabus von Gesellschaft hinein. Woher sie die kennen? Aus ihrer eigenen Not. Und das Töten? Es garantiert ihnen ein Maximum an Resonanz. Sie suchen den extremen Schauplatz, um sich endlich zu spüren, um ihr Leben, das bisher ohne jede Resonanz verlaufen war, wenigstens einmal verlassen zu können. Bis sie losgehen, um zu morden, sind sie auf niemanden getroffen, der sie hätte halten können. Amok ist ein Echo-Phänomen. Wo sonst kreuzen sich Wirkliches und Unwirkliches so dicht wie beim Töten?Nirgendwo wurde das deutlicher als in der Columbine High School, Littleton, Colorado. Columbine ist ein Synonym, ein Symbol, das Modell. Und es ist die Geschichte von Eric Harris, 18, und Dylan Klebold, 17. Von zwei weißen Schülern, die am 20. April 1999 mit halbautomatischen Waffen bewaffnet, mit Schrotflinten, über 900 Schuss Munition und Bomben in ihre Schule gingen, um das „System Columbine“ zu zerstören.Dieses System hatte sie gedemütigt und schikaniert, wie sie fanden. Jener 20. April war über ein Jahr lang präzise vorbereitet worden und sollte ihr Tag der Abrechnung werden. „Unsere Aktion ist ein Zwei-Mann-Krieg gegen alle anderen“, heißt es in einem ihrer Videos vom 11. April 1999. Harris und Klebold nannten ihren Todesgang „das kleine Jüngste Gericht“, mit dem sie „berühmt werden würden, zu Superstars, mit Kultgefolgschaften“. Er endete mit zwölf ermordeten Schülern und einem erschossenen Lehrer, 24 Verwundeten und zwei toten Amokläufern.Das Ganze war als Superlativ gedacht, als ein Einbrennen ins globale Dunkel-Gedächtnis. Es gelang. Columbine wurde zum Referenzsystem für eine neue Schule des Tötens, die seit dem Einbruch der Neuen Medien mehr und mehr an Dynamik gewann. Wodurch? Erstmals gab es ein totalitäres Live-Moment, ein Video, das die Täter im Schulbistro zeigt, wie sie losgehen, um zu morden. Erstmals wollten Harris und Klebold Bomben einsetzen. Erstmals sah man ein Duo, das schoss. Erstmals zeigte sich die neue Destruktionsschule in ihrer Ästhetik: schwarze Wollmaske, schwarze Stiefel, schwarze Klamotten, schwarze Fingerhandschuhe. Amok war ab da nicht mehr der Todeslauf eines Einzelnen, sondern wurde zu einem weltweiten Handlungsmodell.Mittlerweile gibt es ein Top-Amok-Ranking im Internet, das sich je nach Aktualität verschiebt. Man kann sich einen Amoklauf-Simulator als kostenloses Download herunterladen. Sein Prototyp: Columbine. Auf der gelöschten PC-Festplatte von Robert Steinhäusers Vaters fand die Polizei eine Datei mit Videofotos des Columbine-Amoklaufs. Steinhäuser Junior wusste alles über die beiden aus Colorado.Was die modernen Krieger mit ihren Tötungsorgien verhandeln, hat vor allem in Deutschland noch immer etwas Transgenerationelles. Die politisch extremen Aufräumer, rechts wie links, die die Weimarer Republik in Gewalt untergehen ließen – die Großväter und Urgroßväter – sind für diese Jungs wichtige Identifikationsfiguren. Da ist etwas unaufgelöst geblieben. Einerseits holen sie sich per Computer die Geschichte als Steinbruch nach Hause und spielen mit ihr als weiträumigem Basisraum, um sich für den eigenen Krieg aufzumunitionieren. Andererseits verharren sie in diesem virtuellen Spiel als Kriegs-Container unbewusst im Befehlsnotstand und verharren in Abwehrkämpfen. Eine Container-Rolle deshalb, ein Funktionssystem, bei dem sie mit ihren Rest-Emotionen vor allem Halt bei ihren Großvätern suchen.Was sie dabei im Internet lernen? Es ist alles ein Spiel: anonym, beliebig, nahtlos, schnell. Selbst das Töten. Zwischendurch müssen sie nur halbwegs mit ihren fragmentierten Realitäten klarkommen. Schule, Freunde, Familie, der reale Schießplatz.Auffällig ist, dass Amoktäter in ihrer Schulzeit oft einen intensiven Bezug zum Theater haben, als Texter, Spieler, Lichtmeister oder Kulissenbauer. Sie schlüpfen in Rollen, Masken, Verstellungen, ästhetische Verstecke, neue Passformen, holen sich von außen einen anderen Körper, um mittels unterschiedlicher Rollenwechsel in ihre Haut zu finden. Sie brauchen das, um die innere Leere zu überspielen und die eigenen Ängste im Zaum zu halten.An einem kalten TagNeben dieser Theaterwelt fasziniert die späteren Amoktäter die der Ego-Shooter. Der virtuelle Spielekosmos macht es offenbar möglich, an die eigene, emotionale Welt anzuknüpfen: Die Welt ist im Naturzustand, das Leben eine Form von Krieg – unzumutbar, bedrohlich, unberechenbar, kurzum, kaum zu schaffen. Der Ego-Shooter suggeriert: Komm, mach dein Spiel, bleib im Team, sei unser Mitspieler, nur zusammen erfüllen wir die Mission.Die Simulationswelt der Ballerspiele simuliert die Realität der Jugendlichen. Das Spiel verhilft ihnen, in der Pseudowelt des Virtuellen zu bestehen, nicht selten sogar einen eigenen Charakter zu entwickeln. Einen Schutzraum für die fragile Teenagerpsyche? Erfolgserlebnisse durch die Zeit im Virtuellen erlebt diese Spielgeneration als ein Stück Landgewinn im Hinblick auf sich selbst. Es ist ein Gegenland zu Frust, Druck, Stress und der bestimmenden Angst, in der realen Welt aus jeder Bindung zu fallen. Warum also nicht spielen?Der Mittwoch, 11. März 2009, war ein kalter Tag in Winnenden. Genauso wie in Erfurt vor sieben Jahren. Nur um die zehn Grad. Tim Kretschmer, 17 Jahre alt, verlässt kurz vor 9 Uhr das elterliche Haus. In seinem schwarzen Rucksack, Marke 4You, befinden sich an dem Tag keine Schulsachen, sondern jede Menge Munition, ein Messer und eine Beretta 92 FS, die er sich am Morgen aus dem Wäscheschrank des Vaters geholt hat.Der Bus Linie 334, der von Weiler zum Stein ins fünf Kilometer entfernte Winnenden fährt, ist pünktlich. Zehn Minuten später steigt der Teenager an der Ringstraße aus. Von dort ist es ein Katzensprung zur Paulinenstraße. Einmal um die Ecke. Das Panorama, das sich von dort aus eröffnet, gleicht einer stark zerdehnten, riesigen Vergesellschaftungskuhle. Ein Stück in Beton gegossene Bundesrepublik.Rechter Hand zunächst das Schloss, später Kaserne, ab 1834 dann „Heil- und Pflegeanstalt Winnenthal“. Für die Württemberger war und ist dieser Ort schlicht nur die „Klapse“, mit dem Serienmörder Ernst Wagner als wohl bekanntestem Patienten. Wagner hatte 1913 erst seine Familie und anschließend 14 junge Männer erschossen. „Von allen Erzeugnissen ist ausgerechnet der Mensch das schlechteste“, schrieb er einst. Der Winnender Schüler Tim Kretschmer hatte sich mit ihm beschäftigt.Hinter dem heutigen „Zentrum für Psychiatrie“ liegen zwei große Bildungszentren, in denen mehr als 3.000 Schüler aus der Gegend von der Grundschule bis zum Gymnasium alle Schulformen durchlaufen. Dazu noch mehrere Berufsbildungswerke. Links am Hang steht eine Fünfziger-Jahre-Reihenhaussiedlung mit Hölderlinstraße und Schubartweg. Auf der rechten Seite der Senke erstreckt sich ein großes Sportzentrum mit Herbert-Winter-Stadion, SV Winnenden e. V. und etlichen Fußballplätzen, Gymnastikhallen und Kleinspielfeldern.Am Ausgang der Mulde liegt das weithin beliebte Wunnebad, ein Schwimm-, Sauna- und Wellnesstempel. Links am Ende der Straße, gegenüber vom Tennisclub, hat sich die Firma „Bestattungen Schott“ angesiedelt. Dazu Fahrradwege, grüne Laternen, ein paar kleinere Firmen. Links oben auf der Höhe ein Weinberg. Das Ensemble wirkt ineinandergeschoben. Alles ist dicht hier. Als sei es dazu da, einmal die große Runde zu machen. Als könne man in dieser Kuhle einmal im Schnelldurchlauf alle Sozialisationsstationen durchlaufen. Die Albertville-Realschule liegt in der Kernsohle der Senke, genau in der Mitte.Von der Bushaltestelle bis ins Zentrum der Mulde sind es nur wenige Meter. Geht man zügig, braucht man 90 Sekunden. Tim Kretschmer läuft am Morgen des 11. März 2009 am Büchner-Gymnasium, links von der Straße, vorbei, in dem seine Schwester gerade Unterricht hat. Dann betritt er die Albertville-Realschule durch eine Nebentür und geht zur Jungstoilette. Dort baut er sich zum schwarzen Krieger um. Die Tötungsszene läuft.Der blonde 17-Jährige war in einem Waffenhaushalt groß geworden. Die Ermittlungen ergaben später, dass der Vater im Besitz von neun Waffenbesitzkarten war, auf denen vier Revolver, eine Pistole, neun Gewehre und ein Gewehrlauf eingetragen waren. Dazu kamen neun erlaubnisfreie Kurzwaffen und eine erlaubnisfreie Langwaffe. „Bei den Durchsuchungen im Haus wurden 5441 Patronen verschiedener Kaliber vorgefunden und sichergestellt“, heißt es in den Akten.Neben dem Waffenarsenal war das Haus der Kretschmers über die Jahre aufwändig gesichert worden, mit elektronischem Zugangscode, Bewegungsmeldern und Alarmanlage. Waffen und Schmuck lagen großteils in Panzerschränken. Auch Sohn und Tochter hatten in ihren Zimmern Tresore. Neun Waffenbesitzkarten? 5441 Patronen? Zugangscode? Bewegungsmelder? Panzerschränke? Die Kindheit eines Jungen in einer Festung und psychisch im Krieg?Das ganze Pädagogik-Bla-BlaDie Beretta im Hosenbund, öffnet Tim Kretschmer kurz nach 9.30 Uhr die Tür der Jungstoilette im Erdgeschoss, dreht nach links und läuft über die Haupttreppe ins Obergeschoss. Er will in den Raum 305, sein ehemaliges Klassenzimmer. Innerhalb von sieben Minuten tötet er acht Schülerinnen, einen Schüler, zwei Referendarinnen, eine Lehrerin. Auf der Flucht noch drei weitere Menschen, am Ende sich selbst. 113 leere Patronenhülsen bleiben an diesem Tag zurück. Im Inneren des schwarzen Rucksacks befand sich noch mehr Munition.Winnenden sollte zum Paradigmenwechsel in Sachen Aufarbeitung von Amokläufen im Land werden. Alles musste auf den Tisch: Fachwissen, Fakten, die Stimmen der Betroffenen. Es ging um größtmögliche Transparenz und Handlungsempfehlungen. Alle waren sich einig: Ein Amoklauf wie dieser durfte sich nicht wiederholen.Mit Winnenden hatte Erfurt seinen Symbolstatus verloren. Amok eine gesellschaftliche Realität? Nein, Todesauftritte wie in Erfurt und Winnenden sind noch immer Extremtaten. Und dennoch: Zehn Jahre später zeigt sich wie im Fall des Norwegers Anders Breivik, dass die jungen Schützen mittlerweile in der Lage sind, ihre Negationsprogramme im Inneren zu halten und über den Anschlag hinaus zu verlängern. Ein herber Paradigmenwechsel.Zehn Jahre seit Erfurt bedeuten: zehn Jahre effizientes Training an der virtuellen und realen Waffe. Die jungen Täter leben mit ihren abstrakten Internet-Vätern, unerreichbar und abgekoppelt von dem, was man Familienleben nennt. Sie leben verpanzert gegen ihre Umwelt, haben allesamt einen hohen IQ, sind aber schulische Minderleister. Sie haben zwar Bekannte, aber keine echten Freunde, und da diese Jungs an ihren Schulen gemobbt werden, koppeln sie sich irgendwann ab, driften weg ins Internet, in ihre Schläferepisode.Lehrer und Schulpsychologen sprechen alarmiert von den veränderten Psychen ihrer Schüler. Durch Spiele wie World of Warcraft sei eine ganze Generation am Kippen, weil suchtkrank. Aufgrund des virtuellen Dauerkonsums seien tausende Todesszenarien in den Köpfen ihrer Schüler, sagen sie. Gewalt werde immer jünger. Dabei gehe es nicht darum, den Computer abzuschaffen, betonen die Lehrer, sondern darum, Empathie neu zu erlernen, regelrecht zu trainieren. Und darum zu begreifen, dass man mit dem Phänomen Amok nicht mehr wie vor zehn Jahren umgehen könne. Eigentlich geht es um Realitätssicherung und zwar dringend.Susanna H. war Lehrerin am Erfurter Gutenberg-Gymnasium und hat mittlerweile eine Moderationsausbildung und ein Deeskalationstraining absolviert. Sie resümiert zehn Jahre nach dem 26. April 2002: „Demokratische Schule, freie Persönlichkeit, umfassende Bildung. Reformen über Reformen. Das ganze Pädagogik-Bla-Bla. Nee, nicht mehr mit mir. Mich interessiert nur noch, was am Ende rauskommt, was also die Inhalte sind, und wo der Schüler sein Problem hat. Das hätte ich vor zehn Jahren sicher nicht gesagt, aber heute denke ich: Den Kindern wird von vornherein zu viel abgenommen. Sie sind trainiert darauf zu insistieren, bestehen auf ihren Wünschen und bekommen sie auch erfüllt, ohne jede Bedingung. Computer, Playstation, Gameboy, iPhone – alles geht. Das Leben eines Kindes definiert sich von Beginn an übers Materielle. Das ist so. Es hat keinen Sinn, das zu leugnen. Wir müssen uns dem stellen. In meinen Augen ist Schule nichts anderes als eine Frage der Konsequenz. Natürlich geht es um Räume für sie, aber auch um Grenzen und darum, Schülern Verantwortung abzuverlangen.“ – „Ist das anders als vor zehn Jahren?“ – „Mal so gesagt: Unterricht war immer da, aber heute kommt das Soziale dazu. Das heißt, der Prozentsatz von Schülern, die mit sich, den Eltern und der Welt Probleme haben, ist enorm gestiegen. Wir haben individuell schwierigere, ich sage, verhaltensoriginelle Kinder. Dafür brauchen wir Zeit. Das ist, was uns fehlt. Das Schlimmste aber ist: Wir haben keinerlei Erfahrungsaustausch dazu. Auch nicht darüber, dass wir viel mehr Mädchen am Gymnasium haben und gleichzeitig wissen, dass Jungs in der Schule später dran sind, das sie sich später entwickeln. Das ist ein Konflikt.“Susanne H. berichtet von taktierenden Schülern, Cyber-Mobbing. Kompetenzbögen und der mangelnden Fähigkeit von Lehrern, auf den Zeitgeist zu reagieren. „Es bräuchte viel mehr systemische Beratung. Klar, es gibt viele gute Projekte und Initiativen, aber nichts wird koordiniert. Alle werkeln so rum. Am großen Schulschiff kann jeder ein bisschen mitbasteln. Eine wirkliche Konsequenz auf das Gutenberg-Desaster? Nein, die sehe ich nicht.“Auch in Winnenden scheint trotz vorbildlicher Expertenrunden, trotz vielen Diskussionen, Präventionskonzepten und Handlungsempfehlungen Ernüchterung eingetreten. Die Herzfrage bleibt weiterhin offen: Was ist mit unseren Kindern? Was brauchen sie, damit sie Gewalt nicht brauchen?Einige Angehörige verweisen darauf, dass man jetzt mehr über den Amok-Komplex weiß, über das Profil der Täter, über überforderte Schüler, Eltern, Lehrer und auch eloquenter darüber sprechen könne. Sicher, passiert sei einiges: Deutsche Schulen sind heute alle auf Flucht gebaut. Die Türknäufe sind nicht mehr außen, sondern innen. Die Polizei flutet im Amokfall die Schulen mit neuer Strategie, auch die Rettungsketten sind professioneller geworden. Das alles sind sinnvolle Maßnahmen.Aber ist es genug, angesichts der spürbaren Bürokratisierung des Amokphänomens und einer sich ausprägenden Angstkultur im Land? Warum fällt uns nur so verdammt wenig ein, wenn es darum geht, unsere Kinder zu schützen?(Foto: Oliver Lang/DDP)