Es muss um den siebten Tag herum gewesen sein, als die Buchstaben vor meinen Augen plötzlich verschwammen. S o -- n n e n, Vita --- mine. Zwei Anführungszeichen tanzten über die Seite, als hätte der Bass aus meinen Boxen sie angesteckt. Die Toten Hosen gaben ihr Bestes. Da türmte sich auch schon das fein drapierte Spaghetti-Nest, dekoriert mit zwei aparten Orangen-Scheibchen, auf der Seite vor meiner Nase auf. Wurde größer und größer, bis es im Herzen des Nudelstrudels einen Tunnel freigab. Ich überlegte nicht lange. Lief einfach hinein. Und fühlte mich plötzlich ganz leicht. Der Bauch? Meine Güte, mein Bauch war weg! Meine Beine liefen, ich sah ihnen zu, darüber war ein Loch, die Arme baumelten daneben.
Politik : „Unten Kita, oben Puff“
Unsere Autorin hat vier Wochen lang nur Springer-Blätter gelesen
Von
Susanne Lang
Mein Bauch? Er war noch da! Dann ein lautes Kratzen. Und ein Rascheln. Ich schreckte hoch. Die Bild der Frau lag auf dem Boden. Mein Bauch? Zum Glück, er war noch da. Das laute Kratzen kam vom Plattenspieler. Die nachgepresste erste Single der Toten Hosen, die ich sofort nach Erwerb des Rolling Stones vom Cover gerissen und aufgelegt hatte, war zu Ende. Auch die Buchstaben auf der Magazinseite standen wieder still. Die neue „Bauch-weg-Diät“ erklärte mir, wie ich mit „Sonnen“-Vitaminen schlank würde, und die „Spaghetti mit scharfer Tomaten-Orangen-Salsa“ hatten wieder ihre unver-zerrte Größe: ein Hauch von Nudel, platziert neben allerlei Gedöns. Ich musste kurz eingenickt sein. Hatte nur geträumt.Schade eigentlich.Dieses Springerland mit den wunderlichen Tunnelzugängen hatte gerade begonnen, Spaß zu machen. Mehr Spaß jedenfalls als das reale, das ich mir nun seit einer Woche intensiv angesehen hatte (mit Ausnahme des großen 60.000 Euro Cash-Millionen-BINGOS der Bild selbstverständlich!).Vielleicht aber ist Spaß eine eher unpassende Kategorie in der Welt, wie sie Springer sieht. Ich war mir da noch nicht so sicher. Hatte jedoch einen handfesten Hinweis vom Welt-Glossisten erhalten: „Nix Witz, der kriegz auf Mütz“. Was angesichts der ernsten Probleme dieser Zeit ja auch seine Berechtigung haben könnte.Ich für meinen Teil hatte mittlerweile ein schlechtes Gewissen, dass ich so einige brisante Fragen des modernen Lebens bislang ausgeblendet hatte. Als da wären: „Zu jung für ein neues Gesicht? Schönheitsoperationen für Minderjährige“ (Berliner Morgenpost). Oder auch: „Wann sind wir zu alt zum Autofahren?: Test für Senioren am Steuer“ (auch da). Oder die hier: „Herr Steinmeier, was motiviert Sie dazu, auf Alkohol zu verzichten?“ (Die Welt). Ebenso: „Warum bekommt Margot Honecker 1.500 Euro Rente?“ (Bild). Oder oups: „So, so, Sie dachten Sie sind smart?“ (Computer Bild, online). Aber hey: „Saturn: Wie gut sind die aktuellen Angebote? Computer Bild macht für Sie den Preisvergleich“. Und, Hammer: „Unten Kita, oben Puff“ (Bild).Die größte Erkenntnis verdanke ich einer gewissen Irene Kemper aus Wuppertal: „Mir ist ein Becher Sahne im Auto ausgelaufen. Trotz gründlichen Putzens riecht’s unerträglich. Was hilft?“ (Autobild).Okay, kleiner Witz, sorry. Die Sahne beschäftigte selbstverständlich die Frauen in Bild der Frau, die unter der Rubrik „Frauen helfen Frauen“ Female Bonding betreiben. Da überraschte es mich selbstverständlich gar nicht mehr, einige Seiten weiter Ursula von der Leyen anzutreffen, die während einer von Springer ausgelobten „Nacht der starken Frauen“ männliche Machtspiele mit „einem leisen Lächeln“ kommentieren durfte.Huch, mein Kopf hat genickt!Huch, war das etwa ein Nicken? Es war ein Nicken! Mein Kopf hatte doch tatsächlich genickt. Ganz von selbst. Naja. Es stimmt doch auch. Alles. Nach 328 Seiten Bild der Frau-Lektüre war es plötzlich wieder ganz unkompliziert, eine Frau zu sein. Was nun nicht gleichzusetzen wäre mit mühelos: Diäten, Training, emanzipatorische und politische Machtansprüche, Käsekuchenzum-Dahinschmelzen-Backkünste, das alles wurde mir schon abverlangt. Dafür saßen drüben, auf der anderen Seite des Tisches, schön abgegrenzt, all die Männer, inklusive meines eigenen, mit dem ich mich dann nach seiner Lektüre von Sport Bild über unsere Finanzen streiten könnte, was laut Bild der Frau wohl sehr viele Paare tun.Und eigentlich, das muss ich sagen, muss doch gesagt werden: Diese Welt gefiel mir langsam sehr gut. In ihrer Klarheit. Ihrer Übersichtlichkeit. Ihrer unhinterfragten Sinnhaftigkeit in dieser von Zweifeln zerfressenen modernen Welt. Mit all ihren Protagonisten, denen ich in der überregionalen Welt, der Bild, der Berliner Morgenpost, den bereits erwähnten Magazinen plus GOLFMagazin sowie Aero International und Mein Pferd begegnete: Die Guten (Israel, USA, die Bundesregierung, Macht, der kleine Bürger und Verbraucher, Geld, Tiere). Die Bösen (Terror, linke Chaoten, Gegenmacht, die Feinde des kleinen Bürgers und Verbrauchers, kein Geld, hässliche Tiere). Besonders gefreut habe ich mich über eine ganz neue Persönlichkeit, die mir in einer eher aufgeregten Phase während meiner Lektüre begegnete: „... Grass beziehungsweise Sarrazin – fassen wir sie als Grassarrazin zusammen.“ (Die Welt). Yeah. Ansonsten zauberte ein gewisser Kasupke tagtäglich dieses Ding namens Schmunzeln auf meine Lippen: „... denn die kalte Bude, weil unser Hausbesitza keen Öl bestellt hat. Ick hab da schon dreima’ anjerufen, wann endlich jeliefert wird. Bei die Antwort werd’n se imma mediterran lässlich: Heute, morjen, wer weeß, man wird seh’n.“ Sie können sich vielleicht denken, wie dat Janze ausgeht: Er zahlt seine Miete mediterran lässlich. Ach ja. Alles war so gut! Bis ich den einen entscheidenden Fehler machte. Ich griff zur BamS.Der entscheidende Fehler!Und herrje, da war er wieder, der Zweifel. "Was macht denn dieses großartige Gespräch mit Paul Weller hier?", dachte ich. BamS: „Einst war Ihr Hauptantrieb der Hass aufs Establishment. Haben Sie Ihren Frieden gemacht?“ Paul Weller: „Kein bisschen. An der ganzen Scheiße hat sich ja nichts geändert, aber die Leute haben sich geändert.“Wow.Das hätte ich mir auch nicht schöner träumen können. Langsam ahnte ich, was Die Welt (?) zu ihrem Loblied auf Albert Camus (!) bewegt haben muss: „Noch stärker als zur Zeit von Camus sind Klarheit, Widerspruch, Ironie und Eigensinn vom Journalisten gefordert.“P.S.: „Kein Tempolimit für den Uhu“ (Die Welt)!