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Kultur – Eine neue Geschichte der Welt

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Martin Puchner

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432 Seiten

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Kultur : Das Tor ins Jenseits

Wieder eine neue Funktion von Facebook: Eine Fanpage dient Selbstdarstellern nun als virtuelles Kondolenzbuch für einen Verstorbenen. Zu lesen sind emotionale Abgründe

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Der Umgang mit dem Tod fällt schwer. Synonyme, abgemilderte Bezeichnungen, aber auch den Glauben an ein „Danach“ haben wir konstruiert, um dem Diesseits so unerschrocken und angstfrei wie möglich zu begegnen. Wenn wirklich jemand stirbt, hilft keine Verschönerung und auch kein buddhistisches „Nirvana-Gequatsche“ mehr. Der Tod ist hart. Kalt und hart.

Vor 10 Tagen starb Julius Niemann*, 26 Jahre alt. Der, der die Fashion Week noch mit Mercedes Benz Shuttle Bus, First Row und Aftershow-Bändchen ausgekostet hat, inszeniert im Anschluss seinen Freitod als Performance. Das letzte hochgeladene Foto, ein gespiegeltes Selbstportrait mit dem I-Phone – Überschrift: „I committed suicide.

So durften alle, seine 348 Facebook-Freunde, am Sonntag den mentalen Todeskampf miterleben. Von „Julius Niemann wurde Fan von Gott“ um 17:50 Uhr, bis zu dem Status „der Göttlichkeit so nahe“. Das einzige, was zur endgültigen
Verkünstelung und Heroisierung des Todes fehlte, war das hochgeladene „Bye Bye-Bild“ in den letzten Lebenszügen. Was seither folgt ist Tod 2.0. Facebook: das Tor ins Jenseits.

Der eiserne Vorhang der Intimität ist schon vor über zwei Jahren gefallen. Seitdem gewinnt Facebook nicht nur an Anhängern und Mitkomplizen, sondern auch an Features. Wenn Geburten, Trennungen oder Todesfälle zum digitalen Ereignis werden und der News Feed besser ist als jede Bild-Schlagzeile, dann ist etwas passiert. Dann müssen wir uns über die Entmenschlichung und die Objektivierung jedes Einzelnen gewahr werden.

Hunderte von „Julius'“ Online-Freunden haben seitdem auf seinem Facebook-Profil einen oder mehrere Kommentare hinterlassen, mit der absurden Idee, Julius checkte das alles auf Wolke 7 und freue sich. Eine Fanpage ist entstanden – das digitale Kondolenzbuch. Hier kann jetzt jeder, der ihm mal an einer roten Ampel begegnet ist, Bilder hochladen, die beweisen dem „echten“ Toten nahe gewesen zu sein, als er noch lebte.

Ja ja, wir durften ihm ihn die Augen schauen. Hinterlassen noch schnell ein R.I.P. – drehen uns um und machen weiter. Weiter mit dem Leben und freuen uns, wenn jemand auf unseren hinterlassenen Kommentar eine Antwort postet. Ein Fotograf schreibt auf seiner Fanpage: „Wir kannten uns nur flüchtig ... warst mir aber immer ein wunderbares Fotomotiv.“ War er das? Na immerhin. Die Hülle Facebook: seelenlos, aber dafür für immer und ewig im Netz. Der Vater kommentiert den Trauer-Post der Schwester. Ein anderer reminiziert an den letzten schönen Moment: „In trauriger Erinnerung an eine letzte Fashion Week-Shuttle-Service-Fahrt von der Premium zur Fashion Week am Freitag.“ Ein Bekannter ermahnt uns alle auf der Fanpage: „...ich hoffe, die Menschen in dieser Stadt haben verstanden, welch ein Opfer du gebracht hast.“
Das haben sie. Natürlich.

Julius der Märtyrer. Gestorben für uns alle. Jesus Christ – We love You!

Der Absurdität sind scheinbar keine Grenzen gesetzt. Mittlerweile gibt es 360 „Fans“, sowie Videos und Fotos vom Fantreffen am vergangenen Samstag. Ein Spendenkonto wurde eingerichtet. Seit der Veröffentlichung der Bankdaten auf der Seite, können seine Freunde Julius' Beerdigung finanziell unterstützen. Jeden Morgen postet eines seiner Familienmitglieder einen persönlichen Gruß an Julius. Sei es ein lachender Flipper, der „Julius, ich liebe Dich“ jappst, wenn man auf
„Play“ drückt oder ein liebevolles „Guten Morgen, Juli“ vom Bruder. Sein Profil wird zum letzten Überlebenden, der ausgestopfte Julius. Stumm, aber immer erreichbar.

Wem jetzt kein kalter Schauer über den Rücken läuft, der solle sich ausmalen, alle hätten ihr tiefes Bedauern und ihre tägliche Trauer um diesen Verlust als SMS versendet, in der pervertierten Vorstellung, er könne sein I-Phone mit ins Jenseits
nehmen. Der Unterschied ist nur, dass mich keiner dabei sieht. Hier aber guckt das große Auge Netzwerk zu. Hier darf ich stolz behaupten: „Ich kannte ihn – aber lebe noch!“ Umso näher ich dem Tod bin, desto weiter bin ich auch von ihm entfernt.
Schaue ich ihm ins Gesicht, weiß ich, dass ich lebe!

* alle Namen von der Redaktion geändert

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