Der Konsum von "Fast Sex" im Internet schlägt auf die Psyche, gerade so wie Fast Food sich auf den Körper auswirkt. Was wir brauchen, ist eine neue sexuelle Befreiung
Internet-Sex ist ungesund! – Diese These klingt in der sogenannten modernen Welt absurd und abwegig. Ein Mensch, der Pornos im Internet schaut, gilt als normal. Dabei ist es unerheblich, welches Ausmaß der Konsum annimmt. Oder welche Praktiken in den Filmen dargestellt werden. Pornografie ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Pornografie-Kritik gilt als gestrig. Diese Sichtweise basiert auf zwei grundsätzlichen Annahmen:
1. Der Mensch ist ein Triebwesen, er "braucht" das einfach. Und es ist eine große Befreiung, das endlich in allen Facetten ausleben zu können.
2. Das sogenannte "Appetitmachen" in der Cyberwelt steht in keiner Beziehung zum "Zuhauseessen". Pornokonsum und gelebte sexuelle Beziehung haben keine Verbindung miteinander, sie sind sauber getrennt
d sauber getrennt.Oder?Für die britische Feministin Natasha Walter ist diese Bagatellisierung und Normalisierung des Konsums von Internetpornografie eine Gefahr – ein Angriff auf die Würde der Frauen und ein Angriff auf tatsächliche Intimität in sexuellen Beziehungen. Laut ihrer Einschätzung "ist es nicht von der Hand zu weisen, dass der übermäßige Konsum von Pornographie tatsächlich viele erotische Beziehungen bedroht". Überdramatisierung? Hysterie? Zwei Vokabeln, die schnell zur Hand sind, wenn jemand die Harmlosigkeit von Internet-Sex infrage stellt. Und dann auch noch eine Feministin!Die therapeutische PraxisErotische Beziehungen sind das Spezialgebiet von Hannie van Rijsingen. Die Sexualtherapeutin behandelt seit dem Erscheinen ihres Buches Seks, alles of niets (erschienen auf Niederländisch) viele Paare, in denen Männer ein zweites Sexualleben im Internet begonnen haben. Die Männer kommen freiwillig in ihre Praxis, oder werden von ihren Frauen "geschickt" – van Rijsingen gilt als Expertin auf diesem sehr delikaten Gebiet. Dabei wollte sie ursprünglich etwas ganz anderes wissen: Ihr Verlag hatte sie gebeten, ein Buch über Männer zu schreiben, die keine Lust mehr auf ihre Partnerin haben.Sie fand schnell heraus, dass ein Großteil dieser Männer nur auf diese spezielle Partnerin keine Lust mehr hatten – im Geheimen aber ein Sexleben führten: mit dem Computer. Van Rijsingen fiel es wie Schuppen von den Augen: "Das hatte ich früher nicht gesehen!", sagt sie heute. "Das kommt häufig vor." Dabei ist van Rijsingen weit entfernt davon, die Männer an den Pranger zu stellen. Ihr geht es um Veränderung und um Hilfe. Unter ihrer Leitung trifft sich eine Gruppe Männer, um in einem geschützten Raum ihre Erfahrungen auszutauschen. Alle sind internetsexsüchtig.Van Rijsingen hat aus ihren Gesprächen zwei wesentliche Erkenntnisse mitgenommen:1. Jeder der Männer, die übermäßig häufig Pornografie im Internet konsumieren (also in der Regel täglich mehrere Stunden), tat dies als Flucht. Sie alle flohen vor Schwierigkeiten und Stress am Arbeitsplatz oder in der Beziehung.2. Jeder dieser Männer trug die Bilder, die sich in seinem Kopf festsetzten, in die Sexualbeziehung mit der Partnerin hinein. Rief sie ab, wenn er "leisten" sollte – brauchte sie, um leisten zu können. "Der Kontakt mit der Partnerin geht verloren", stellt die Therapeutin fest, "denn man hat nun Kontakt mit den Bildern. Zwei Personen sind damit beschäftigt, einen Orgasmus zu erreichen, aber der Kontakt zwischen ihnen fehlt." Der Sex wird zum Stress-Ventil. Um ein erfülltes körperliches erleben mit der Partnerin geht es kaum noch. Die Männer versuchen ein emotionales Loch zu füllen.Liebevolle Sexualität statt McSexMyrthe Hilkens ist eine junge und bekannte Musikjournalistin. Sie schrieb mit McSex – Die Pornofizierung unserer Gesellschaft eine Streitschrift gegen die Kontaklosigkeit, die Macht der Bilder und den bulimischen Konsum von Pornografie im Internet. Sie hat Männer interviewt, die ihr erzählten: "Seit ich 14 bin, kann ich mir nicht mehr ohne Porno einen runterholen." Oder: "Wenn ich zu Pornos masturbiere, hat das nichts mit Leidenschaft zu tun oder mit sexuellem Verlangen." Ähnlich wie die Männer in van Rijsingens Praxis bemerken sie, dass etwas nicht stimmt. Es fühlt sich verkehrt an. Sie spüren eine Leere.Hilkens betrachtet aber nicht nur die Männer. Einer von drei Besuchern von Sex-Websites ist heute eine Frau. In sexuell angehauchten Sex-Chatrooms sind zweimal mehr Frauen als Männer; 17 Prozent der Frauen sind pornografiesüchtig; und 13 Prozent der 9,4 Millionen Frauen, die Sex-Websites besuchen, tun dies während ihrer Arbeitszeit (Hilkens zitiert hier die Pornography Statistics). In Internetforen tauschen sich jetzt bereits Männer unter dem Betreff "Hilfe, meine Frau schaut Pornos" aus.Die Autorin geht noch einen Schritt weiter: sie wünscht sich mehr "gute Pornos". "Unvollkommenheiten, wahre Gefühle und echte Menschen" sind davon ein genauso wichtiger Bestandteil wie "Hängebrüste, Fettröllchen, Kondome, sogar Liebe". Solche Filme erleben eine Renaissance. Doch davon sind 99 Prozent der kostenlosen und schnell erklickten Angebote im Internet weit entfernt. Im Gegenteil: In der Welt, in der es "nichts nicht gibt", sind Schamhaare schon zur Rarität geworden.Wir brauchen eine neue Sexuelle Befreiung!Walter, van Rijsingen und Hilkens sind vielleicht die Sex-positivsten Menschen, die man lesen kann. Weder sind sie prüde noch hysterisch. Sie beschreiben eine gesellschaftliche Realität, die aus Sexualität eine Ware, ein Stress-Ventil gemacht hat, welche von Bildern dominiert ist – nicht von Kontakt, Liebe und Intimität. Was als Befreiung und Ermächtigung verkauft wird, ist nichts anderes als neue Fesseln. Fesseln, die mit der gegenseitigen Entfremdung der Menschen in ihren Paarbeziehungen einhergehen. So lautet denn der letzte Satz in Hilkens Buch: "Es ist, kurz gesagt, Zeit für eine neue sexuelle Revolution." Fangen wir an!Literatur:Myrthe HilkensMcSex. Die Pornofizierung der Gesellschaft Orlanda, Berlin, 2010Hannie van RijsingenUnsichtbare Affären. Per Mausklick zum Sexkick Orlanda, Berlin, 2010Natasha WalterLiving Dolls. Warum junge Frauen heute lieber schön als schlau sein wollen Krüger, Frankfurt am Main, 2011