Es regnet noch immer, doch die Luft ist mild. „Solange fünf zahlende Leute kommen, zeigen wir den Film“, sagt der Mann an der Kasse des Freiluftkinos in Berlin-Kreuzberg. Zwei Karten sind bisher verkauft. Auf der Wiese sind drei Reihen mit blauen Plastikstühlen aufgestellt, sie wirken verwaist. Hinter einem kleinen Fenster im Kunsthaus Bethanien sitzt der Filmvorführer wie in einem Schloss.
Jakob, ein deutscher Arabistikstudent, ist der dritte Zuschauer, der an diesem Montagabend kommt. Er interessiere sich für den Nahostkonflikt, sagt er. Eine Frau aus Baden-Baden ist angereist, weil sie so begeistert war vom Film Das Herz von Jenin, ein palästinensischer Vater spendet darin einer jüdischen Familie die Organe seines von Israelis getöteten Sohn
töteten Sohns.Nun also nochmal Versöhnung. Der Dokumentarfilm Nach der Stille ist auf Premierentour, an diesem Abend ist Station in Berlin. Jule Ott und Stephanie Bürger, die zwei Regisseurinnen, warten am Kinoeingang. Sie waren gerade beim Filmfest München und dem Fusion-Festival, die Säle seien „gerammelt voll“ gewesen. Nach einer Viertelstunde sind die Reihen auch in Berlin voller, der Moderator steht mit dem Team vor der Leinwand und stellt die israelische Protagonistin, Yael Chernobroda, vor. Man könne ihr hinterher noch Fragen stellen, sagt die Witwe des ermordeten Friedenskämpfers Dov Chernobroda. Der Film war ihre Idee.Kein VersöhnungsmärchenUnd er ist die erste eigene Produktion des Cinema Jenin. Vor einem Jahr konnte man die beiden Tübinger Filmstudentinnen dort noch im Schneideraum treffen.„Er war 24. Er sagte, er geht zur Arbeit. Dann haben wir ihn im Fernsehen gesehen.“ Das sind die Worte der palästinensischen Eltern. Dann beginnt eine Frau mit sanfter Stimme, aus einem Brief zu lesen, den sie an Regisseur Marcus Vetter, der das Kino von Jenin wieder aufgebaut hatte, schrieb: „Ich bin Yael, die Witwe von Dov Chernobroda, ich erzähle ihnen meine Geschichte.“Ihr Mann war ein Architekt – und ein Aktivist, der für den Frieden zwischen Israelis und Palästinensern kämpfte. Er starb an einem Sonntagnachmittag, im März 2002, mit 14 anderen Menschen in einem Restaurant in Haifa. Der Selbstmordattentäter war ein 24-jährige Palästinenser. Shadi Tobassi kam aus Jenin im Westjordanland, die Stadt war damals eine Hochburg der Terroristen, und nirgends wehrte man sich erbitterter gegen die israelische Besatzung. Kurz nach Tobassis Anschlag walzten israelische Panzer das Jeniner Flüchtlingscamp nieder.Acht Jahre später kommt es zu einer Begegnung zwischen der Witwe und der Familie des Attentäters. Einfühlsam begleitet die Kamera beide Seiten bei dem langwierigen Prozess, der mit einer Idee beginnt und immer wieder Zweifel aufkommen. Der Film betreibt Spurensuche, aber er trennt nicht in Gut und Böse, er wertet nicht und scheut keine Widersprüche. Er hat mehr Fragen als Antworten.Zakaria Zbeidy, der mal der Kopf der Al-Aksa-Brigaden in Jenin war und selber auf der Todesliste der israelischen Armee stand, kannte den Attentäter. Shadi Tobassi hat seinen besten Freund durch israelische Militäranschläge verloren, Zbeidys Mutter hatte zuvor ein Scharfschütze getötet. „Was denkt ihr, wie wir auf so etwas reagieren?“Rund 30 Leute debattieren beim BierNormalisierung? Dialog? Das Cinema Jenin will ihn befördern, aber das verläuft nicht so reibungslos, wie sich das die Deutschen erträumt hatten. „Wir haben die Krankheit der Besatzung in unseren Knochen: Wie soll man da von Alltag reden?“, rief Juliano Mer-Khamis, der vor drei Monaten ermordete Leiter des Freedom Theater im Flüchtlingscamp.Diese andere Seite wird im Film zumindest angedeutet: Ein Teil von Yaels Familie war gegen ihren Besuch in Jenin, das wollten die Familienmitglieder aber nicht vor der Kamera sagen. Und auch auf Jeniner Seite gab es Vorbehalte. Dass Yael sich trotzdem auf den Weg gemacht hat, ist eine große Ausnahme im israelisch-palästinensischen Alltag. Als der Abspann läuft, wird erst geklatscht – dann geschwiegen.Hinterher stehen rund 30 Leute beim Bier zusammen, debattieren, fallen sich in die Arme. Es sind einige Palästinenser gekommen. Ismael Khatib, der Protagonist aus Das Herz von Jenin raucht, er mag den Film. Es sei nur ein erster Schritt, „aber einer muss ihn eben gehen“. Neben ihm steht Ma’moun Kanan, er war im Cinema Jenin Filmemacher und absolviert nun ein Artist-in-Residence-Programm in Berlin. Er wolle lernen, wie die Deutschen Kino machen, sagt er. Yael Chernobroda redet mit einem älteren Herrn. „Ich war in Israel, im Feindesland“, erzählt er. „Nach Palästina muss ich aber nicht. Ich bin Iraker und weiß, wie es in Kriegsgebieten aussieht.“ Es ist der Schriftsteller Najem Wali, er hat das Israel-Buch Reise in das Herz des Feindes geschrieben. Hinter ihm berichtet eine Mittvierzigerin von ihrem Besuch vergangenen Sommer in Jenin. Ein Taxichauffeur habe ihr gesagt, die Palästinenser wären im Grunde „die letzten Opfer Hitlers“.„Wir sind doch alle Opfer“Wer mal in Jenin war, der kennt diese latente Spannung, die auch an diesem Abend da ist: Der Wunsch, aufeinander zuzugehen – und zugleich tief sitzendes Misstrauen. „Wir sind doch alle Opfer“, sagt Chernobroda. „Aber wir müssen miteinander reden. Solange die jungen Leute noch Fragen stellen, gibt es Hoffnung.“ Sie wirkt etwas erschöpft, am nächsten Morgen fliegt sie zurück nach Haifa. Im Oktober soll dort der Film auf einem Festival laufen. Für sie sei das „kein Wunsch, sondern ein Muss“.Im sanften Kreuzberger Regen bekommt man an diesem Abend eine Ahnung davon, wie schwierig es ist, die Idee von Versöhnung umzusetzen. Hier stehen alle friedlich zusammen, Juden, Palästinenser, Deutsche, Iraker, ein Amerikaner. Hier ist es normal. Imad aus Jenin studiert gerade in Tübingen. Ob die jungen Leute in Deutschland arabische Musik hören würden, will er wissen. Jemand spricht über das Lied Aisha des Sängers Khaled. Imad liebt es. Auch da wolle ein junger Mann sterben, sagt er. Aus Liebe.