Wir erleben Tage der Entscheidung über die Zukunft der westlichen Demokratien. Denn in deren drei wohl wichtigsten Staaten stehen die Regierungen massiv unter Druck, wächst die autokratische Versuchung. In den USA muss sich Präsident Biden einem ersten TV-Duell gegen Donald Trump stellen, während er in den entscheidenden Swing States in den Umfragen weiter hinter seinem Herausforderer liegt und die Medien immer stärker über seine körperliche Hinfälligkeit diskutieren. In Frankreich hat Emmanuel Macron seine Regierung durch einen fast an Harakiri erinnernden Akt des Alles oder Nichts leichtfertig aufs Spiel gesetzt, indem er für diesen Sonntag Neuwahlen ausrief. Und in Deutschland regiert zwar noch eine Ampel-Regierung, doch sie und speziell der
er Bundeskanzler haben ihre Autorität fast völlig eingebüßt. Drei demokratische Staatenlenker und sie stehen allesamt auf der Kippe.Die Parallelen speziell zwischen Frankreich und Deutschland sind erstaunlich. Dabei wurde bei der Analyse der Europawahl in aller Regel auf die Unterschiede hingewiesen: hier der sprachlose „Nö“-Kanzler, jede Erklärung des SPD-Desasters oder gar die geforderte Vertrauensfrage verweigernd, dort der entschlossene „Je veux“-Präsident, der mit seinem einsamen Neuwahl-Beschluss selbst die Entscheidung sucht. Dieser Unterschied auf der Oberfläche verkennt aber die tiefer liegende Parallele: den dramatischen Abstieg der moderaten Linken bei gleichzeitigem Aufstieg der Rechtsradikalen.In gewisser Weise droht Deutschland jetzt das französische Beispiel nachzuvollziehen. Denn was war der Ausgangspunkt des Aufstiegs von Macron? Der historische Niedergang der Parti socialiste, der Sozialdemokraten unter Präsident François Hollande. Dessen Versagen eröffnete dem Populismus der Mitte eines Emmanuel Macron erst den erforderlichen Raum, um mit dessen Bewegung En Marche in der Mitte durchzubrechen und das gesamte französische Parteiensystem zu pulverisieren.Macron gelang es, die alte Bipolarität zweier klassischer Volksparteien der linken und rechten Mitte zur Implosion zu bringen. Und zwar immer hochgradig personenzentriert, ganz auf ihn als den charismatischen Anführer des Volkes fokussiert als das besondere Spezifikum jedes Populismus.Doch infolge seines zunehmenden Autoritätsverlusts und seiner plötzlichen Entscheidung für Neuwahlen könnte das Ergebnis jetzt ein höchst paradoxes sein – nämlich die Wiederherstellung der Bipolarität, allerdings mit weit radikaleren Positionen. Denn anstelle der alten klassischen Konservativen tritt nun ein rechtsradikales Lager um Marine Le Pen an, die die eindeutige Führungsfigur auf der rechten Seite des Parteienspektrums ist, während sich auf der anderen Seite Gruppierungen unterschiedlichster Couleur zu einer linken Volksfront zusammengeschlossen haben. In der Mitte dagegen könnte Macrons eben noch dominierende liberale Renaissance von der neuen Bipolarität zerrieben werden.Sollte Marine Le Pens Rassemblement National tatsächlich gewinnen, würde das Vakuum, das die Sozialisten nach Hollande hinterlassen haben, am Ende durch einen neuen Rechtsradikalismus gefüllt. Ein ganz ähnliches Schicksal erlebt gegenwärtig die deutsche Sozialdemokratie. Auch sie befindet sich auf einem historischen Tiefpunkt. Immer vorausgesetzt, dass es überhaupt zu einer Haushaltsvereinbarung für 2025 und damit zu einer Fortsetzung der Ampelregierung kommt, droht ihr bis zur Bundestagswahl ein weiterer Niedergang in einer Koalition, die ganz offensichtlich zu keinem geschlossenen Auftreten in der Lage ist.Damit aber schafft auch die regierende Sozialdemokratie ein Vakuum, das immer mehr die AfD, die sich längst als die neue Arbeiterpartei geriert, füllt. Zugleich entsteht auf der Linken mit dem BSW eine neue populistische Bewegung, die nach dem Vorbild von Jean-Luc Mélenchon ganz auf Sahra Wagenknecht als charismatische Anführerin zugeschnitten ist.Mit einer so weiter zwischen linkem und rechtem Populismus zerriebenen Sozialdemokratie könnte Olaf Scholz der François Hollande der SPD werden. Biden, Scholz, Macron: Alle drei stehen für eine Politik, die die linke Mitte verloren hat. Die große Frage ist, ob und wie eine aufgeklärte Linke die Mitte zurückerobern kann. Ironischerweise könnte Frankreich dabei einen Anfang machen. Sollte es tatsächlich der Linken gelingen, gegen den Rassemblement National in die Stichwahlen zu gelangen, ist nicht ausgeschlossen, dass sich am 7. Juli erhebliche Teile der Macron’schen Mitte für die Linke entscheiden, um Le Pen zu verhindern.Das aber bedeutet keineswegs, dass diese neue Linke für eine neue aufklärerische Position steht. Auch in ihr wirkt die populistische Versuchung: Marine Le Pen setzt, wie die AfD, ganz auf den Kampf gegen die Migration als die angebliche Mutter aller Probleme. Damit bestimmen die Rechtsradikalen das gesamte Parteiensystem, das immer mehr nach rechts rutscht. Dagegen wird eine neue Linke nur dann Erfolg haben, wenn sie dem rechten Agenda-Setting nicht willfährig hinterherhechelt, sondern eine überzeugende links-ökologische Perspektive entwickelt. Bis dahin scheint es aber noch ein sehr weiter Weg zu sein.Placeholder authorbio-1