Warum Palästinenser in Ägypten nicht wie Geflüchtete behandelt werden
Nahost Mehr als 100.000 Menschen sind aus Gaza für viel Geld nach Kairo geflohen – sie leben illegal in der ägyptischen Millionenstadt und kämpfen dort um ihr Überleben
Solidarität mit Palästina ist in Kairo allgegenwärtig, hier in El Matareya im Osten der Stadt, Ende Mai 2024
Foto: Fareed Kotb/Getty Images
Schon wieder habe er kaum geschlafen, sagt Hassan und sinkt tiefer in den Sessel seiner möbliert gemieteten Wohnung. Das muslimische Opferfest Eid el-Adha steht bevor, in Kairo herrschen 45 Grad Hitze. Auch der Lärm des unablässigen Straßenverkehrs in der 30-Millionen-Einwohner-Stadt trägt zur Erschöpfung bei; ganz zu schweigen von den posttraumatischen Belastungen durch die israelischen Angriffe auf Gaza. „Nachts denke ich an meine ehemalige Nachbarschaft, an mein Haus und das, was wir besaßen.“ Seine Familie habe alles verloren, sogar die Familienfotos, sagt er, „aber niemand kann Gaza aus unserer Erinnerung und unseren Herzen löschen“.
Saida nickt, die ehemalige Kollegin hat es ähnlich erlebt. Auf ihrem Handy zeigt sie
zeigt sie Fotos von ihrem früheren Heim. Israelische Soldaten haben es geplündert, die Küche ist verwüstet, der Kühlschrank verschwunden. Saida hat neun Kilo abgenommen: „Wir hatten auf der Flucht innerhalb Gazas nicht genug zu essen“, erklärt sie, doch in Kairo habe sie schon wieder etwas zugenommen. Immer den Mut behalten. Saida will zu Verwandten nach Kanada auswandern, sie wartet auf ein Visum und würde doch nichts lieber tun, als sofort nach Gaza zurückzukehren. Es gibt das palästinensische Nationalgericht Maqloubeh, ein Reiskuchen mit Gemüse und Fleisch. Hamdan, ein weiterer Gast, klagt über Rückenschmerzen. „Mein Körper hat sich das Schlafen in Notunterkünften auf Betonböden ohne Matratze und Kissen und den Dauerstress gemerkt.“ Zwar hat er in Kairo wieder ein Bett, doch auch hier kommt Hamdan nicht zur Ruhe. Es ist nicht nur die Sorge um die Zukunft, sondern auch die Angst um die zurückgebliebenen Angehörigen.Die drei Palästinenser gehören zu den geschätzt mehr als 100.000 Bewohnern des Gaza-Streifens, die seit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober an mehr als 1.200 Israelis und dem anschließenden Kriegsausbruch über Rafah im Süden nach Ägypten flohen. Das geht nur mit sehr guten Beziehungen oder Verwandten ersten Grades in Ägypten sowie vor allem ausreichend Geld: eine Fluchtmöglichkeit überwiegend für Privilegierte. Unter den Reiseagenturen, die sich um die Visa und den Transport nach Kairo kümmern, setzte sich die ägyptische Firma Hala Consulting and Tourism durch. Deren Besitzer Ibrahim al-Organi, Oberhaupt eines Beduinenstamms im Sinai und ein einflussreicher Geschäftsmann, dem Beziehungen zum ägyptischen Geheimdienst nachgesagt werden, schlägt mit seiner Organi-Gruppe Profit aus der Not.Touristenvisa für das Nachbarland kosteten üblicherweise etwa 300 US-Dollar, zu Kriegsbeginn schnellten die Preise jedoch bis auf mehr als 10.000 US-Dollar pro Person hoch. Zuletzt zahlten Betroffene mindestens 5.000 US-Dollar, um nach Kairo zu gelangen, Kinder die Hälfte – in bar, mit Banknoten zu je 100 Dollar. Manche verkauften ihr Hab und Gut, um sich die Ausreise leisten zu können. Viele trugen bei der Flucht nichts als ihre Kleider und ihre Traumata.El-Sisis Angst vor GeflüchtetenSeit Israels Armee Anfang Mai Rafah einnahm, ist der Grenzübergang zu Ägypten nun vollständig gesperrt. Trotz Grenzspannungen, bei denen ein ägyptischer Soldat ums Leben kam, sind die Regierungen Israels und Ägyptens bemüht, den 1979 geschlossenen Friedensvertrag nicht zu gefährden. Auch Omar konnte seine Familie nach Kairo retten. Der 45-Jährige legte für sich, seine Frau, seine Mutter und seine vier Kinder im Alter von zwei bis zwölf Jahren 25.000 US-Dollar auf den Tisch. Der Sozialarbeiter war bei Kriegsausbruch von Gaza-Stadt zunächst ins Flüchtlingslager Nuseirat und zwei Monate später nach Rafah in den Süden geflohen. Anfang März beschloss er, nach Ägypten auszureisen: „Ein Ende des Kriegs oder politische Lösungen waren nicht am Horizont. Meine Familie lebte in Angst und Schrecken, deshalb erschien mir das als der einzige Ausweg.“In Kairo fand Omar eine Wohnung, doch wie lang sie darin bleiben können und ob er sich die Miete noch länger leisten kann, weiß er nicht. Das Gaza Community Mental Health Center für psychische Gesundheit, für das er jahrzehntelang arbeitete, ist durch die israelischen Bombardierungen weitgehend zerstört. Omar zehrt vom Ersparten – und die Ungewissheit an seinen Nerven. Nun sucht er Arbeit auf dem Schwarzmarkt, um seine Familie zu ernähren, und er fragt sich, ob seine Kinder hier je zur Schule werden gehen können.Palästinensische Geflüchtete aus Gaza halten sich illegal in Ägypten auf. Denn Palästinenser, die seit den Kriegen von 1948 und 1967 nach internationalem Recht als Flüchtlinge gelten, werden in Ägypten nicht wie Geflüchtete, sondern wie Touristen behandelt. Das Visum, für das sie teuer bezahlt haben, war nur 72 Stunden gültig und konnte lediglich 45 Tage verlängert werden. Hintergrund ist, dass Ägyptens Regierungen auf das in der UNO-Resolution 194 verankerte Recht der Palästinenser pochen, in ihre angestammte Heimat zurückkehren zu dürfen. Das Land am Nil will dieses Rückkehrrecht nicht gefährden, indem es einer permanenten Sesshaftigkeit zustimmt. Aus demselben Grund hat das UNO-Hilfswerk für Palästinaflüchtlinge (UNRWA) in Ägypten kein Mandat, aktiv in der Hilfe tätig zu sein. „Unser Auftrag hier ist ausschließlich, UNRWA diplomatisch zu vertreten sowie seit dem Kriegsausbruch letzten Oktober humanitäre Hilfe für Gaza logistisch zu begleiten“, sagt Sahar Al-Jobury, Leiterin des UNRWA-Büros Kairo.Palästinensische Flüchtlinge, die sich als erneut Vertriebene nun in Kairo aufhalten, können auf UNRWA also nicht zählen. Internationales Recht schreibt zwar fest, dass als Flüchtlinge anerkannte Palästinenser, die sich nicht in UNRWA-Einsatzgebieten aufhalten und folglich kein Anrecht auf Schutz oder Unterstützung haben, Hilfe von der UNO-Flüchtlingshilfe UNHCR beanspruchen können. Doch Ägypten verbietet auch UNHCR, Palästinensern im Land zu helfen. Eine dauerhafte Lösung für Palästinaflüchtlinge soll es in Ägypten nicht geben. Es sei die historische Verantwortung der westlichen Staaten, diese zu repatriieren, so die Haltung.Kritiker erkennen hinter dieser Position den autoritären Charakter der ägyptischen Regierung: Die Unterdrückung der eigenen Bevölkerung geht Hand in Hand mit der israelischen Unterdrückung der Palästinenser. Ägyptens desolate Wirtschaft, deren wahren Zustand kaum jemand kennt, spielt dabei eine entscheidende Rolle. Inflation, Auslandsverschuldung und Geldentwertung machen der Bevölkerung schwer zu schaffen. Im Widerspruch dazu lässt die Militärregierung unentwegt bauen. So entstehen auf Kairos Straßen fast monatlich neue Brücken. 48 Kilometer außerhalb Kairos wird eine gigantische Verwaltungshauptstadt hochgezogen. Beobachter meinen, dass diese die ohnehin schon mühsame Bürokratie eher noch ineffektiver machen wird. Unterdessen können die Ägypter sich Grundnahrungsmittel teils kaum noch leisten. Sie solidarisieren sich stark mit den Palästinensern.In der Stadt sind palästinensische Flaggen zu sehen, Geschäfte bieten Textilien mit den Nationalsymbolen an. Die Militärregierung von Abdel Fattah el-Sisi macht zwar allerlei Lippenbekenntnisse. Sie will aber Aufstände zugunsten der Palästinenser im eigenen Land verhindern, die in Proteste gegen sie selbst ausufern könnten. Die Zahl der Palästinenser aus Gaza soll deshalb begrenzt bleiben. Eine weitere Rolle spielt die Sorge vor Islamisten: Die Regierung fürchtet, dass sich unter den Einreisenden Hamas-Anhänger befinden, die die ägyptischen Muslimbrüder stärken könnten. Gerüchten und einem Bericht der israelischen Tageszeitung Ha’aretz zufolge werden Kriegsverletzte oder Krebskranke, die aus Gaza in ägyptische Krankenhäuser transferiert wurden, dort aus Sicherheitsgründen wie Gefangene gehalten.Insgesamt halten sich in Ägypten geschätzt neun Millionen Menschen auf, die Zuflucht vor Konflikten und ökonomischer Instabilität suchten, insbesondere aus Syrien und dem Sudan. Viele von ihnen sind bei UNHCR registriert. „Allerdings müssen auch diese Flüchtlinge ihren Aufenthaltsstatus alle sechs Monate aktualisieren“, erklärt Maysa Ayoub. „Das ist so zeitaufwendig, dass viele es irgendwann aufgeben“, so die stellvertretende Direktorin des Zentrums für Migrations- und Flüchtlingsstudien an der Amerikanischen Universität von Kairo. Illegalität sei aus diesem Grund recht verbreitet. Indes, die Regierung fahre einen Kurs der Ambivalenz. Formell gelten strikte Gesetze, informell drückten die Behörden die Augen zu, es sei denn, jemand gerate mit dem Gesetz in Konflikt.Die Palästinenser aus Gaza werden also geduldet, doch ihre Lage ist äußerst heikel. Als illegale Ausländer haben sie keine Meldeadresse und somit keinen Anspruch auf einen Arbeitsplatz, ein Bankkonto oder einen Mobilfunkvertrag. Ihre Kinder können nicht einmal die Schule besuchen. Zwar steht ihnen die Vertretung der Palästinensischen Autonomiebehörde in Kairo mit der Beschaffung von Dokumenten zur Seite, helfen kann sie jedoch nicht. Allein der Ägyptische Rote Halbmond hat die offizielle staatliche Erlaubnis, Geflüchtete aus Gaza zu versorgen. NGOs wie Save the Children oder die Welthungerhilfe stehen inoffiziell für Soforthilfe zur Verfügung. Doch all das hilft nur für den Moment weiter. Die palästinensische Community organisiert sich deshalb selbst; einige Familien sammeln Spenden über Plattformen wie Gofundme, vor allem im Bemühen, weitere Verwandte aus dem umkämpften Gaza zu retten. Besonders Findige umgehen das Verbot, sich beruflich zu betätigen, und bieten als kleine Start-ups typisch palästinensisch zubereitete Lebensmittel wie Brot oder Hummus an.Ohne ein Ende des Kriegs und politische Lösungen bleibt es ein Leben in Ungewissheit. Die Palästinenser sind es durch den 76 Jahre alten Konflikt gewohnt, sich außerordentlichen Lebensbedingungen anzupassen, und ihre Resilienz ist ungebrochen. Das Opferfest Eid al-Adha bringt die traurigen Gefühle dann doch hervor. „Ich hoffe, dass wir nächstes Jahr wieder in Gaza mit unseren Liebsten feiern können“, sagt Saida. Ihr ist anzusehen, dass sie selbst nicht wirklich daran glaubt.
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