Fußball-EM in Deutschland: Ein Survival-Guide für schlechtgelaunte Gäste-Fans

Euro 24 Selbst die „New York Times“ lästert über die Organisation der Fußball-EM in Deutschland: Verspätete und überfüllte Züge – und keine Karten-Zahlung möglich. Aber, lieber EM-Gast aus dem Ausland, es gibt für alles eine Lösung
Flitzer auf dem Rasen? Sorry for the inconvenience…
Flitzer auf dem Rasen? Sorry for the inconvenience…

Foto: Dan Mullan/Getty Images

Dein Zug fällt aus?

Du musst in den Signal Iduna Park nach Dortmund, aber Dein Zug von Frankfurt fällt kurzfristig aus? Hey, früher bist Du für solche Abenteuer nach Frankreich, Italien oder Griechenland gefahren! Nimm Dir einfach ein Beispiel an der coolen neuen deutschen DB-Mentalität: Kurz mal mit den Augen rollen und dann über die Durchsage des Bahnpersonals schmunzeln: „Liebe Reisende, es wäre ja auch ein Wunder gewesen, wenn Ihr Zug gefahren wäre.“ Danach beim „Zug-Ausfall-Bingo“ mitmachen. Welche Random-Entschuldigung hat sich die Deutsche Bahn für Deinen Zug einfallen lassen: „Vorausfahrender Zug“? „Personal ist zu spät am Bahnhof eingetroffen“? „Betriebsstörung“? „Defekte Oberleitung“? „Personen auf der Strecke“? „Technisches Problem“? Von den Deutschen lernen, heißt inzwischen auch zu lernen, aus der Not eine neue deutsche Tugend zu machen. Früher waren wir für unsere Präzision bekannt – heute sind wir Europameister im Fatalismus! Gibt Schlimmeres.

Dein Zug ist voll?

Ist Dein Regionalzug doch noch gekommen, aber so pickepacke voll, dass Du stehen musst wie eine Dose in einer eingeschweißten Schultenbräu-Palette bei Aldi? Lieber EM-Ausländer, hast Du etwa immer noch nicht verstanden, dass dieses ein ausgeklügeltes, vom DFB geplantes, LITERATURprojekt im Land der Dichter und Denker ist, bei dem Du mitmachst? Die Wurzeln dieser EM-Idee liegen bei Rainer Maria Rilke, der die Liebe einst so definierte, dass sich Fremde „berühren und miteinander reden“. Genau das ist unsere EM: ein hautnahes Fan-Erlebnis zum Anfassen. Wenn Du das nicht willst, dann geh doch nach Katar oder ins Bord-Bistro! Ach, das steht heute nicht zur Verfügung? Tja, Pech gehabt. Und hier noch ein kleiner Extra-Trost: Überfüllte Züge haben den Vorteil, dass selbst die akribischsten deutschen Schaffner keine Lust auf Ticketkontrolle in einer Sardinenbüchse haben.

Du kommst nicht mehr in die S-Bahn?

Was erwartest Du auch für 3,30 Euro? Immerhin hat die Bogestra, die Bahn in Bochum und Gelsenkirchen, schon lange auf Dich gewartet, lieber EM-Fan aus dem Ausland. Nur für Dich haben die Verkehrsbetriebe sogar eine neue Sprache erfunden! Im Netz heißt es: „Ab zum Public Viewing? Mit Muttis eTarif hast du alle Fahrpläne in der Tasche und kannst mit dem eezy-Tarif flexibel ein- und auschecken.“ So viel Englisch war selten in deutschen Straßenbahnen! Okay, das eher deutsche Wort „Public Viewing“, kennt jemand wie Harry Kane nur als „Leichenschau“, und ob er etwas mit „eezy“ anfangen kann, oder mit „Muttis eTarif“ – who knows? Aber, hey – doesn’t matter! Es ist sowieso gerade kein Platz mehr in Deiner „Streettrack“ („Straßenbahn“)! Und das, obwohl Gelsenkirchen zur letzten WM infrastrukturell aufgerüstet hat. Das ist bekanntlich erst 18 Jahre her. Okay, da hat sogar der Kaiser noch gelebt. Sagen wir es einfach mit Marie Antoinette: „Sie haben keine Straßenbahn? Dann sollen sie doch Taxi fahren!“

Du kriegst auch kein Taxi?

Ah, les taxis sont complets? Alle Taxis ausgebucht? Dabei hast Du es bei Taxi Arnu, May Taxi, Taxi Hauk, Akarca Taxi und Taxi Bauer versucht? Keiner nimmt ab? Die (0209) 55555 ist dauerbesetzt, und bei Uber hat keiner Bock auf kotzende Fans? Sagen wir es mal so: Fußball-EM in Deutschland bedeutet eben, sich auch mal selber ein bisschen zu bewegen. Vom Hauptbahnhof Gelsenkirchen bis auf Schalke – das sind lächerliche sechs Kilometer. Weniger als „Lücke“-Füllkrug läuft, wenn er in der 70. Minute eingewechselt wird. Also, wirf Deinen Blick auf Google Maps und los: Weberstraße, Ringstraße, Luitpoldstraße, Florastraße und – Rudi Assauer Platz. Lieber Gäste aus dem Ausland: Das würden die Holländer sogar hüpfend schaffen: „rechts, links, vor, vor, vor…“

Du musst Fußball in der Glotze schauen?

Du hast es trotzdem nicht pünktlich ins Stadion geschafft, und musst jetzt Fußball im Fernsehen gucken? Das tut mir leid! Aber so merkst Du schnell, dass es bei uns in Germany viele Leute gibt, die noch viel schlechtere Laune haben als Du! Oder willst Du etwa mit Fußball-Experten Arnd Zeigler tauschen? Der ist im Fremdschäm-Quiz der ARD in der selbsternannten „Kult-Kneipe“ Zum Kuhhirten bereits vor der ersten Frage mega frustriert, weil er genau weiß, dass er tausendmal mehr Ahnung vom Kicken hat als „Habt Ihr alle Bock?“-Moderatorin Stephanie Müller-Spirra und dass er mindestens 11fach lustiger ist als Teutonen-Komiker Malte Völz. Lieber EM-Gast, von Arnd Zeigler kannst Du lernen: Wenn die Welt wie ein Regentag auf Malle ist, dann trink am besten schon vor dem Anpfiff so viel Bier, dass Du bereits während der Show vergisst, dass Du überhaupt da bist.

Und, ja, es gibt Menschen mit noch schlechterer Laune. Einfach mal ins ZDF umschalten und in das Gesicht hinter der Brille von Per Mertesacker schauen. So sieht echter Ekel aus, wenn man seinen Sitznachbarn (in diesem Fall Christoph Kramer) einfach nur Scheiße findet und das auch mit jedem Gesichtsmuskel zeigen will.

Okay, Schluss mir der German Melancholy! Gucken wir lieber die Kommentare von Almuth Schult in Endlosschleife. Sie ist, wie wir Deutschen eigentlich sein könnten: Gut vorbereitet, effizient und unterhaltsam. Neben ihr sieht Alexander Bommes aus wie ein unkonzentrierter Schuljunge, den man auf der Klassenfahrt nach Gelsenkirchen in der S-Bahn verloren hat.

Dich nervt der Flitzer auf dem Feld?

Während manche Fans es nicht pünktlich bis ins Stadion schaffen, können andere bis aufs Spielfeld flitzen. Dafür muss man nicht einmal undercovermäßig einen Albärt (Sorry für diesen Namen!)-Maskottchen-Doppelgänger basteln, sondern kann vollkommen enthemmt (und meinetwegen auch enthost) auf das miserabel gepflegte Frankfurter Grün rennen. Denn die „German-Defens“ ist seit Innenministerin Nancy Faeser einfach nicht mehr, was sie mal war. Den Ordnerinnen und Ordnern gelingt es nur schwer, einen besoffenen Flitzer zu stellen. Vielleicht liegt’s an der verbesserungswürdigen Camouflage-Qualität der neongelben FIFA-Warnwesten, die der Deutsche normalerweise über seiner Jack Wolfskin Jacke beim Fahrradfahren trägt, um nicht von einem türkischen Fan beim Donut-Jubel in Friedrichshain („Trainer, mach uns Hupen!“) überfahren zu werden? Wie auch immer: Die Spieler reagieren ganz unterschiedlich auf die Flitzer: Während Österreichs Marcel Sabitzer am liebsten selber eingreifen würde, steht CR7 auch für Selfies bereit. Smile, please, your idiots!

Du kannst nicht mit dem Handy zahlen?

Hey, Welt: Als wir in den 1980er Jahren bei Euch zu Gast waren, sind wir davon ausgegangen, dass man außerhalb von Deutschland eh überall ausgeraubt wird. Deshalb hatten wir in Rom, Barcelona und Athen stets sichere Travellerschecks in unseren Brustbeuteln unter dem Hawaii-Hemd über dem Bierbauch. Na ja, und dann waren wir halt auch lange das Land der „Deutschmark“: Ein Hundert-Mark-Schein war sicherer als die Abwehr von Paul Breitner. Wir haben hier eine ganze Partei gegründet, nur um nicht Euren Euro zu bekommen. Und nun wollt Ihr bei uns allen Ernstes mit Karte bezahlen? Bei uns hätte nicht mal ein Marko Arnautovíc eine Chance, wenn er dem Verkehrspolizisten sagen würde: „Ich kann Dein Leben kaufen!“ … Der neue deutsche Dimpfelmoser würde ihm antworten: „Sorry, Stürmer, aber wir akzeptieren leider kein ApplePay.“

Hilfe, die Deutschen haben gute Laune

Das Schrecklichste, lieber EM-Gast, ist für Dich aber die fürchterlich gute Laune der Deutschen? Du fragst Dich, was aus Deinen Vorurteilen und aus der Nation geworden ist, in der früher jeder grummelnd in die Gegend geguckt hat wie Ludwig van Beethoven, und in der man den Fernseher auf den Kopf stellen musste, um die Kanzlerin lachen zu sehen? War das „Sommermärchen“ etwa keine Ausnahme? Was ist das nur für ein Land geworden, das sich nicht mehr über verspätete Züge aufregt, in dem es egal geworden ist, wenn es am Bahnsteig mal etwas voller wird, und in dem so ziemlich jeder so ziemlich jeden Ausländer freundlich empfängt (Okay, Rod Stewart in Leipzig war eine Ausnahme!). Was ist das für ein Deutschland, in dem lediglich die Journalisten aus anderen Ländern schlechte Laune verbreiten Nein, liebe Leute – das ist wirklich nicht mehr mein Germany …

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Geschrieben von

Axel Brüggemann

Journalist und Autor in Wien und Bremen.

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