Wer auf Friedhöfen die Gräber prominenter Persönlichkeiten aufsucht, entdeckt öfter Merkwürdiges. Auf dem Grab Heiner Müllers (in unmittelbarer Nähe zu dem seines dramaturgischen und auch lyrischen Über-Vaters Bertolt Brecht) lag vor Jahren eine echte Zigarre, die sein Markenzeichen gewesen ist. So eindrucksvoll wie das Bild vom zigarrenrauchenden, schwarzbebrillten Heiner Müller sind nicht wenige der Gedichte, die nun knapp 20 Jahre nach seinem Tod 1995 im Band Warten auf der Gegenschräge vorliegen, die die Berliner Literaturwissenschaftlerin Kristin Schulz herausgegeben hat. Das Buch ersetzt den 1998 erschienenen Gedichtband der Heiner-Müller-Werkausgabe.
Der Mahner und Fragende
Man hat Heiner Müller, ähnlich wie Bert Brecht,
#228;hnlich wie Bert Brecht, lange kaum als Lyriker wahrgenommen. Dabei hat der 1929 Geborene sein Leben lang und schon in jungen Jahren mit dem Schreiben von Gedichten begonnen, zudem aber, und das ist hier entscheidend, in seinen lyrischen Texten einen Sprachgestus kultiviert, der sich oft nicht von dem seines dramatischen Sprachgestus unterscheidet. Gedichte wie „Philoktet 1950“ oder „Selbstbildnis zwei Uhr Nachts am 20. August 1959“ bewegen sich auf dem womöglich ohnehin nicht vorhandenen schmalen Grat zwischen Lyrik und Prosa. Im Aufsprengen der Gattungsgrenzen liegt eine der Qualitäten dieser Lyrik, die meist den hohen Ton meidet, andererseits nicht vor Hölderlin-Zitaten zurückschreckt.Müllers die Gattungsgrenzen überschreitendes Sprechen stellt die Herausgeber gerade dadurch vor einige Schwierigkeiten bei der Auswahl des Materials. So ist es zu begrüßen, dass Warten auf der Gegenschräge die Auswahl und Gliederung detailliert erläutert und im Apparat zahlreiche editorische Entscheidungen transparent gemacht werden: Der Band präsentiert auf der Basis des Nachlasses, der sich in der Akademie der Künste Berlin befindet, sämtliche zu Lebzeiten und posthum veröffentlichten Gedichte in chronologischer Reihenfolge. Eröffnet wird er durch die einzige vor 1995 erschienene Lyriksammlung, die Müller 1992 im Berliner Alexander-Verlag veröffentlichte. Dort entfalten sich die Fragestellungen und Kontexte, in denen Müller sich bewegte: Die Frage nach der angemessenen Gesellschaftsform, die Frage nach der Geschichte, die immer eine des Siegens der einen und des Verlierens der anderen bedeutet.Von Brecht hat Müller nicht nur den Tonfall des Mahners und das Fragen nach den menschenwürdigen Verhältnissen übernommen, sondern auch einige formale und stilistische Eigenarten: etwa den Hang zur Inversion („Zwar das Brot gehörte allen, aber sättigte keinen“ heißt es zum Beispiel in „Bericht vom Anfang“), eine Vorliebe für asiatische Dichter wie Po Chü I, mit dessen Gedichten sich auch Brecht auseinandersetzte, oder das Verfahren, das Brecht in seinen Studien von 1938 anwandte: mit dem Sonett als literarischer Form zu arbeiten. Zentral ist in Müllers einzigem zu Lebzeiten veröffentlichten Band auch die Bedeutung mythologischer Themen und Figuren wie Philoktet, Homer und immer wieder Horaz. Sie geht letztlich auch zurück auf die Idee, von der Müller getrieben war: dass man aus der Geschichte lernen kann. In seiner Auseinandersetzung mit der literarischen Tradition, mit historischen Ereignissen, mit prominenten Vertretern der Politik, der Kultur und der Geistesgeschichte, aber auch mit seinen Alltagserfahrungen zeigt sich Müller – und hierin lässt sich ebenfalls eine Parallele zu Bertolt Brecht ziehen – als ein Autor, dessen Gedichte erst noch zu entdecken sind. Kraftvoll ist die Sprache, gelegentlich auch ein wenig kraftmeierisch: „MANCHMAL WENN ICH MEINE PRIVILEGIEN GENIESSE / Zum Beispiel im Flugzeug Whisky von Frankfurt nach (West)Berlin / überfällt mich was die Idioten vom SPIEGEL meine / Wütende Liebe zu meinem Land nennen […]“Und so kraftvoll ist Müllers lyrisches Sprechen noch in der Resignation und in den Fragmenten und Notizen, die der Autor kurz vor seinem Tod aufzeichnete: „Die Welt ist beschrieben kein Platz mehr für Literatur / Wen reißt ein gelungener Endreim vom Barhocker / Das letzte Abenteuer ist der Tod / Ich werde wiederkommen außer mir / Ein Tag im Oktober im Regensturz“ heißt es in „Notiz 409“ aus dem Jahr 1995.Müller wirkte durchaus auch als Lyriker auf die nachfolgende Generation. Er förderte Durs Grünbein, als dieser noch ein unbekannter Autor war. Der Lyriker Ron Winkler bewunderte den „ätzenden Haderton“ seiner Gedichte und traf damit den Sound recht genau. Man erfahre hier „die hart konturierte Desillusion eines an der Welt gestörten Intellekts“. Und Nico Bleutge, der in diesem Jahr nach Lutz Seiler mit dem Christian-Wagner-Preis ausgezeichnet wird, hat in seinem Gedichtband verdecktes gelände Müllers „Traumwald“ aufgenommen und umgeschrieben. Es ist eines jener Gedichte, deren bildhafte Vielschichtigkeit einen starken, unheimlichen Sog entwickelt. Seine Anfangsverse: „Heut nacht durchschritt ich einen Wald im Traum / Er war voll Grauen. Nach dem Alphabet / Mit leeren Augen / die kein Blick versteht / Standen die Tiere zwischen Baum und Baum / Vom Frost in Stein gehaun. Aus dem Spalier / Der Fichten mir entgegen durch den Schnee / Trat klirrend träum ich seh ich was ich seh […]“In einer Art TranceDie zugleich märchen- und albtraumhafte Szenerie dieses Gedichts – und hierin darf man den Theaterdichter, Intendanten und Regisseur Müller mitdenken – wird zur imaginären Bühne, auf der sich, wie in einem miniaturhaften Einpersonenstück, eine Spannung aufbaut, aus der heraus sich dann das innere Drama des Sprecher-Ichs in einer Art Trance entfaltet. Die Faszination der Verse überträgt sich, indem sich das Gedicht in eine beängstigende Konfrontation des Ichs mit einer Figuration seiner selbst steigert; sie ruft einen Schauder hervor, wie er in Momenten einer unerwarteten Selbsterkenntnis entsteht. Denn was das lyrische Ich hier sieht, ist „Ein Kind in Rüstung Harnisch und Visier / Im Arm die Lanze Deren Spitze blinkt / Im Fichtendunkel, das die Sonne trinkt / Die letzte Tagesspur ein goldner Strich / Hinter dem Traumwald, der zum Sterben winkt / Und in dem Lidschlag zwischen Stoß und Stich / Sah mein Gesicht mich an: das Kind war ich.“Man geht bestimmt nicht völlig fehl, wenn man „Traumwald“ zu jenen Gedichten Heiner Müllers zählt, die seinen Rang als Dichter noch über den Moment hinaus festigen, in dem die letzte seiner Zigarren längst verglüht ist. Das archetypische Kind beschäftigte Müller, in dessen Werk der Tod stets starke Präsenz eingeräumt bekam, gegen Ende seines lyrisch geprägten Schreibens und gegen Ende seines Lebens offenkundig besonders: „Im ächten Manne / ist ein Kind versteckt / das will sterben“, heißt es, ein Zitat Nietzsches variierend, in einer vermutlich 1995 entstandenen lyrischen Notiz. Wo Friedrich Nietzsches Verse aus Also sprach Zarathustra mit „das will spielen“ geendigt hatten, changiert Heiner Müllers anrührender Dreizeiler hier zwischen Weltekel und Resignation, vielleicht Angst und dem Mut, den es letztlich zum Sterben auch braucht.
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