Den Erfolgen der AfD zum Trotz: Warum es in Deutschland keinen Rechtsruck gibt
Debatte Nichtwähler eingerechnet, erhielt die AfD zuletzt 10,2 Prozent der abgegebenen Stimmen – und die Rede vom „Ruck“ nach rechts impliziert eine plötzliche Veränderung. Inmitten der dritten Wirtschaftskrise seit 1990 trifft das nicht den Kern
Die Aufrufe zur Rettung „unserer Demokratie“ haben ein gehörigrs Glaubwürdigkeitsproblem
Foto: Babak Bordbar/Middle East Images/AFP/Getty Images
Ein Deutschland, in dem Frieden, Gleichheit und Gerechtigkeit gelebte Werte sind, ist heute wohl so weit von der Realität entfernt wie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr. Und das liegt nicht nur an dem Hass, den die AfD predigt. Womöglich ist diese in Teilen rechtsextreme Partei nicht einmal der Ursprung dieses deprimierenden Zustands, sondern nur seine radikale Ausprägung.
Aus verständlichen Gründen richtet sich der aufmerksamkeitsökonomische Fokus derzeit auf die Rechten. Aktuell liegt fast allen Analysen die gleiche Prämisse zugrunde. Von Zeit bis Neues Deutschland ist im gesamten weltanschaulichen Spektrum der Presselandschaft von einem „Rechtsruck“ bei der Europawahl und den Kommunalwahlen die Rede. Doch was, wenn bereits dies
Neues Deutschland ist im gesamten weltanschaulichen Spektrum der Presselandschaft von einem „Rechtsruck“ bei der Europawahl und den Kommunalwahlen die Rede. Doch was, wenn bereits diese Vorannahme falsch ist, es also zumindest in Deutschland gar keinen Rechtsruck gibt?Mehr als ein Drittel NichtwählerDas scheint absurd, angesichts der Ergebnisse für die AfD. Dabei ließe sich dieser Erfolg viel besser verstehen, wenn er nicht immerzu ohne Kontext betrachtet würde. Eine Möglichkeit bestünde etwa darin, vor der Verwendung ultimativer Vokabeln die Fakten zur Kenntnis zu nehmen. 15,9 Prozent der abgegebenen Stimmen bei der Europawahl erhielt die AfD. Das ist viel, keine Frage. Die Wahlbeteiligung lag jedoch nur bei 64,8 Prozent. Mehr als ein Drittel aller Wahlberechtigten zog es also vor, sich der Stimme zu enthalten. Die Nichtwähler bilden, wie so oft, mit Abstand die stärkste Kraft.Rechnet man die Nichtwähler hinzu, erhielt die AfD 10,2 Prozent der abgegebenen Stimmen, denn auch die Wahlenthaltung ist bei ehrlicher Betrachtung eine Stimmabgabe. Das heißt: 6,3 Millionen Menschen haben die AfD gewählt, und 55,6 Millionen haben die AfD nicht gewählt. Zwar sitzt mit jener AfD im Deutschen Bundestag seit 2017 erstmals eine Partei, die Rechtsextreme in ihren Reihen duldet und sogar hofiert. Auch nimmt die Zahl rechtsterroristische Taten seit Jahren wieder zu. Zudem sind rechtsextreme Ansichten, die noch vor wenigen Jahren als Tabus galten, normalisiert worden. Immer häufiger trauen sich Vertreter des Bürgertums in der Öffentlichkeit, rassistische Parolen zu brüllen.Thilo Sarrazin anno 2010Doch ist so neu, was sich derzeit beobachten lässt? Die Rede vom Ruck impliziert eine plötzliche Veränderung. Das trifft hier nicht den Kern. Immerhin hat der damalige Bundesbanker und SPD-Politiker Thilo Sarrazin bereits im Jahr 2010 einen vor sozialrassistischen und biologistischen Argumentationsmustern triefenden Megabestseller vorgelegt, mit dem Titel Deutschland schafft sich ab. Wer sich die Online-Leserkommentarspalten zu den entsprechenden Artikeln in den Leitmedien heute ansieht, wird dort alle rechten Einstellungsmuster finden, die aktuell im Bundestag durch die AfD vertreten werden.Anfang der neunziger Jahre erfreute sich die Metapher vom vollen Boot großer Beliebtheit, in das vorgeblich nicht noch mehr „Ausländer“ reinpassen. Der Spiegel zeigte 1991 ein solches überfülltes Boot auf dem Titel, schwarz-rot-gold lackiert und drumherum eine gesichtslose Masse an Bord strebend, darüber die Zeile: ,Ansturm der Armen‘. Rassistische Proteste, rechtsextreme Gewalt und eine Verschärfung des Asylrechts durch die damalige Bundesregierung waren die Folgen solcher Diskussionen. Was dabei hervorsticht: In allen drei Fällen – die frühen Neunziger, das Ende des ersten Jahrzehnts im neuen Jahrtausend und die unmittelbare Gegenwart – gab oder gibt es eine Wirtschaftskrise. Vielleicht liegt in diesem Zusammenhang die Antwort auf die Frage, warum jetzt überall von einem vermeintlichen Rechtsruck die Rede ist, der „unsere Demokratie“ gefährde.Nach dem Beitritt der DDRDie westliche Goldgräberstimmung in den damals neuen Bundesländern nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik führte zur Massenarbeitslosigkeit, und die gebar nach 1990 einen erschreckenden Rassismus. Als Sarrazin sein vielbeachtetes Machwerk veröffentlichte, lag die Finanzkrise nicht lange zurück. Rund um das Jahr 2010 entschied die damalige Bundesregierung, dass die ärmeren Teile der Bevölkerung für die Zockerei der Banken bezahlen sollten. Der Frust der Zukurzgekommenen richtete sich aber kaum gegen die da oben, sondern vielmehr gegen die von Sarrazin als minderwertig markierten muslimischen Migranten.Jener Sarrazin war zu Beginn der 1990er Jahre ein wichtiger Akteur der Treuhandanstalt, die für die Verarmung ganzer Bevölkerungsteile im Osten verantwortlich zeichnete. Und jener Sarrazin war es auch, der als Berliner Finanzsenator später zehntausende Wohnungen im öffentlichen Eigentum für wenig Geld an private Investoren verscherbelte. Das nahmen sich andere finanzschwache Städte zum Vorbild, um schnell an Geld zu kommen. Weil das Kapital zwingend der Logik folgen muss, aus bestehendem Geld noch mehr Geld zu machen, kam es zu einer Mietenexplosion. In den größeren Städten müssen darum heute immer mehr Menschen die Hälfte ihres Nettolohns an Immobilienkonzerne abgeben, was nichts anderes bedeutet als eine gigantische Enteignung großer Teile der Bevölkerung zugunsten der Schwerreichen.14,2 Millionen Menschen sind einkommensarmRechte Politik zeichnet sich nicht nur durch Rassismus aus. Ihr Wesenskern ist die Ansicht, dass nicht alle Menschen gleich viel wert sind. Wer diese Minimaldefinition auf die Zeit seit dem Mauerfall anwendet und die Wirtschafts- und Sozialpolitik zum zentralen Analysefeld macht, kommt nicht um die Erkenntnis herum: Ausnahmslos alle Parteien, die seit 1989/90 in Regierungsverantwortung waren, sind rechte Parteien. Denn das neoliberale Paradigma, das die Armen ärmer und die Reichen reicher macht, ist seit Jahrzehnten bei allen Differenzen im Detail die ökonomische Grundlinie einer ganz großen Koalition aus FDP, CDU/CSU, SPD, Grünen und (nur dort, wo sie an Landesregierungen beteiligt war und ist) Linkspartei. Dass laut Paritätischem Gesamtverband 14,2 Millionen Menschen einkommensarm sind, ist ja kein Naturgesetz, sondern ein Resultat politischer Entscheidungen. Das Programm der AfD, das den Sozialstaat nicht nur für sogenannte Ausländer am liebsten ganz abschaffen würde und von Arbeitnehmerrechten, Mindestlohn oder Steuergerechtigkeit gar nichts hält, ist dabei die höchste Stufe des Neoliberalismus.Die Agenda 2010 war das größte Projekt zum Sozialstaatsabbau der Nachkriegsgeschichte. Deutschland hat einen Niedriglohnsektor, der dafür sorgt, dass Millionen Menschen zwar Stütze erhalten, zugleich aber erwerbstätig sind. Hier handelt es sich zwar nicht um eine Enteignung, aber um eine Umverteilung: Steuergelder gehen an die Arbeitgeber, die ihre Beschäftigten nicht auskömmlich entlohnen wollen – und wegen einer in Bezug auf den Mindestlohn extrem zurückhaltenden Regierungspolitik auch nicht müssen.An der Logik, wonach Menschen mit hohem Vermögen und/oder Einkommen mehr wert sind als Menschen, die auf staatliche Hilfe angewiesen sind, hat die Umbenennung von Hartz IV in Bürgergeld nichts geändert. Zugleich hat Deutschland mit Olaf Scholz einen SPD-Kanzler an der Spitze, der im Spiegel vor wenigen Monaten stolz verkündet hat, er wolle „endlich im großen Stil abschieben“.Das Bündnis Sahra WagenknechtDas ist bei ehrlicher Betrachtung eine sehr softe Variante dessen, was die Rechtsextremen meinen, wenn sie von „Remigration“ sprechen. Interessanterweise redet die neue Partei BSW von Sahra Wagenknecht, die unter anderem durch migrationskritische Forderungen auffällt, kaum von „Remigration“ oder Abschiebung, sondern betrachtet es umgekehrt: Sie will deutlich weniger Zuwanderung. Das ist sicher keine linke Position. Inwieweit sie rechts ist, darüber ließe sich streiten.Eine aktuelle Analyse des Soziologen Andreas Hövermann zur Wählerwanderung kommt zu dem Ergebnis, dass die AfD seit der Bundestagswahl 2021 eine Verdopplung der Zustimmungswerte in Umfragen verzeichnen konnte. Die Daten deuten demnach darauf hin, dass das BSW vor allem aus jener Gruppe an AfD-Sympathisanten viel Zuspruch erhält, die erst ab 2021 angaben, die AfD wählen zu wollen. In diese Zeit fallen die Corona-Maßnahmen, der Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine sowie die damit verbundene Militarisierung in Deutschland und die Inflation. Da Wagenknecht bei diesen Themen neben der AfD die am stärksten von der staatstragenden Haltung abweichenden Positionen vertritt, ist davon auszugehen, dass diese Themen den genannten Teil des AfD-Wählerpotenzials besonders umtreiben. Und um in diesen Themenfeldern von der Regierungslinie abzuweichen, braucht es kein rechtsextremes Weltbild.Welchen Zweck erfüllt sie also, die Rede vom Rechtsruck? Es sollte misstrauisch stimmen, wenn in letzter Zeit aus den Reihen der etablierten Parteien verstärkt zur „Rettung unserer Demokratie“ aufgerufen wird. Wie glaubwürdig kann es sein, gegen die „Remigration“ der Rechtsextremen zu demonstrieren und dabei Arm und Arm mit der Partei des Möchtegern-Abschiebekönigs Olaf Scholz auf der Straße zu stehen? Welches Vertrauen darf die politische Klasse erwarten, wenn sie die AfD zwar sachlich richtig als arbeitnehmerfeindlich deklariert, selber aber nichts substanziell unternehmen will gegen die Tatsache, dass inzwischen mehr als jedes fünfte Kind in diesem Land in einer armutsbetroffenen Familie aufwächst?Alternativloser NeoliberalismusWarum richtet sich der Protest neben der AfD also nicht auch gegen die amtierende Bundesregierung und die Oppositionspartei CDU/CSU, deren Vorsitzender Friedrich Merz mit alternativen Fakten die Stimmung gegen Geflüchtete anheizt? Geht es diesen Parteien möglicherweise darum, die staatstragenden Reihen zu schließen, auf dass in der AfD ein gemeinsamer Gegner erkannt und dadurch der eigene Anteil am Erstarken dieses Gegners nicht weiter thematisiert werden muss? Demokratie ist hier nur ein Synonym für Kapitalismus.Wenn die gegen die AfD demonstrierende Mitte ebenso wie die gesellschaftliche Linke dieses Spiel nicht durchschauen, wird „unsere Demokratie“langfristig vielleicht wirklich nicht zu retten sein. Laut der jüngsten Mitte-Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung haben acht Prozent der deutschen Bevölkerung ein geschlossen rechtsextremes Weltbild. Eine Demokratie, die diesen Namen verdient, kann diesen Anteil aushalten, ohne in Existenznöte zu geraten.Mit Argumenten sind diese acht Prozent ohnehin nicht zu erreichen. Der Rest derer, die AfD wählen, aber sehr wohl. Ganz zu schweigen von der Masse an Nichtwählern. Sie haben allerdings, um es salopp zu formulieren, die Schnauze gestrichen voll vom angeblich alternativlosen Neoliberalismus der etablierten Kräfte. Die Frage lautet, ob es ausreichend Interesse gibt daran, diese Menschen durch eine grundlegend andere Politik zu erreichen.
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