Blumen und Aufschrei

Muttertag Alljährlich am zweiten Maisonntag sollen wir unsere Mutter ehren. Der Tag ist eine feste ökonomische Größe geworden. Dabei war ursprünglich etwas anderes gemeint.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Fünfhundert weiße Nelken ließ Anna Marie Jarvis am zweiten Maisonntag des Jahres 1908 in der Kirche von Grafton, West-Virginia, verteilen: an alle anwesenden Mütter und zum Gedenken an ihre eigene, die drei Jahre zuvor verstorben war. Mrs. Jarvis widmete sich fortan dem Ziel, in den Vereinigten Staaten einen offiziellen Feiertag zu Ehren aller Mütter zu etablieren. 1914 war sie am Ziel. Der US-Kongress verabschiedete eine entsprechende Resolution: Als Zeichen der Verehrung der Mütter solle der 2. Sonntag im Mai gefeiert werden.

Der Muttertag trat seinen – auch ökonomischen - Siegeszug an. In den USA wird er im Einzelhandelsumsatz nur von Weihnachten übertroffen. In Deutschland wurde der Feiertag 1923 vom Verband Deutscher Blumengeschäftsinhaber ins Leben gerufen. Dass dem so war, bekommen wir heute noch überdeutlich zu spüren.

Anna Marie Jarvis war dieser kommerzielle Rummel zu viel. Sie forderte die Abschaffung des von ihr ins Leben gerufenen Feiertages, setzte dafür ihr Familienerbe ein, wurde wegen Störung einer Muttertagsfeier sogar kurzzeitig ins Gefängnis gesteckt. Sie starb 1948 in Armut und erklärte zwei Jahre vor ihrem Tod einem Zeitungsreporter, sie bedaure, den Muttertag ins Leben gerufen zu haben. Die Grußkarten und Blumen, die Mütter ritualisiert einmal im Jahr bekämen, seien für sie Ausdruck der Faulheit der Kinder gewesen, einen anständigen Brief zu schreiben.

Ungefähr einen Monat vor dem Muttertag des Jahres 2015 tauchte in den Medien die Studie einer Israelin auf. Sie hatte 23 Landsfrauen befragt, wie das denn so sei mit der nimmer enden wollenden Mutterliebe. Das Ergebnis schockierte: die Frauen bereuten unisono, Mutter geworden zu sein. Die Folge war – ganz modern – eine „Aufschrei“-Debatte in den einschlägigen sozialen Foren. Tenor: So weit könne es nun doch nicht gehen mit der Gleichberechtigung; Frauen würden sich wie die bösen Männer benehmen, die ihre Verantwortung dem gezeugten Nachwuchs gegenüber ablehnten. Kommentatoren sahen einen erneuten Beweis für den Egoismus der Moderne. Und aus der feministischen Ecke wurde so etwas getwittert: „Ich empfinde den Dialog um #regrettingmotherhood wunderschön, diese Ehrlichkeit ist hoffentlich ein weiterer Schritt zur Befreiung der Frau.“

Liebe Mutter, ich werde Dich am 10. Mai vormittags gegen halb zehn anrufen, zum Muttertag, wie jedes Jahr. Du bist einundachtzig. Und meine Mutter.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Constantin Rhon

Realist mit liberaler Grundhaltung.

Avatar