Wer ist verrückter: Javier Milei oder die deutschen Neoliberalen, die ihn auszeichnen?
Neoliberalismus Am Samstag erhält der rechtslibertäre Präsident Argentiniens Javier Milei, „El loco“, in Hamburg die Medaille des deutschen Neoliberalismus-Thinktanks der Hayek-Gesellschaft. Dagegen regt sich zurecht Protest
Javier Milei mit seiner Schwester Karina, seiner esoterischen Leitfigur
Foto: Tomas Cuesta/Getty Images
Würde es einen Wettbewerb zum skurrilsten Präsidenten der Welt geben, das argentinische Staatsoberhaupt Javier Milei könnte auf einen Platz ganz vorne hoffen. Warum sind deutsche Neoliberale trotzdem so versessen darauf, ihn als Verfechter neoliberaler Staatsfeindlichkeit auszuzeichnen? Am Samstag soll Milei in Hamburg die Hayek-Medaille der namensgleichen Gesellschaft bekommen. Die bewegt sich schon länger auf ideologischen Abwegen.
Javier Milei, der seit seiner Schulzeit den Beinamen „El loco“ (der Verrückte) trägt, hält mit Exzentrik und seinem Hang zu Übersinnlichem nicht hinter dem Berg. So ließ er seinen Hund Conan, den er nach eigenen Angaben vor 2000 Jahren im römischen Kolosseum kennenlernte, gleich mehrfach klonen. Dass
onen. Dass er sich für sehr besonders hält, machte er unlängst in einem Radiointerview deutlich: „Wenn schon Moses ständig kritisiert wurde, warum sollen die Leute mich nicht kritisieren?“ Seine Schwester Karina legte früher Tarotkarten, heute ist sie die Strippenzieherin des Regierungsprojekts. Milei selbst war Tantra-Lehrer und liebt Inszenierungen: Auftritte mit einer Kettensäge, Superhelden-Kostüm und Sing- und Tanz-Einlagen gehören zum Standard-Repertoire.Der Rechtslibertäre, der sich selbst „Anarcho-Kapitalist“ nennt, ist ein politischer Quereinsteiger. Vor der Covid-Pandemie betätigte sich der Mann mit der Mähne noch als Lautsprecher in Talkshows. Dann betrat er als Corona-Maßnahmenkritiker die politische Bühne und im letzten Jahr konnte er mit seiner Partei „La Libertad Avanza“ (Die Freiheit schreitet voran) überraschend die Präsidentschaftswahl gewinnen. Die Argentinierin Casandra Yanez von der Organisation Argentina Humana macht die Enttäuschung vieler Menschen mit der Vorgängerregierung für seinen Aufstieg verantwortlich. Der linksperonistische Ex-Präsident Alberto Fernández habe es nicht geschafft, die wirtschaftliche Situation der Menschen zu verbessern. Im Gegenteil: Durch die galoppierende Inflation mussten die meisten Menschen starke Reallohnverluste hinnehmen. „Milei gewann die Wahl dank seiner Hasskampagne gegen den Staat“, sagt Yanez. „Sein Versprechen, er würde auf magische Weise die Situation der Menschen verbessern, hat gezogen.“Milei führt einen Kampf gegen die „Ratten", die den Staat verteidigenIn Argentinien führt der 53-Jährige seit mittlerweile sechs Monaten seinen Kampf gegen den Staat und die „Ratten“, die ihn verteidigen: Erst stellte die Regierung die Lieferungen von Lebensmitteln an Suppenküchen ein, dann wurden Zigtausende aus dem Staatsdienst entlassen. Der Antidiskriminierungsstelle wurde genauso wie den staatlichen Universitäten das Budget gekürzt. Subventionen auf Transport, Strom und Gas werden ganz abgeschafft. Die Konsequenz: Die zuvor schon hohe Inflation ist nun auf einem Rekordniveau von 270 Prozent. Das alles für das „déficit cero“, die Schwarze Null. Heute sind 55,5 Prozent oder 25 Millionen Argentinier*innen arm, wie die Universidad Católica Argentina jüngst vermeldete.Nun kommt der Rechtsaußen vom Río de la Plata nach Deutschland. Am Samstag nimmt Milei die Medaille der Friedrich von Hayek-Gesellschaft entgegen. Ein Bündnis aus linken und lateinamerikanischen Gruppen ruft unter dem Motto „Keine Auszeichnung für extreme Rechte!“ in Sankt Pauli zum Protest auf. Yanez‘ Organisation ist auch dabei. „Milei gibt sich als Showman, aber in Wirklichkeit ist er ein Faschist,“ sagt die Aktivistin. Als Beleg führt sie das Demoverbot an, das Mileis Sicherheitsministerin Patricia Bullrich verhängt hat und die Anklagen gegen Demonstrant*innen mit Antiterrorgesetzen.Wer ist die Hayek-Gesellschaft, die den argentinischen Anti-Politiker in Hamburg auszeichnen will? Die nach dem österreichischen Säulenheiligen des Neoliberalismus benannte Gesellschaft hat sich der Hütung des „klassischen Liberalismus“ verschrieben, womit sie den Neoliberalismus meint, und entzweite sich 2015 über die Frage, wie man es mit der AfD halten solle. Sie ist Teil eines Netz von neoliberalen Stiftungen und Think-Tanks, die mit dem US-amerikanischen Atlas Network verbunden sind. Dieses wird vom Öl- und Gaskonzern ExxonMobil, von Philip Morris und den rechtskonservativen US-Milliardärs-Brüdern Koch gesponsert.Die deutschen Knoten des Atlas Networks„Die Kräfte des organisierten Neoliberalismus stützen sich in Deutschland auf eine ganze Reihe von Organisationen, die sich im Atlas Netzwerk zusammengeschlossen haben“, sagt Dieter Plehwe vom Wissenschaftszentrum Berlin. Kaum einer kennt sich in Deutschland mit neoliberalen Denkfabriken aus wie der Politikwissenschaftler. Zu Atlas gehört auch das Netzwerk Ordnungsökonomik und Sozialphilosophie (NOUS). Die bis 2015 als Vorsitzende der Hayek-Gesellschaft amtierende Karen Horn gründete es zusammen mit Lars Feld, einem ehemaligen „Wirtschaftsweisen“. Dieser ist aktuell Chefberater von Bundesfinanzminister Christian Lindner. Ebenfalls Atlas-Partner ist das Prometheus Institut von Frank Schäffler. Der FDP-Bundestagsabgeordnete orchestrierte die scharfe Kampagne gegen das Gebäudeenergiegesetz in seiner Partei. 2014 bekannte er im Handelsblatt: „Ich bin ein Klimaskeptiker.“ Sofern sich die Erde trotz seiner Zweifel erhitze, freue er sich „über die besseren Ernteerträge, die milderen Winter und den besseren Wein.“Und dann eben die marktradikale Hayek-Gesellschaft. Sie verfolgt das Ziel, die Ideen des neoliberalen Vordenkers Friedrich August von Hayek (1899-1992) in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft zu verbreiten. Sie unterhält enge Verbindungen nicht nur zur FDP und diversen neoliberalen Lobbyorganisationen, Stiftungen und Think-Tanks – sondern immer mehr auch zur AfD und Werteunion. Die Öffnung zu nationalkonservativen und rechtsextremen Neoliberalen veranlasste einige FDP-Mitglieder die Gesellschaft zu verlassen, darunter auch Lindner. 2021 trat die AfD-Vorsitzende Alice Weidel aus, um Vorwürfe einer allzu großen AfD-Nähe zu entkräften, Beatriz von Storch und Georg Maaßen sind weiterhin dabei.Der aktuelle Vorsitzende Stefan Kooths, der Professor am Kieler Institut für Weltwirtschaft ist, scheint bewusst an der Annäherung an Rechtsaußen interessiert. Das verdeutlicht der Umgang mit dem Mitglied Ulrich Vosgerau. Dieser ist der Anwalt von Björn Höcke und nahm am Potsdamer Treffen zur „Remigration“ teil – für Kooths kein Grund zur Sorge.Milei sei ein Glücksfall, sagt der Vorsitzende der deutschen Hayek-JüngerDer argentinische Präsident sei ein Glücksfall für den Liberalismus, erklärte Kooths kürzlich. „Die Hayek-Gesellschaft dankt vor allem verdienten Mitgliedern und Freunden, darunter viele Ökonomen und einige Rechtswissenschaftler, mit der Vergabe der Hayek-Medaille“, sagt der Neoliberalismus-Experte Plehwe. Und tatsächlich: Milei kommt aus dem gleichen Stall, er ist ein Produkt der argentinischen Atlas-Bubble. So schulte er sich beim argentinischen Ableger, der Fundación Libertad y Progreso. Erst vergangene Woche sprach er bei einer Atlas-Konferenz in Buenos Aires: „Das Modell der sozialen Gerechtigkeit ist gescheitert. Denn es setzt voraus, dass Geld von Privatmenschen konfisziert wird.“ Der Staat sei eine kriminelle und gewalttätige Organisation – Steuern sind in Mileis Verständnis Raub.„Hayeks Kampf beschränkte sich nicht auf die sozialistische Staatenwelt“, so Plehwe, „er galt ebenso den sozialdemokratisch und christlich-sozial inspirierten Wohlfahrtsstaaten, weil sie auf dem Grundprinzip der Umverteilung beruhten.“ Wie Hayek, den Milei vergöttert und immer wieder zitiert, hat sich auch der argentinische Präsident dem Kampf gegen alles verschrieben, was er für sozialistisch hält. Dazu gehören auch Klimaschutz und der Feminismus, wie er im Februar beim Weltwirtschaftsforum in Davos erläuterte. Vielen Zuhörer*innen stockte für einen Moment wahrnehmbar der Atem, aber dann klatschten sie doch.
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