In den vergangenen 15 Monaten hat sich das Leben von Nela Riehl krass beschleunigt, um dann, am 9. Juni, noch mal richtig Fahrt aufzunehmen. „Sorry, dass es später geworden ist“, entschuldigt sich Riehl, als sie abgehetzt zum Interview kommt. Die Registrierung der neuen EU-Abgeordneten, die sie gerade absolviert hat, habe ewig gedauert – Fingerabdrücke, Fotos, Sicherheitscheck, Finanzcheck. Alles ist neu, alles aufregend. Riehl strahlt. „Jetzt bin ich da.“
„Da“ – das heißt in diesem Fall: im Europäischen Parlament. Die 38-jährige Hamburgerin zieht für die Kleinstpartei Volt ein, die bei der Wahl am 9. Juni 2,6 Prozent der Stimmen der deutschen Wähler*innen erhielt und drei Abgeordnete nach Brüssel schick
sel schickt. Ein Riesenerfolg für die Partei, die erst seit 2017 existiert. Bei der letzten EU-Wahl 2019 errang sie ein Mandat, dieses Mal sind es gleich fünf – drei aus Deutschland, zwei aus den Niederlanden. Volt versteht sich als gesamteuropäische Partei und lehnt den Fokus auf nationale Interessen und Organisationsstrukturen ab.„Trau dich, Europa“ stand auf den lila Wahlplakaten, auf denen Riehl abgebildet war. In Jeans und grauem T-Shirt, die Afrolocken zum lockeren Zopf gebunden, lächelte sie die Betrachter*innen an. „Trau dich“ – das passt auch zu Riehl als Person.Im März 2023 hat die Lehrerin und zweifache Mutter entschieden, politisch aktiv zu werden. „Das Generationenversprechen gilt nicht mehr“, sagt Riehl mit ernster Stimme. Die Aussicht, es mal besser zu haben als die eigenen Eltern. „Ich meine nicht, dass meine Kinder mal Porsche fahren sollen“, stellt sie klar. Aber Krieg, Krisen und Unsicherheit bedrohten deren Zukunft, also habe sie das Gefühl gehabt, etwas tun zu müssen. Im März 2023 trat sie Volt bei. Von da an sei es schnell gegangen. „Versuch es doch mal, lass dich aufstellen“, hätten Mitstreiter*innen ihr gesagt. Im September wurde sie zur einzigen Schwarzen Spitzenkandidatin einer deutschen Partei gewählt. „Ich war völlig überrascht“, sagt Riehl.Eine Parteikarriere vom Neumitglied bis zur EU-Spitzenkandidatin in nur 15 Monaten – so etwas ist bei den etablierten Parteien undenkbar. Riehl weiß das. Als junge Erwachsene war sie bei Veranstaltungen der Jusos und der Grünen Jugend. Dort habe sie den Eindruck bekommen: „Wenn dein Papa hier nicht auch schon Karriere gemacht hat, wirst du hier nichts.“ Somit konnte und wollte sie dort auch nichts werden.Denn Riehl erzählt ihre Biografie als klassische Aufstiegsgeschichte. Ihr Vater kam in den 1970er Jahren aus Ghana nach Deutschland und arbeitete als Taxifahrer. Als Nela geboren wurde, brach ihre Mutter das Studium ab. „Heute würde man sagen, wir waren armutsbetroffen“, sagt Riehl. Mittlerweile betrachtet sie sich als privilegiert, weil sie in einem Haus wohnt und ein Beamtengehalt bezieht. „Dabei war dieses bürgerlich-spießige Leben nie mein Ziel!“, sagt Riehl.Dass sie Lehrerin werden wollte, habe sie schon als Schülerin gewusst, allerdings wollte sie es sich zuerst nicht eingestehen. „Wieder zurück in die Schule zu gehen war uncool“, sagt sie. Sie schrieb sich stattdessen für Kulturwissenschaften ein und pendelte von Hamburg nach Lüneburg. Einmal, im zweiten Semester, habe sie morgens im Zug gehört, wie sich zwei Lehramtsstudent*innen über ihre Erfahrungen austauschten. Da habe sie sich eingestehen müssen, dass sie das auch für sich wolle. „Trau dich, Nela, habe ich mir gesagt.“ Sie wechselte und wurde Lehrerin an einer Stadtteilschule. „Ich liebe meinen Job“, sagt Riehl. Andererseits sei Brüssel jetzt genau der richtige Ort für sie, zu genau der richtigen Zeit. „Der Spirit, den wir fünf Volt-Abgeordneten verbreiten, ist unglaublich“, sagt sie, in ihrer Stimme schwingt Begeisterung mit.Um diese Energie geht es Volt. Das Durchschnittsalter der Abgeordneten liegt unter 35, die Partei hat keine eigene Jugendorganisation, weil sie keine braucht. Viele, die sich bei Volt engagieren, haben wie Riehl keine anderen parteipolitischen Stationen hinter sich.Vor allem junge Wähler*innen honorierten das: Im Wählerspektrum der 16- bis 24-Jährigen gaben neun Prozent Volt ihre Stimme. Gleichzeitig wissen viele nicht genau, für welche Inhalte die Partei steht, die sich weder rechts noch links einordnen will. Was sagt Nela Riehl? Volt stehe „für menschenfreundliche Ideen und eine stärkere Demokratisierung der Politik“. Und einen Komplettumbau der EU. Die Kommission soll zu einer eigenständigen europäischen Regierung werden. Nela Riehl möchte die erste europäische Außenministerin werden. „Unsere Außenpolitik ist zu handelsbasiert“, kritisiert Riehl. Sie wolle stattdessen Menschenrechte in den Fokus rücken. Weitere Punkte im Programm von Volt sind die Entkriminalisierung der Seenotrettung und der Kohleausstieg bis 2030. Bildung und Digitalisierung sind ebenfalls Schlüsselthemen der Partei.Nach den ersten Tagen in Brüssel fährt Riehl jetzt erst mal nach Hause. Bevor ihr Mandat am 16. Juli offiziell beginnt, will sie noch Zeit mit ihrer Familie verbringen. Und noch mal in die Schule gehen – bis zu den Sommerferien sind es noch zwei Wochen. Die will sie nutzen, um sich zu verabschieden.