Bundestagswahl Die progressiven Parteien vermasseln mal wieder den Wahlkampf. Das liegt weniger an den Qualitäten der CDU als an der Zahnlosigkeit der Gegner. Wie konnte es dazu kommen?
„Es war ein langweiliger Wahlkampf. Die Kandidatur der Herausforderer der bisherigen Koalition schien nach einem vielversprechenden Beginn gegenüber der Union hoffnungslos abgeschlagen. Die Ursachen lagen einerseits in mehrfachen, massenmedial weithin beachteten Fehltritten, andererseits in der mangelnden eigenen Machtperspektive“. Dieser Vorspann ist verfasst 2021, aber könnte fast genauso gut die Bundestagswahlkämpfe 2009, 2013 und 2017 beschreiben.
Das Originellste an diesem Bundestagswahlkampf im Jahr 2021 liegt nicht in der bündnisgrünen Kanzlerinnenkandidatur, sondern darin, dass sich Angela Merkel zum ersten Mal seit 16 Jahren nicht mehr um das Amt der Regierungschefin bewirbt. Ansonsten ist sehr Vieles im parteipolitischen Karneval dieses Jahres
parteipolitischen Karneval dieses Jahres mit den Verläufen früherer Wahlgänge austauschbar. Wiederum scheint alles auf eine unionsgeführte Bundesregierung hinauszulaufen – und das, obwohl die Rahmenbedingungen der diesjährigen Bundestagswahl gar nicht unbedingt für die Unionsparteien arbeiteten. Das ist es, was die Lage aus fortschrittlicher Sicht so ärgerlich und tragisch macht. In vielerlei Hinsicht waren die Bedingungen für einen linken Aufbruch noch nie so günstig. Aber es sieht stark danach aus, als hätten es die Parteien links von Union und FDP wieder einmal vermasselt.Was wir beobachten können, hat Bedeutung über den Wahlkampf hinaus. Angela Merkel mag im Herbst als Kanzlerin abtreten, aber der Merkelismus wird vermutlich noch eine ganze Weile quicklebendig bleiben. Merkelismus soll heißen: Unwillen und Unfähigkeit der Politik in der Bundesrepublik, durch auch kontrovers ausgetragene Sachkonflikte die Weichen dafür zu stellen, in welche Richtung sich das Land entwickeln sollte. Das musste keinesfalls so kommen. Unklar ist, ob man die Wiederkehr des Gleichen noch abwenden kann.Kurzfristige Fehler: Der grüne Kaiser ist auf einmal nacktIn einer Juli-Ausgabe arbeitet sich der SPIEGEL an den handwerklichen Fehlern ab, die der Wahlkampagne der bündnisgrünen Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock unterlaufen sind. Es ist eine ganze Reihe an Kritikpunkten: Nicht gemeldete Zusatzeinkünfte, aufgehübschter Lebenslauf, unklug platzierter Hinweis auf notwendige Benzinpreissteigerungen, zuletzt das Skandälchen um abgeschriebene Stellen in Baerbocks ohnehin nicht berauschendem Buch Jetzt!. Das Magazin liegt damit nicht völlig falsch, aber letztlich sieht der SPIEGEL vor lauter Bäumen den Wald nicht.Wäre der diesjährige Wahlkampf von einem leidenschaftlichen Streit um Sachthemen geprägt, bei denen es, wie man sagt, „um’s Eingemachte“ geht, interessierte sich niemand für das verbaerbockte Buch. Außer glühenden Fans der Kandidatin und ihrer Partei, den pflichtschuldig rezensierenden Journalistinnen und Journalisten und der politischen Konkurrenz auf der Suche nach Kritisierbarem wird es am Ende ohnehin niemand ernsthaft gelesen haben. Liefe der Wahlkampf deutlich oberhalb des bisherigen Niveau-Limbos, wäre Armin Laschet bereits vor der Hochwasserkatastrophe im Westen und Südwesten für seine Karikatur eines Wahlprogramms in jeder Talksendung auseinander genommen worden.Laschet hätte sich dann nicht nur für den Beinahe-Totalausfall an Klimapolitik bei der Union rechtfertigen müssen, nicht nur für eine wahrheitswidriges Hin und Her in der Frage von Steuererleichterungen in eben jenem Programm. Er wäre vielmehr auch für seine Version einer Voodoo-Ökonomie gestellt worden, bei der es zwar keine Steuererhöhungen geben soll, die zum ökologischen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft notwendigen Investitionen aber trotzdem aufgebracht werden können, obwohl der Aachener und seine Partei die Schuldenbremse möglichst bald wieder anwenden wollen. Erst unter Bedingungen solch eines politischen Kreuzverhörs verdampfte vielleicht endlich Laschets „Wahlkampf der strategischen Ambitionslosigkeit“ (Bernd Ulrich), den er bislang so unerreicht erfolgreich bestritten hat. Dann kämen Progressive nicht in die Versuchung, sich den Sturz Laschets über einen missglückten Video-Auftritt und ungelenke Auftritte zu erhoffen. Und vermutlich würde dann auch den Wählerinnen und Wählern klar, was in diesem und den nächsten Jahren eigentlich politisch auf dem Spiel steht.Dies wünschen sich wohl nicht wenige fortschrittliche und linksliberale Kommentator:innen sowie andere, die einfach vom bisherigen Wahlkampf enttäuscht wurden. Eine Politisierung des Wahlkampfs in der aktuellen Konstellation wäre jedoch ein zweischneidiges Schwert. Drehte sich die öffentliche Auseinandersetzung weniger um persönliche Qualitäten als um Inhalte, bedeutete das keineswegs schon ein Heimspiel für Bündnis 90/ Die Grünen. Spielten Baerbock und ihre UnterstützerInnen die Inhalte ihres Wahlprogramms in den Vordergrund, wäre alsbald die Frage unvermeidlich – und würde auch nur zu gerne von Union, FDP und AfD instrumentalisiert –, mit wem dieser durchaus fortschrittliche Forderungskatalog denn eigentlich umzusetzen sei. Wären die Bündnisgrünen ehrlich, könnte die Antwort nur lauten: Mit einer grün-rot-roten Koalition. Keine andere Farbkonstellation an der Regierung käme plausibel dafür infrage. Bereits anlässlich des Programmparteitags hatte das Ulrich Schulte für die taz in unbestechlicher Klarheit festgehalten: „Ein Großteil der Ideen wird in der Koalition mit CDU und CSU nämlich nie das Licht der Welt erblicken. Es wird mit CDU und CSU keinen Abschied von Hartz IV geben, also keine sanktionsfreie Grundsicherung und auch keine Regelsätze von 603 Euro. Es wird keine Bürgerversicherung geben und auch keinen Mindestlohn von 12 Euro, außerdem keine Kindergrundsicherung, keine Vermögensteuer, keine Abschaffung des Ehegattensplittings, keinen Klimapass für Geflüchtete, keine Änderung des Transsexuellengesetzes und keine echte Abkehr von der Schuldenbremse, also kein Geld für all die grünen Investitionswünsche, die viele Milliarden Euro kosten.“ Das offen sagen wollten die Bündnisgrünen aber zu keinem Zeitpunkt – weder ihrer Mitgliedschaft, noch ihren Wähler:innen, noch der Öffentlichkeit insgesamt. Vielleicht wollten Annalena Baerbock und ihr Ko-Vorsitzender Robert Habeck diese genannten Inhalte auch eigentlich nicht, sondern steuerten von Anfang an eine Koalition mit der Union an, und waren deswegen bereit, die fortschrittlichen Teile des Wahlprogramms zu opfern, wie es ihnen viele nicht-grüne linke Kritiker:innen schon lange unterstellen. Aber auch in diese Richtung gaben sie keinerlei Anzeichen oder, wie man in der Fachsprache sagt, „Koalitionssignale“.Ein Plan wie von der SPD geschmiedetIm Rückblick liegt die Vermutung nahe, der real existierende Grünen-Wahlkampf habe voll darauf gesetzt, mit dem allseits beschworenen grünen „Lebensgefühl“, mit den bekannten grünen Feelgood-Konsens-Kumbaya-Botschaften („wir sind bunt, hip, gegen rechts und für die Umwelt“) so viel wahlpolitische Schwungmasse zu sammeln, dass es für einen komfortablen Spaziergang ins Kanzleramt reicht. Eine siegreiche grüne Kanzlerkandidatin Baerbock hätte dann nach der Wahl mit der (nicht ernst gemeinten, aber für die Union dennoch ernst zu nehmenden) Drohung einer grün-rot-roten Koalition die Union beim Koalitionsvertrag gefügig gemacht. Und mit dem Verweis auf „staatspolitische Verantwortung“ und die ach-so-furchtbaren außen- und europapolitischen Positionen der LINKEN hätte sich die bündnisgrüne Basis – wenn auch wegen ihrer Fridays for Future-Zugänge wohl zähneknirschend – in dieses Szenario eingereiht.Insofern war der Plan der Bündnisgrünen dem der SPD in den Jahren 2013 und 2017 nicht unähnlich. Auch die Sozialdemokraten hatten damals versucht, mit einem tendenziell fortschrittlichen Wahlprogramm, aber einer parteirechten und auf den vermuteten Massengeschmack zielenden Kanzlerkandidatur im Wahlkampf möglichst vage bleiben zu können. Allerdings stolperten die Bündnisgrünen auch in die gleiche Schieflage wie die SPD vor acht und vier Jahren: Will man einen personalisierten Wahlkampf machen, einen Image-Wahlkampf, der bloß keine richtungspolitische Entscheidung zwischen Links und Rechts abbilden soll, dann muss er „sitzen“. Je geringer die Substanz, mit der man vors Publikum tritt, desto verwundbarer ist man durch die Fallhöhe der inszenierten Makellosigkeit. Ein Kandidat:innen-Hype ist wie ein Fahrrad – wenn es nicht vorwärts geht, fällt es um.An dieser Strategie der Bündnisgrünen kann man Vieles kritisieren. Doch gerade Linke sollten dabei einen wichtigen Punkt nicht übersehen: Eine fortschrittliche Mehrheit bei Bundestagswahlen ist jetzt, wo sich die AfD fest im Parteiensystem eingenistet hat, nur möglich, wenn es gelingt, hinreichend viele Wähler:innen von der Union und/oder vormalige Nichtwähler:innen zu gewinnen. Nach Lage der Dinge könnte dies bei dieser Bundestagswahl nur den Bündnisgrünen gelingen. Es spricht jedoch einiges dafür, dass Baerbocks Partei für diese Herausforderung versuchte, so vage wie möglich zu bleiben, um auch der Union nicht abgeneigte Wechselwähler:innen nicht zu verschrecken.Woran es nicht gelegen hat: Märchen, mit denen wir uns selbst ruhig stellenZumindest bis zu den schrecklichen Hochwasserkatastrophen von Mitte Juli hatte Armin Laschet eine nahezu traumhafte Situation erreicht. Er schien Angela Merkel darin beerben zu können, gleichsam im Schlafwagen ins Kanzleramt zu rollen, während seine Konkurrenz von links sich mit eigenen Fehlern blamiert (Grüne), ihr ein Verlierer-Image anhängt (SPD) oder sie sogar mit der Existenz kämpft (DIE LINKE). Wie konnte das kommen bei einer Ausgangslage, die für die Unionsparteien viel ungünstiger, für die Parteien links von CDU/CSU viel günstiger war? Immer häufiger hörte man in Gesprächen dazu Argumente und Topoi, wie sie die Ära Merkel schon seit Ende der Nullerjahre begleiten. Damit wächst Merkels langer Regierungszeit, wie jetzt auch Armin Laschets Kanzlerkandidatur ein Nimbus der Unvermeidlichkeit zu, der politische Spielräume verschwinden lässt. Es hat natürlich auch etwas Beruhigendes für Sozialdemokrat:innen, Grüne und LINKE: Waren die Siege Merkels und ist der Laschets ohnehin nicht abzuwenden, braucht man das eigene Vorgehen nicht zu hinterfragen. Ein typisches Märchen führt diesen Erfolg der Union auf eine tief verwurzelte politische Kultur und bei den Wähler:innen verankerte Dispositionen zurück: grundsätzlich unpolitische Haltungen, obrigkeitsstaatliche Orientierungen und ein ausgeprägtes Harmoniebedürfnis. Das ist aber wenig plausibel, bedenkt man etwa den Mythos, der die Zeit Willy Brandts umgibt; die Bedeutung Deutschlands als Heimat vieler alter und neuer sozialer Bewegungen und das im Rückblick fulminante Tempo der gesellschaftspolitischen Liberalisierung seit Beginn der Ära Merkel. Auch passen weder die beispiellose Mobilisierungskraft der Willkommenskultur 2015, noch die gesellschaftspolitische Polarisierung der Bundesrepublik in dieses allzu simple Schema. Ein zweiter Mythos liegt in den vielen Varianten der Bindestrich-Gesellschaft. Lebten wir in einer „Risikogesellschaft“, einer „erschöpften“ Gesellschaft, einer „Gesellschaft der Singularitäten“ oder einer Gesellschaft des „metrischen Wir“, dann könnte in der Tat eine Black Box wie Angela Merkel oder nun eben Armin Laschet als Regierungschef(in) nahezu unvermeidlich sein. Denn in einer Gesellschaft wie den oben aufgezählten wäre es gar nicht möglich, hinreichend Menschen hinter positiv formulierten Vorhaben zu versammeln. Neben bestenfalls kleinen fortschrittlichen Veränderungen (ein gesetzlicher Mindestlohn, aber bitte nicht zu hoch; eine ‘Grundrente’, aber bitte nicht zu großzügig; ein ökologischer Umbau, aber bitte nicht zu doll und zu schnell) könnte man Koalitionen nur noch darüber zusammenbekommen, was man nicht will. Die Diagnosen von Bindestrich-Gesellschaften mögen bestimmte Ausschnitte der Realität treffend erfassen und auf einen Begriff bringen. Aber sie verallgemeinern unzulässig aus ihrem jeweiligen Blickwinkel heraus und kommen so zu überzogenen Schlussfolgerungen. Jedenfalls ließe sich durch dieses Raster nicht erklären, warum Merkel zwar bei der Bundestagswahl 2013 einen fulminanten Sieg eingefahren, aber bei jeder anderen Wahl, zu der sie als Kanzlerkandidatin antrat (2005, 2009, 2017) für die Union ein schlechteres Ergebnis als bei der vorherigen Wahl einfuhr. Gleich zwei Mal, nämlich 2009 und 2017 war Merkels Sieg ein bestenfalls relativer und verdankte sich vor allem dem Absturz der SPD auf ein historisches Tief. Eine dritte Legende schließlich kreist um Merkel als gewiefte Politikerin. Durch ihre geschickte Strategie der „strategischen“ oder „asymmetrischen Demobilisierung“ habe sie alle Konkurrenten ausmanövriert und deklassiert. An ihr konnten sich selbst erfahrene Politiker wie Franz-Walter Steinmeier, Peer Steinbrück oder Martin Schulz nur die Zähne ausbeißen. Keine Chance für Angriffe mangels Angriffsfläche. Aber auch diese Selbstberuhigungsargumente stechen nicht. Merkel gelang das Abräumen von Angriffsflächen, weil sie mögliche Konfliktthemen rechtzeitig vor der Wahl neutralisierte. Die beiden Konjunkturprogramme und die massive Anwendung der Kurzarbeit, die maßgeblich einen Absturz der deutschen Wirtschaft nach der Finanzkrise verhinderten, wurden 2008/2009 von CDU/CSU und SPD gemeinsam beschlossen. Die Mietpreisbremse übernahm Merkel 2013 von der SPD, und 2017 gab sie die Abstimmung über die „Ehe für alle“ im Bundestag einfach frei. Niemals aber wurde der Versuch unternommen, Merkel an einem Thema zu stellen, das zu schlucken für die Union unverdaulich geworden wäre. 2009 und 2013 hatte die SPD keine Machtoption, weil sie eine Koalition mit der LINKEN ausgeschlossen hatte. 2017 blieb Martin Schulz auf Anraten des Willy Brandt-Hauses inhaltlich so unkonkret, dass der anfängliche Hype um ihn nicht in eine anhaltende Begeisterung überführt werden konnte, sondern bald wieder verpuffte. Der beste Kronzeuge gegen die These von Merkels Unvermeidlichkeit kommt vom Erfinder der „asymmetrischen Mobilisierung“ selbst. Im Interview mit dem SPIEGEL wurde Matthias Jung, Chef der Forschungsgruppe Wahlen, 2018 ganz deutlich: „Die SPD hat’s immer noch nicht kapiert. Die einzige Methode, Merkel wirklich gefährlich zu werden, wäre gewesen, sie inhaltlich beim Thema soziale Gerechtigkeit anzugreifen. Aber dazu hat die SPD nicht wirklich die Kraft gefunden. Stattdessen hat Schulz mit dem Begriff herumhantiert, ohne ihn mit knallharten Inhalten zu füllen“. Mittel- und langfristige Folgen der Selbst-Merkelisierung in der Ära MerkelUm den berühmten Satz von Vito Corleone zu variieren, hätte man Merkel mit einem Angebot konfrontieren müssen, das sie nicht hätte übernehmen können. Es hätte so volksnah vorgetragen und mit Druck in die Öffentlichkeit getragen werden müssen, dass Merkel es nicht hätte ignorieren können. Dazu hätte es aber einer programmatischen und strategischen Entschiedenheit zur Ablösung der CDU/CSU an der Regierung durch eine fortschrittliche Alternative bedurft, die in der Bundesrepublik bis heute zu keinem Zeitpunkt jemals bestanden hat. Es fehlte bei SPD, Grünen und Linkspartei für alle erkennbar an politischem Willen und geeignetem Personal, um diesen Wechsel herbeizuführen.An dieser Stelle werden die Kontinuitäten offensichtlich, die die Parteien in der Bundesrepublik bis heute plagen. Merkel regierte so lange und Armin Laschet liegt so frustrierend anstrengungslos vorne – nicht weil sie so brillant sind (auch wenn es gar nicht darum geht, ihre Qualitäten abzustreiten), sondern weil die Konkurrent:innen so schwach, unentschieden und konfliktscheu sind. Nicht nur die CDU/CSU hat sich „merkelisiert“, sondern alle anderen Parteien haben sich diesem Zeitgeist ergeben.Es muss fast bizarr anmuten, dass man gegen die erdrückende historische Evidenz noch unterstreichen musste, wie wenig aggressiv, konfrontativ und verletzend dieser Wahlkampf des Jahres 2021 im Vergleich zu früheren Auseinandersetzungen anmutet. Gegen „Brandt alias Herbert Frahm“, „Freiheit statt Sozialismus!“, „Stoppt Strauß!“, „Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau“, „Ypsilanti, Al-Wazir und die Kommunisten stoppen!“ oder selbst die „roten Socken“ hat das Wahljahr 2021 mehr von einer Schlaftablette als einem Schlagabtausch, der den politischen Blutdruck hochtreibt. Die Parteien haben nicht nur darauf verzichtet, sie haben wahrscheinlich sogar verlernt, durch gezielte, oft auch polemisch übertriebene Zuspitzungen den Gegner aus der Reserve zu locken und die in Frage stehenden politischen Alternativen hinreichend scharf zu zeichnen. Natürlich, nicht jede Wahl kann und wird zu einer Volksabstimmung, die den gesellschaftspolitischen Fortschritt und außenpolitischen Gezeitenwechsel ratifiziert wie die berühmte „Willy-Wahl“ 1972. Aber früher war doch deutlicher, was politisch auf dem Spiel steht.Innerparteiliche KonfliktscheuUnübersehbar ist: Die äußere folgte aus einer inneren Konfliktscheu. Offene Auseinandersetzungen um den richtigen Kurs waren und blieben Ausnahmen, die die Regel bestätigen – zum Beispiel der Sonderparteitag der Bündnisgrünen 2007 zum Afghanistan-Einsatz, den eine kleine Basisrebellion erzwungen hatte; der Angriff auf Sigmar Gabriel auf offener Parteitagsbühne durch die damalige Juso-Vorsitzende Johanna Uekermann oder die von Frank Schaeffler in der FDP betriebene Urabstimmung gegen den Europäischen Stabilitätsmechanismen (ESM) in der ersten Hochphase der Eurokrise.Als Regel gilt, dass breitere Mobilisierungsversuche aus den Parteien heraus scheiterten oder fast immer brav blieben und kaum wagten, aus den vertrauten und vorgezeichneten Bahnen auszubrechen. Die Jusos wagten den Aufstand gegen eine weitere schwarz-rote Koalition erst 2017, als die einzige Alternative die Opposition oder eine (vom Bundespräsidenten Steinmeier verwehrte) Neuwahl war, aber nicht 2013, als rechnerisch auch eine rot-rot-grüne Zusammenarbeit möglich gewesen wäre. Jens Spahn und die Junge Union errangen auf dem CDU-Parteitag 2016 einen symbolischen Abstimmungserfolg mit einem Antrag gegen die doppelte Staatsbürgerschaft – aber mussten sich unmittelbar danach von Merkel darüber aufklären lassen, dass sich diese Position mit keiner infrage kommenden Partei nach der Bundestagswahl umsetzen ließe. Die Bewegung „Aufstehen“ von Sahra Wagenknecht endete bald als Rohrkrepierer. Noch die bemerkenswerteste Abweichung von Muster ist Christian Lindners „mic drop“ vom Spätherbst 2017, mit dem er die Jamaika-Koalitionsverhandlungen unverhofft beendete. Auch diese Geste führte letztlich – nirgendwo hin. Bei den Grünen wurden mit dem Amtsantritt von Annalena Baerbock und Robert Habeck alle erdenklichen Konflikte befriedet, bevor sie wirklich auf- oder ausbrechen konnten, und der seit den 1990ern tradierte innere Dualismus von „Realos“ und „Parteilinken“ deutlich relativiert. Bei der LINKEN wurden Konflikte abmoderiert, weil sich die spätestens ab 2015 gefestigten, gegensätzlichen Lager die Bastionen aufteilten. Die Partei glich immer mehr einer schlecht gealterten, unglücklichen Ehe, deren Partner nur der äußeren Notwendigkeit (lies: der Fünf-Prozent-Hürde) wegen zusammenbleiben.Lang lebe der Merkelismus!Von den Parteien konnten im Wesentlichen nur die Grünen und die AfD auf der Welle außerparteilicher Bewegungen surfen. Waren es bei den einen PEGIDA und lokale Mobilisierungen gegen Geflüchtete, so erlebten die anderen einen Auftrieb durch Fridays for Future. Das Gesamtbild aber zeigt eher eine zweifache Austrocknung politischer Parteien. „Von oben“ konnte oder wollte die Politik nicht mehr Anregungen aus dem intellektuellen Feld als politische Alternativen wirksam in die Öffentlichkeit übersetzen. Zwar veränderten Grüne und SPD zuletzt ihre Wirtschaftspolitik und wendeten sich gegen die Schuldenbremse und die „schwarze Null“. Allerdings fochten sie darüber keine scharfen Konflikte aus. „Von unten“ dünnte die Parteipolitik sozialstrukturell weiter aus, ihr Personal setzt sich immer homogener aus Akademiker:innen zusammen, wobei unter diesen wiederum viele Vertreter:innen vor allem Politikbetrieb-nahe Berufsabschlüsse vorzuweisen haben. Man denkt, spricht und handelt ähnlich, auch über durchaus vorhandene politische Differenzen hinweg. Einer so zusammengesetzten Politik fällt es aber scheinbar immer schwerer, Impulse und Anliegen aus der Bevölkerung wahrzunehmen, abzufragen und in praktische Politik umzusetzen.Umso aufgeschreckter und nervöser wirkt der gesamte politische Betrieb jedesmal, wenn es einer Bewegung gelingt, die Wahrnehmungsschwelle zu überschreiten und für eine bestimmte Zeit ein Thema zu setzen oder, wie während der Corona-Pandemie durch die „Querdenker“ oder weniger paranoid erscheinende Kritiker:innen, die vorherrschende Politik frontal anzugreifen. Auf der einen Seite steht so eine Parteipolitik, die den Frontalangriff gar nicht mehr gewohnt ist. Auf der anderen Seite steht ein seltsames, vielfältiges, aber auch verstreutes Feld von Bewegungen sehr unterschiedlicher Couleur und gemischter Vernunft-, Konsens- und Politikfähigkeit, denen oftmals nicht nur die Strategie, sondern auch die Ansprechpartnerin fehlt, um ihr Anliegen auch tatsächlich realisieren zu können.Das ist kein gutes „entweder-oder“, aber die Realität der bundesdeutschen Politik. Zumal das mittel- und langfristige Interesse der Parteien in Deutschland dahin geht, diese Konstellation fortzusetzen. Denn solange aus den Bewegungen keine Parteien hervorgehen, die absehbar die Fünf Prozent-Hürde überwinden können (und weder bei den Klimalisten, noch bei der Querdenkerpartei „die Basis“ oder der „PARTEI“ sieht es auf Bundesebene danach aus), werden die etablierten Parteien von einem perversen Effekt des personalisierten Verhältniswahlrechts profitieren. Je weniger Erststimmen notwendig sind, um einen Wahlkreis zu gewinnen – was durch Abschmelzen der Volksparteien, Wachstum der Grünen und Zunahme der der Kleinparteien eintreten dürfte –, desto größer muss und wird die Zahl der Ausgleichsmandate ausfallen. Die etablierten Parteien können so auch bei sinkenden Stimmenanteilen ihre Mandats- und Postenverluste begrenzen.Diese Ausgangslage stimmt für die Zukunft nicht unbedingt hoffnungsvoll. Was im Hinblick auf gesellschaftlichen Wandel durch Digitalisierung oder ökologischen Umbau an richtungsgebenden Entscheidungen auf die Bundesrepublik zukommt, wird sich nicht ausschließlich, wahrscheinlich auch nicht prioritär durch den konfliktvermeidenden Politikstil Angela Merkels bewältigen lassen. Schon gar nicht, ohne viele Verlierer:innen und soziale Spaltungen zu produzieren. Der diesjährige Bundestagswahlkampf führt aber vor, wie weit dieser Stil sich parteiübergreifend festgesetzt hat. Die wichtigste Legende um Merkel könnte deswegen vielleicht im Glauben daran liegen, die Kanzlerin habe erfolgreich den politischen Wettbewerb sediert. Vielmehr muss man die Behauptung vom Kopf auf die Füße stellen, damit sie stimmt: Merkel konnte so lange konfliktarm „durchregieren“, weil ihre Konkurrenz sich selbst bis zur Zahnlosigkeit gezähmt hat. Der Glauben an Merkels Unbesiegbarkeit war zu jedem Zeitpunkt mehr eine selbsterfüllende Prophezeiung als durch harte Fakten gedeckt. Der Kaiser war die ganze Zeit nackt, aber niemand forderte die Menge auf, dann wirklich hinzusehen. So wird Merkel im Spätherbst oder Winter 2021 abtreten, aber allem Anschein nach wird ein Merkelismus ohne Merkel fortbestehen. Er lastet wie ein Alp auf den Gehirnen der Lebenden.
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