Öffentlich-rechtlicher Rundfunk: ARD und ZDF in Schieflage
Medien Es ist ja nicht so, dass die Länder den öffentlich-rechtlichen Rundfunk nicht reformieren wollen. Jünger und sparsamer soll er werden. Aber was ist mit dem Anspruch, die Meinungsvielfalt in der Bevölkerung abzubilden und zu stärken?
Christian Hardinghaus: Kein Auge fürs „Politbarometer“
Velten Schäfer: Was ist dran am „Staatsfunk“?
Das warnende Beispiel BBC„Auntie“ lautet der Spitzname des Senders im englischen Volksmund. Als Tantchen bezeichnet wird eine nationale Institution: Die British Broadcasting Corporation, kurz BBC, ist das schon 1922 gegründete Modell für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk weltweit. Nach ihren Grundsätzen für Struktur und Programmauftrag entstanden nach dem Zweiten Weltkrieg auch die Funkhäuser in (West-)Deutschland.Den Anfang machte, in der damaligen britischen Zone, der Hamburger NWDR. Bald spaltete sich der WDR für das heutige Nordrhein-Westfalen ab, gemeinsam mit weiteren Regionalsendern bilden sie den föderal aufgebauten Verbund der ARD. Das wichtigste vom Vorbild BBC übernommene Prinzip war die Idee, sich nicht aus Steuern finanzieren zu lassen. Nutzungsgebühren sollten Unabhängigkeit gewährleisten und politische Willkür verhindern. Die Bedeutung dieser Maxime zeigte sich in den folgenden Jahrzehnten: Vor allem die angeblichen „Rotfunker“ bei NDR und WDR gerieten immer wieder ins Visier von Regierenden. CDU-Kanzler Konrad Adenauer scheiterte Anfang der 1960er Jahre mit dem Ziel, das ZDF als leicht zu beeinflussendes Staatsfernsehen zu etablieren.Eher gelang dies mit dem zur gleichen Zeit gestarteten Deutschlandfunk: Vor allem in der Anfangszeit diente dieser der Propaganda im Kalten Krieg, mit Priorität sollte er die Menschen in der durch die Mauer abgeriegelten DDR beschallen.Wie die Öffentlich-Rechtlichen hierzulande steht auch die BBC unter ständigem Druck vor allem konservativer Kräfte. Tory-Premierminister Boris Johnson wollte den Sender in seiner Amtszeit gleich komplett abwickeln. Privatisierung und die Abschaffung der sogenannten „licence fee“, des Pendants zur deutschen Rundfunkgebühr, standen als Drohkulisse im Raum.Die Abgabe pro Haushalt von umgerechnet rund 190 Euro pro Jahr wurde eingefroren, in den nächsten Jahren soll sie nur marginal steigen. Die Einnahmen der BBC sinken, 1.200 Arbeitsplätze wurden bereits gestrichen, weitere 2.000 von insgesamt 22.000 sind gefährdet. Einige Kanäle fusionierten, andere können nur noch online empfangen werden. Schon jetzt finanzieren sich die immer noch werbefreien Programme, erleichtert durch die Weltsprache Englisch, stärker aus der Vermarktung im Ausland (5,6 Milliarden Euro) als durch Gebühren (4,3 Milliarden).Der Druck auf die Ausrichtung der Narrative (siehe Text von Alice Klinkhammer) ist mit der Sparpolitik aber nicht gewichen. In jüngster Zeit geriet der Londoner Sender, der sich als internationales Leitmedium versteht, durch seine Berichterstattung über den Gaza-Krieg massiv in die Kritik. Parteinahme für Palästina lautet der Vorwurf aus proisraelischen Kreisen.Auf dem Kontinent entzündet sich der Unmut eher an der Einseitigkeit der Nachrichten zum Thema Ukraine (siehe Text von Christian Hardinghaus), die etwa dem Deutschlandfunk den Spottnamen „Radio Kiew“ eintrug: Dessen Meldungen fallen durch das Bemühen auf, möglichst häufig die (gar nicht falsche) Formel „russischer Angriffskrieg“ zu verwenden. Das Problem ist die Penetranz der Sprachregelung, für die eine politische Intervention gar nicht nötig war. Ganz ohne Direktiven, wie sie rechte Verschwörungstheorien gerne vermuten, sondern einfach aufgrund der Doxa (siehe Text von Velten Schäfer) ist die Redaktion zu jener Aufgabe zurückgekehrt, die einst zur Gründung des Kölner Funkhauses geführt hatte.„Embedded“ heißt solche Distanzlosigkeit im journalistischen Fachjargon. Parteilich antirussische Berichte irritieren vor allem im Osten Deutschlands. Dort wird der gebührenpflichtige Rundfunk besonders ausgeprägt als Zwangsabgabe wahrgenommen – und der Widerstand dagegen von der rechten AfD instrumentalisiert. Das erhöht den Druck auf die Länder, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu verschlanken. Eine nennenswerte Erhöhung des „Haushaltsbeitrags“, gegen den sich auch viele Ministerpräsidenten der Bundesländer wenden, scheint in absehbarer Zeit politisch kaum durchsetzbar. So wird die BBC zum warnenden Exempel: Den deutschen Nachahmern des Tantchens droht Ähnliches wie ihrem Pendant in Großbritannien. Thomas GesterkampSchlagseite bei den NarrativenNarrative sind verbindende, sinnstiftende Erzählungen. In den Medien begegnen sie uns als einordnende Deutungsrahmen für Berichterstattungsgegenstände. Wenn Marietta Slomka über die bundesweiten Demonstrationen gegen Rechtsextremismus von „Balsam für die Seele“ spricht, dann ist das ein Narrativ. Es verbindet die Zuschauer mit den Demonstranten – oder soll es tun.Das „Verbindende“ ist im Falle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks gesetzlich im Programmauftrag der Medienstaatsverträge festgeschrieben: Der ÖRR soll den „gesellschaftlichen Zusammenhalt“ fördern. In einer pluralistischen Demokratie funktioniert das durch die Integration von „Meinungsvielfalt“. Zur Auftragserfüllung müssten Medien – und der ÖRR im Besonderen – also stets mehrere Narrative bereitstellen, um die Auflage der Wahrung von Meinungsvielfalt zu erfüllen. Auch wenn die emotionale Seelenzustandsbekundung einer Moderatorin eigentlich nicht in eine Nachrichtensendung gehört: Solange die Redaktion dem „Balsam für die Seele“ auch den Unmut über teils linksextreme Parolen der Demo-Veranstalter gegenüberstellt, scheint der Auftrag erfüllt.Ein Unbehagen darüber, dass oft nicht mehrere, sondern nur einzelne Narrative die Berichterstattung prägen, ist nicht neu. Diesem Gefühl vieler eher konservativer Zuschauer pflichtet eine aktuelle Studie der Universität Mainz bei. Sie attestiert dem ÖRR eine „leichte Linksschiefe“. Die Forscher stellten signifikante Tendenzen zu einer bestimmten ideologischen Grundhaltung fest: eher liberal-progressiv als konservativ-autoritär (45 zu 25 Prozent) und deutlich eher sozialstaatsorientiert als marktorientiert (60 zu 17 Prozent). Vorsichtig konstatieren sie, es sei „offensichtlich, dass (…) in den meisten Formaten ausreichend Raum für eine Stärkung konservativer und marktliberaler Positionen vorhanden gewesen wäre“.Wo Raum für mehr Sichtbarkeit konservativer Positionen fehlt, wird er anderweitig besetzt – von einseitig linken Narrativen. Ein aktuelles Beispiel ist eine vom Bundesfamilienministerium geförderte Umfrage zu Hasssprache im Netz. ARD und ZDF berichten über hohe Betroffenenzahlen bei Frauen, Migranten und nicht-heterosexuellen Personen. Ein nicht berichteter Befund: Auch Angriffe gegen Konservative (Aussagen wie „Konservative sind Nazis“) empfinden drei Viertel der Befragten als Hass. Eine Reporterin bei Tagesschau24 berichtet jedoch, gerade politisch links denkende Menschen seien massiv von Hasssprache betroffen. Ein Blick in die Originalstudie belegt, dass das falsch ist. Sich als konservativ einstufende Befragte berichten zu mehr als der Hälfte (52 Prozent), dass sie Hass gegen sich aufgrund ihrer politischen Einstellung erleben. Das ist bei politisch Linksdenkenden sogar etwas weniger der Fall (48 Prozent). Das Narrativ der angefeindeten Linksliberalen dominiert, obwohl sich beide politischen Seiten in ihrer berichteten Hasserfahrung die Waage halten.Ein weiteres Beispiel ist der Bericht „Muslimfeindlichkeit – eine deutsche Bilanz“, eine Befundsammlung zu antimuslimischem Rassismus im Auftrag des Bundesinnenministeriums im Juni 2023. Das ZDF berichtete: „Jeder zweite Deutsche stimmt muslimfeindlichen Aussagen zu, wie ,Jungen, die Scheiße bauen‘ oder ,Mädchen, die verheiratet werden‘.“ Das ist falsch. Die Aussagen sind nicht repräsentativ abgefragt worden, sondern stammen aus einer qualitativen Arbeit aus dem Jahr 2014. Eine Doktorandin hatte 22 Jugendliche über Erfahrungen mit Rassismus diskutieren lassen. Mitnichten kann behauptet werden, jeder zweite Deutsche stimme dem zu. Das Narrativ des despektierlichen, muslimfeindlichen Deutschen jedoch füllt den Raum. Die Möglichkeit, skeptische, nicht feindliche Haltungen der Befragten gegenüber dem Islam zu thematisieren, wird verfehlt.Ein drittes Beispiel ist die „Mitte-Studie“, eine Umfrage zur Ermittlung „demokratiegefährdender Einstellungen in der Gesellschaft“, veröffentlicht im Herbst 2023. Acht Prozent der Bevölkerung teilen demnach ein „geschlossenes rechtsextremes Weltbild“. Die Hauptnachrichten berichteten von „alarmierender Verschiebung nach rechts“ und „zerbröselnden Grundwerten“. Was nicht berichtet wird: 57 Prozent stimmen der Aussage zu, in Deutschland dürfe man nichts Schlechtes über Ausländer sagen, ohne beschimpft zu werden. Es dominiert das Narrativ eines bedrohlichen Rechtsrucks der Mitte, während wahrgenommene Redeverbote einer tatsächlichen Mehrheit nicht benannt werden.Diese Fälle verdeutlichen: Das Verbindende, Sinnstiftende des Narrativs geht verloren. Zugunsten einer einzigen Lesart wird potenzieller Raum für vorhandene, ausgewogene Positionen unnötig verschenkt, den der ÖRR gesetzlich verpflichtend schaffen müsste. Der Auftrag, gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern, wird verfehlt und eine Spaltung geradezu befördert. Alice KlinkhammerDie Autorin ist Projektleiterin der Initiative für einen besseren öffentlich-rechtlichen Rundfunk bei REPUBLIK21 e.V. – Denkfabrik für neue bürgerliche PolitikKein Auge fürs „Politbarometer“In Zeiten verschärfter Krisen, in denen Politiker das Ende Europas, der Menschheit oder des Planeten beschwören, wird bei den Öffentlich-Rechtlichen tendenziell regierungsnah berichtet, so legen es Studien nahe. Nach der Corona-Krise ist es nun der Krieg in der Ukraine, der zum medialen Lackmustest avanciert. Wo Krieg ist, ist auch Propaganda, auch wenn das Wort einen Beigeschmack zu haben scheint.Propaganda nennt man alle Versuche, Menschen mittels Medien politisch-ideologisch zu manipulieren. Der Zweck von Kriegspropaganda ist es, einen Krieg im Volk zu legitimieren, Unterstützer in anderen Ländern zu finden und den Feind zu zermürben. Moderne Kriege werden so auch zu Informationskriegen, in denen die Destabilisierung des Gegners durch Informations- und Kommunikationstechnologie genauso wichtig ist wie der Einsatz konventioneller Waffen.Das Ziel des sogenannten Infowar ist nicht mehr nur, die eigene Bevölkerung zu beeinflussen, sondern auch die des Feindes zu gewinnen. Besonders die Zivilgesellschaften geraten durch die Infiltration sozialer Netzwerke durch digitale Kampfeinheiten der Kriegsparteien in den Fokus. Dieser „Psywar“ wird ebenso eifrig gegen Medien und Politiker anderer Länder geführt, umso erfolgreicher, je überforderter diese mit den neuen Prinzipien von Informationskriegen sind. Während sich also die medientechnologischen Verbreitungsmöglichkeiten im digitalen Zeitalter radikal verändert haben, funktionieren die psychologischen und rhetorischen Methoden heute nach den gleichen Prinzipien wie schon in der Antike. Wie immer geht es um die Einteilung der Welt in Gut und Böse (Manichäisierung). Während das eigene Land einen gerechten Krieg führt (Legitimierung), ist das des Gegners dem Bösen anheimgefallen (Dämonisierung).Es ist in diesem Zusammenhang interessant zu beobachten, wie dabei rhetorisch maximal auf die dunkle Geschichte des 20. Jahrhunderts Bezug genommen wird. Bald 80 Jahre nach dem Ende der Nazi-Herrschaft scheinen die einstigen Befreier im Westen und Osten selbst von einem Schatten Hitlers heimgesucht zu werden, in Gestalt von Putin und Trump (reductio ad hitlerum), so der Tenor in vielen Kommentaren.Auch der russische Präsident nutzt geschickt die Nazi-Keule, um die Welt glauben zu machen, dass seine „militärische Spezialoperation“ in der Ukraine der Befreiung von westlichen Nazis dient. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass die öffentlich-rechtlichen Medien von Putins Propaganda geblendet werden. Eher schon folgen sie der ukrainischen Propaganda, die maßgeblich von Präsident Selenskyj geprägt ist. Nach seinem vorherrschenden Narrativ ist der Krieg, den Russland in seinem Land führt, ein Kampf gegen den Westen insgesamt, wobei man sagen muss, dass Putin dieses Narrativ auch selbst bedient.Der Westen soll Angst haben, dass Russland ein europäisches Nachbarland nach dem anderen überfallen werde, wenn die Ukraine nicht mit allen Mitteln verteidigt wird (Slippery-Slope-Argument). Diese Haltung ist mittlerweile weitverbreitet. Sie schließt die diplomatische Option aus – oder delegitimiert sie zumindest. Wie geschieht das? Dazu hilft ein Blick in eine Studie der Otto-Brenner-Stiftung über die Berichterstattung deutscher Leitmedien (darunter ARD-Tagesschau und ZDF-heute) im ersten Kriegsjahr bis Januar 2023. In 4.300 Beiträgen erhielten Politiker die Möglichkeit, ihre Meinungen darzulegen, wobei 48 Prozent der SPD und 23 Prozent den Grünen zugeordnet wurden. Im Gegensatz dazu kamen Vertreter der AfD und der Linken kaum zu Wort. Da jedoch fast ausschließlich Politiker dieser Oppositionsparteien, unabhängig davon, welche eigene Agenda dahintersteckt, für diplomatische Lösungen eintraten, erhielten entsprechende Meinungen überhaupt keinen Raum.Dies wiegt umso schwerer, wenn man die Stimmungsbilder der Bevölkerung betrachtet, die für denselben Zeitraum erhoben wurden. Regelmäßigen Umfragen zufolge wünscht sich eine deutliche Mehrheit der Deutschen nämlich diplomatische Lösungen. Die Konsequenz folgt auf dem Fuße: Laut „Mainzer Langzeitstudie Medienvertrauen“ der Universitäten Mainz und Düsseldorf aus dem Jahr 2022 vertrauten schon im ersten Kriegsjahr nur 45 Prozent der Befragten der Ukraine-Berichterstattung. Dieser Trend scheint ungebrochen. Zwar fehlt hier noch die Studie, aber irrt, wer in der aktuellen Taurus-Debatte die Öffentlich-Rechtlichen eher auf der Seite der Scholz-Kritiker sieht? Eine Mehrheit der Bevölkerung lehnt die Lieferung ab. Man kann dazu die Öffentlich-Rechtlichen selbst konsultieren, in Form des ZDF-Politbarometers. Christian HardinghausVom Autor erschien 2023 im Europa-Verlag Kriegspropaganda und Medienmanipulation. Was Sie wissen sollten, um sich nicht täuschen zu lassenWas ist dran am „Staatsfunk“?Von Hans Heinrich Rupp bis Ernst-Wolfgang Böckenförde: Die Liste der klugen Köpfe ist lang, die schon versucht haben, „Staat“ und „Gesellschaft“ sauber zu trennen. Und es gibt einen Bereich, in dem das keine akademische Frage ist: nämlich den öffentlich-rechtlichen Rundfunk.Anders als die Nazi-Propaganda soll dieser „staatsfern“ sein: der Gesellschaft verantwortlich, nicht dem Staat. Der ist aber ihr Veranstalter, wenn auch die Länder und nicht der Bund. Dass es 16 Regierungen aus meist konkurrierenden Parteien sind statt nur einer, verdünnt den Staatseinfluss. Doch bleibt es paradox, dass hier der Staat für „Staatsferne“ sorgen soll. Der Staat, der existenzielle Macht hat über diese Medien, der sie ins Leben rief und sterben lassen kann: Der Ausstieg aus den öffentlich-rechtlichen Medien steht im Belieben jeder Landesregierung, in manchen Ländern sogar ohne Parlamentsbeschluss.Ist polemisch vom „Staatsfunk“ die Rede, – und das häuft sich spätestens seit Corona und Ukraine-Krieg –, geht es um eine oft gefühlte öffentlich-rechtliche Einheitsmeinung. Wie kommt es zu dieser? Niemand ruft morgens in den Redaktionen an, um den Spin des Tages durchzugeben. Jene robuste Übereinstimmung in den wichtigen Fragen, die aufstößt, sobald man sie auch nur punktuell nicht teilt, stellt sich im Wesentlichen von selbst her: auf den Fluren, in den Kantinen, in der Art von Witzen, über die man lacht – der Soziologe Pierre Bourdieu würde von „Doxa“ sprechen.Doch wird der gesetzliche Programmauftrag – „Unparteilichkeit“, „Meinungsvielfalt“ und „Ausgewogenheit“ im Sinne „internationaler Verständigung“, „europäischer Integration“ und „gesellschaftlichen Zusammenhalts“ – auch institutionell begleitet. Der ZDF-Fernsehrat, der Hörfunkrat beim Deutschlandradio sowie die aktuell neun regionalen ARD-Rundfunkräte beeinflussen die journalistische Arbeit zumindest indirekt. Sie wählen die Spitzenposten der Sender. Und sie können nach inhaltlichen Beschwerden redaktionelle Stellungnahmen einfordern, Redaktionsmitglieder zum Gespräch laden, sie zu Aussprachen mit Dritten veranlassen – und in gravierenden Fällen, so klingt es etwa beim NDR, „den Intendanten anweisen“, einen festgestellten Verstoß gegen den Programmauftrag „nicht fortzusetzen“.Das sind weitreichende Sanktionsmöglichkeiten. Umso wichtiger ist in puncto „Staatsferne“ die Zusammensetzung dieser Gremien. Welche Mitglieder sind nun „Staat“, welche „Gesellschaft“ – und wie viel Staat wäre zu viel für unsere Gesellschaftsmedien? Damit hat sich das Bundesverfassungsgericht schon mehrfach befasst. Den Rat des 1961 gegründeten ZDF hatte Kanzler Konrad Adenauer ursprünglich mit zwei Dritteln Regierungsbeauftragten besetzen wollen, was Karlsruhe zurückwies. 2014 stellten die Höchstrichter dann die Faustregel auf, dass Staatsferne im Sinne der Rundfunkfreiheit dann gegeben sei, wenn umgekehrt der Anteil „staatlicher und staatsnaher“ Mitglieder „ein Drittel der gesetzlichen Mitglieder“ nicht übersteige. Zugleich entschieden sie die eigentlich politologische Frage, ob die Parteien, die laut Grundgesetz an der Meinungsbildung des Volkes „mitwirken“, zur Gesellschaft oder zum Staat zählen: Gremienplätze, die die Parteien nach Stimmenproporz besetzen, gelten seither als „staatsnah“.Im ZDF, um das es 2014 ging, hatte der Anteil der „Staatsnahen“ bis dahin fast 50 Prozent betragen. Heute repräsentiert der Fernsehrat tatsächlich zu zwei Dritteln gesellschaftliche Gruppen, Initiativen und Lobbys. Wer aber hat im Zweifel mehr Standing: ein früherer Ministerpräsident, eine amtierende Bundesministerin – oder der Vorsitzende eines Inklusionsverbandes? Und sind nicht auch Leute, die etwa Kirchen, Wirtschaft oder Gewerkschaften vertreten, mitunter in Parteien?Zudem ist da das Problem der „Tickets“: In den Gremien gibt es „Freundeskreise“, die grob das Parteienspektrum abbilden, entscheidend sind der schwarze und der rote. Bei der Wahl des ZDF-Verwaltungsrats durch den Fernsehrat vor Jahresfrist wurde deren Einfluss wieder einmal publik: Einzelne Mitglieder wandten sich an die Presse, weil ihnen die Wahl abgekartet schien, ausgehandelt zwischen dem Ex-Bundesminister Franz-Josef Jung, der damals die Schwarzen führte, und dem Roten Frank Werneke, Verdi-Chef und SPD-Mitglied. Ihr gemeinsamer Vorschlag fand die erforderliche Drei-Fünftel-Mehrheit.Auch dieses Problem der Quasi-Listen ist in Karlsruhe notorisch. Schon 1991 befand das höchste Gericht, dass Gremienmitglieder ihre Mandate frei auszuüben hätten, also nicht gemäß den Agenden der entsendenden Organisationen. Wie aber prüft man geistige Unabhängigkeit?Es stimmt: Die Rede vom „Staatsfunk“ ist überpolemisch. Unterkomplex ist aber die Ansicht, es könne da gar kein Problem geben. Die „Staatsferne“ des öffentlich-rechtlichen Rundfunks war und ist dem Staat immer wieder abzuringen – und entspricht stets ziemlich genau dem Maß an „Staatsnähe“, das Karlsruhe gerade noch hinnimmt. Bis zum nächsten Verfahren, das so sicher kommt wie einstweilen um 20 Uhr die Tagesschau im Ersten.Deshalb ein ganz und gar abwegiger, gefährlich radikaler und haarsträubend naiver Vorschlag: Demokratie. Wie wäre es, wenn diese Gremien von der Gesellschaft direkt gewählt würden? Also von uns allen, die wir Gebühren zahlen? Parteien, Kirchen, Gewerkschaften und so weiter verlieren seit Langem an Mitgliedern. So scheint auch der Ansatz allmählich überholt, sie in diesen wichtigen Gremien „die Gesellschaft“ abbilden zu lassen.Interessierte könnten sich selbst vorstellen und Fürsprache suchen, vielleicht im Netz – und das Finale dann auf dem großen Bildschirm? Da wären auch ein paar schicke Formate drin, spannend, unterhaltend und doch im Sinne des Bildungsauftrages: „Deutschland wählt den Fernsehrat“, das könnte lustig werden. Und kluge Überlegungen, wie genau man nun Staat und Gesellschaft trennt, die bräuchte man dann auch nicht mehr. Velten Schäfer
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.