Palästinenser in Deutschland: „Ist unser Leben weniger wert?“
Gazastreifen Der Terror der Hamas und die Bombardierung des Gazastreifens durch das israelische Militär haben auch Folgen für die Palästinenser in Deutschland. Der Kontakt zu den Verwandten bricht immer wieder ab und viele haben Angehörige verloren
Der Trauer Raum geben ist in Gaza derzeit kaum möglich
Foto: Imago / SOPA Images
In Deutschland lebt die größte palästinensische Diasporagemeinschaft Europas. Viele der hier lebenden Palästinenser:innen sind persönlich stark von dem Beschuss des Gazastreifens durch das israelische Militär betroffen.
der Freitag: Danke, dass Du Dich bereit erklärt hast, dieses Gespräch zu führen. Du bist in Gaza aufgewachsen, hast dort studiert, Dich für Frauenrechte engagiert, lebst seit 2016 in Deutschland und arbeitest hier als Sozialarbeiterin. Der Großteil Deiner Familie lebt immer noch in Gaza.
Sarah A.*: Alle meine Erinnerungen sind dort. Ich vermisse mein Leben in Gaza, die Menschen, unser Haus, unseren Garten, die Orangenbäume, Spazierengehen, Teetrinken abends am Meer. Jetzt ist alles zerstört. Die Straße am M
en, Teetrinken abends am Meer. Jetzt ist alles zerstört. Die Straße am Meer, wo wir uns immer abends trafen, um ein bisschen Freiheit zu spüren, wurde zerstört.In den letzten Tagen hast Du mehrere Familienmitglieder durch die Bombardierungen des israelischen Militärs verloren. Das ist kein leichter Schritt, in einem intimen Moment der Trauer an die Öffentlichkeit zu gehen.Meine Eltern und Geschwister sind alle in Europa. Aber meine Cousinen, Tanten, Onkel, Nichten und Neffen sind im Gazastreifen. Ich habe 30 Familienmitglieder in Nord Gaza verloren. 14 davon sind Kinder unter 15 Jahren. Ich habe es über Facebook erfahren. Zuerst sah ich nur die Namen, dann habe ich weiter gesucht und sah die Bilder der Getöteten. Vor einer Woche habe ich noch mit einigen geschrieben, dann brach aber der Kontakt ab. Der letzte Kontakt war am 8. Oktober. Dann gab es keinen Strom mehr. Ich kann es nur schwer beschreiben, wie es sich anfühlt, eine Liste mit 30 Namen zu sehen: Großvater, Großmutter, Mutter, Vater, Kinder, Enkelkinder. Eine ganze Familie wurde ausgelöscht.Mein Beileid. Wie verlaufen die Bergungsarbeiten in Gaza, wenn es täglich Bombardierungen gibt?Es dauert sehr, sehr lange, die Menschen aus den Trümmern zu bergen. Die Rettungskräfte können erst bei Tagesanbruch kommen, um die Getöteten und Verletzten zu bergen. Nachts ist es ein großes Risiko. Niemand weiß, wo die Bomben gelandet sind oder landen werden. Es gibt kein ausreichendes Equipment für die Bergungsarbeiten. Die Hauptstraßen sind bombardiert, es ist schwer, Zugang zu den zerbombten Häusern zu bekommen. Die Krankenwagen kommen oft nicht durch. Dann übernehmen die Nachbarn und Familienangehörigen selbst die Bergungsarbeiten. Oft bleiben die Schwerverletzten und die Getöteten sehr lange unter den Trümmern liegen. Es ist schrecklich, die Bilder zu sehen, wie die Leichen aus den Trümmern geholt werden.Es gibt Aktivist:innen in Gaza, die versuchen, die Geschichte derjenigen, die getötet wurden, zu dokumentieren.Es ist eine schwierige Arbeit. Das Gesundheitsamt kommt durch die massiven Bombardierungen und die vielen Getöteten nicht hinterher, die Namen der Ermordeten zu veröffentlichen. Daher springen die Aktivist:innen ein: Wenn sie eine Nachricht erhalten, wo genau bombardiert wurde, versuchen sie über die Familiennamen und Facebook herauszufinden, wer genau gestorben ist. Dann fragen sie nach dem Alter und Fotos der Verstorbenen. Sie versuchen alles zu dokumentieren, damit niemand gesichts- und geschichtslos sterben muss.Das ist wie ein Archiv des Todes in Gaza, das leider gerade weiter geschrieben wird. Am 9. Oktober hat der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant eine komplette Belagerung verkündet: keine Elektrizität, kein Essen, kein Wasser, kein Gas.Ja, eine schwangere Freundin schrieb mir, dass sie kein Wasser und kein Essen mehr hat. 50.000 Frauen sind gerade schwanger in Gaza. 5.500 werden in den nächsten vier Wochen gebären. Ich weiß nicht, wie sie das überleben sollen. Die Krankenhäuser haben nur noch vier Stunden Strom am Tag. Einige mussten bereits schließen. Es gibt auch Berichte, dass es keine Anästhesiemittel mehr gibt, d.h. Operationen auch von Kindern müssen teilweise ohne Narkose durchgeführt werden. Die zwei Telekommunikationsanlagen wurden bombardiert. Die Menschen sind nicht erreichbar, sie sind komplett isoliert.Wie können die Menschen jetzt Zugang zu Wasser erhalten?Das Wasser aus den Leitungen in Gaza ist ungenießbar. In vielen Häusern wurden die Leitungen bombardiert oder von Israel abgedreht. Die Menschen müssen jetzt zu bestimmten Firmen gehen, die gefiltertes Wasser haben und Wasser abfüllen. Aber es reicht nicht aus.Am 10. Oktober sagte der UN-Menschenrechtskommissar Volker Türk, dass es gegen Internationales Recht sei, die Bevölkerung in Gaza von überlebenswichtiger Grundversorgung abzuschneiden.Ja, niemand versteht, wie das vor den Augen der ganzen Welt geschehen kann. Wir befinden uns seit 20 Tagen unter Bombardierung. Es wurden bereits mehr als 8.000 Menschen getötet. Es gibt bereits mehr als 18.000 Verletzte.Kann es überhaupt eine würdevolle Bestattung für die Getöteten unter diesen Umständen geben?Das israelische Militär hat so stark bombardiert, dass Gaza jetzt unterteilt ist. Die Hauptstraßen sind nicht befahrbar. Das heißt, die Leichen können oft nicht mehr zu den Krankenhäusern transportiert werden. Und wenn sie dorthin transportiert werden, dann müssen sie oft draußen gelagert werden. Sie können nicht mehr in Kühlschränken gelagert werden. Für viele Menschen gibt es keine Beerdigungen mehr. Und viele Menschen können nicht mehr bestattet werden, da von ihren Körpern nichts mehr übrig ist. Wir können nicht einmal unsere Familienmitglieder und Freund:innen in Würde verabschieden. Wir können keinen richtigen Abschied nehmen. Das wurde uns genommen.Der israelische Verteidigungsminister hat in seiner Ankündigung der kompletten Abrieglung des Gazastreifens Palästinenser:innen als „human animals“ (menschliche Tiere) bezeichnet. Wie ist es dazu gekommen, dass einer ganzen Bevölkerung die Menschlichkeit aberkannt wird?Das ist nicht auf einmal passiert. 2007 hat bereits die ganze Welt akzeptiert, dass es eine Blockade von Gaza gibt. 2008/9 wurde Gaza bombardiert und nichts ist passiert. 2012, 2014 und Mai im 2021 und jetzt wieder. Internationales Recht wird nicht eingehalten und niemand sagt etwas. Israel lehnt die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofes ab und lässt keine Untersuchungen einer Kommission zu. Alle israelischen Angriffe auf Gaza und Zivilisten wurden bisher als Israels Recht auf Selbstverteidigung akzeptiert.Du hast als Jugendliche und junge Frau in Gaza bereits mehrere militärische Angriffe miterlebt. Wie habt Ihr das überlebt als Familie?Ich weiß es nicht, ob wir das überlebt haben. Es war unsere Realität, wir konnten nicht fliehen. Ich habe bereits vier Invasionen durch das israelische Militär miterlebt. Schon als Jugendliche habe ich viele Freund:innen verloren. Ich träume immer noch von den Bombardierungen 2014. Als ich nach Berlin kam, habe ich in Spandau gelebt und der Flughafen Tegel war noch offen. Ich habe immer Panikattacken bekommen von den Geräuschen der Flugzeuge. Ich erschrecke mich bis heute sehr leicht. Aber unser Lebenswille war immer stärker als alles andere. Ein Angriffskrieg kann passieren und wir stehen immer wieder auf.Wie erinnerst Du Dich an den Anfang der israelischen Militärblockade des Gazastreifens?Die Blockade 2006 hat alles schwieriger gemacht, alles wurde kontrolliert, welche Waren, welches Essen in den Gazastreifen importiert werden durfte. Strom gab es immer nur ein paar Stunden am Tag. Das Schlimmste war die eingeschränkte Bewegungsfreiheit. Wir konnten Gaza nicht mehr verlassen, wir konnten nicht mehr ins Ausland reisen. Es gab nur zwei Grenzübergänge, Erez, im Norden an Israel grenzend und Rafah, im Süden an der Grenze zu Ägypten. Für Erez war es quasi unmöglich, eine Einreisegenehmigung zu erhalten, nur für Schwerkranke, die eine Behandlung brauchten. Rafah war ebenfalls geschlossen. Ausreisen war nur gegen sehr, sehr viel Geld möglich.Placeholder infobox-1Palästinensischer Widerstand wird in den Medien gerade sehr stark auf den Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 reduziert. Was gab es davor bereits für gewaltfreie Widerstandsbewegungen?Wir haben immer nach gewaltfreien Formen des Protests gestrebt. Die Palästinenser:innen in Gaza haben sich seit 2005 an dem Aufruf zum gewaltfreien Boykott beteiligt. Der March of Return 2018 war auch ein gewaltfreier Protest an den Grenzen von Gaza um ihr Rückkehrrecht und die Aufhebung der Blockade zu fordern. Die Botschaft der Menschen war: Wir wollen in Freiheit leben! Doch auch dieser gewaltfreie Protest wurde von dem israelischen Militär brutal niedergeschlagen. 214 Menschen wurden getötet. Seit 17 Jahren leben wir unter Blockade und menschenunwürdigen Bedingungen. Der Boykott wird sanktioniert. Unser gewaltfreier Protest wurde niedergeschlagen. Alle unsere gewaltfreien Versuche für unsere Rechte einzutreten, wurden absurderweise als Gewalt bezeichnet. Was will der israelische Staat von uns? Dass wir unser Recht auf ein Leben in Freiheit und Würde aufgeben und keinen Widerstand leisten? Dass wir uns tatsächlich als „menschliche Tiere“ behandeln lassen? Was erwarten die westlichen Regierungen, die USA und Israel von uns? Dass wir einfach schweigend sterben?Wie nimmst Du die Sprache in den Medien über Palästinenser:innen wahr?Gerade israelische Medien verzerren und entwerten palästinensisches Leben. Die Sprache der Medien ist entmenschlichend. Palästinenser:innen werden pauschalisiert als Terrorist:innen dargestellt. Ich bin daran gewöhnt. Aber trotzdem bin ich schockiert über die Berichterstattung der deutschen Medien: Auch hier scheinen wir als Menschen keinen Wert zu haben. Wo ist das Mitgefühl, die Empathie für die Menschen in Gaza? Im Bundestag wurde eine Schweigeminute für die getöteten jüdischen Israelis abgehalten. Ja, auch sie sollen betrauert werden. Aber ist unser Leben nichts wert? Ist palästinensisches Leben nicht betrauernswert? Wir sind auch Menschen, wir haben auch eine Geschichte und wir haben auch Rechte.Der Berliner Senat schickte am 13. Oktober 2023 ein Schreiben an alle Schüler:innen, in dem er das Tragen einer Kufiya und andere palästinensische Symbole verbot. Wie wirkt das auf Dich?Es ist ein sehr feindseliges Klima gegen uns Palästinenser:innen, in Israel, sowie hier. Es ist, als ob der allgemeine Wunsch bestünde, dass wir nicht existieren sollen. Und das hat einen sehr starken Effekt auf mich.Was bedeutet das für Dein Leben hier in Deutschland?Ich frage mich natürlich: Was mache ich hier? Ich fühle mich sehr alleine und sehr einsam. Ich habe mit vielen Freund:innen aus Gaza gesprochen, die im Exil leben. Alle sagen, sie wollen zurück nach Gaza, sie alle wollen zu ihren Familien. Wir wollen nicht in Ländern leben, die die Bombardierung unserer Familien unterstützen. Wir fühlen uns nicht zugehörig, wenn die Politik sich an Waffenverkauf und Profit orientiert anstatt am Wert von Menschenleben.Was sind die Botschaften, die Dich aktuell von Deiner Familie und Deinen Freund:innen aus Gaza erreichen?Wir wollen nicht als namenlose Nummern sterben. Sofortiger Waffenstillstand. Wir brauchen Essen, Wasser, Strom. Öffnet die Grenzen. Wir wollen Gaza nicht verlassen. Wir wollen in Sicherheit leben. Wir wollen keine zweite Nakba erleben. Aber öffnet zumindest die Grenzen.Und wie sieht eine Befreiung für Dich aus?Geradehabe ich all meine Hoffnung verloren. Ich möchte nur, dass die Kinder in Gaza in Sicherheit leben können. Ich möchte, dass die Kinder in Gaza wissen, dass sie in Zukunft nie bombardiert werden. Eine Imagination von Befreiung überfordert gerade meinen mentalen Zustand. Das Ausmaß dessen, was gerade passiert, hat mir leider wieder gezeigt, dass Israel für keine seiner Kriegsverbrechen zur Rechenschaft gezogen wird. Gleichzeitig sehe ich die Unterstützung von Palästinenser:innen in Jordanien, an den Grenzen zu Palästina und die Proteste im Irak und in Marokko. Und das gibt mir Hoffnung, dass eine Befreiung doch möglich ist.*Aus Angst vor Repressionen wurde der Namen der Interviewpartnerin anonymisiert.
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