Rezan Ali zum Weltflüchtlingstag: „Ich wollte in Syrien keine Menschen töten“

Interview Im Gespräch mit dem „Freitag“ berichtet Rezan Ali von seiner Flucht, dem Leben in Deutschland und seinen Wünschen für die Zukunft
Flüchtlingskamp in Atme in Nordsyrien direkt an der Grenze zur Türkei
Flüchtlingskamp in Atme in Nordsyrien direkt an der Grenze zur Türkei

Foto: Aaref Watad/AFP/Getty Images

Der Weltflüchtlingstag am 20. Juni soll daran erinnern, dass Millionen von Menschen gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen. Gegenwärtig sind laut des Flüchtlingshilfswerks UNHCR 120 Millionen Menschen auf der Flucht. Humanitäre Katastrophen nehmen zu und scheinen präsenter denn je. Personen aus Syrien stellen 2024 noch immer die Mehrzahl der Asylanträge in Deutschland. Rezan Ali war einer von ihnen. Der angehende Sozialarbeiter versucht sich seit seiner Flucht nach Deutschland 2015 eine gewaltfreie Zukunft im Westen des Landes aufzubauen. Wie kommt er zurecht zwischen zwei Kulturen und steigendem Rechtsruck?

der Freitag: Herr Ali, wie kam es zu Ihrer Flucht und wie verlief diese?

Rezan Ali: Ich habe 2013 Assads Syrien verlassen und war für ein Jahr in der Türkei, aber habe dort keine Perspektive für mich gesehen und bin dann 2015 mit 22 Jahren nach Deutschland. Ein Freund von mir hat angerufen und dann bin ich einfach mit. Wir waren insgesamt zwölf Tage unterwegs. Erst mit einem Schiff nach Griechenland, dann weiter zu Fuß, mit dem Auto, Zug oder Bus. Wir sind oft zu viel gelaufen. Teilweise wussten wir nicht, ob wir weitergehen können, weil wir von einer Gruppe gehört hatten, die Geflüchtete bedrohten und ihr Geld nahmen. Wir trafen auch Menschen, die Blut überströmt waren. Wir haben dann versucht so viele Leute wie möglich zu sammeln, knapp 200, sodass sie bei einem Angriff keine Chance gehabt hätten.

Und, hat das funktioniert?

Ja, Gott sei Dank ist nichts passiert. In Ungarn waren wir dann noch zwei Tage im Gefängnis, bis wir mit einem Schlepper weiter sind. Unsere größte Sorge war es, betrogen und an die Polizei ausgeliefert zu werden. Wir vereinbarten also, dass einer von uns immer wachbleiben sollte. Nach so vielen Tagen auf der Flucht schliefen wir dann doch alle ein. Irgendwann schrie der Fahrer: „Get out! Get out!“ Ich erschrak und wir sprangen einfach aus dem Auto, ohne weiter drüber nachzudenken. Als wir dann in Bayern ankamen, war da so ein Gefühl der Erleichterung. Wir haben alle getanzt, weil wir wussten, jetzt sind wir endlich da.

Wie war das auf dem Boot für Sie? Oft hört man von überfüllten Schiffen, die im Mittelmeer untergehen.

Ich hatte richtig Angst, weil ich nicht schwimmen kann. Vor der Fahrt haben wir dann extra mit dem Schlepper geredet. Er beruhigte uns, da er meinte, dass nur 40 Personen auf dem Boot sind. Als wir dann da waren, dann waren da auf einmal 60 und wir wollten nicht mehr mitfahren. Ein Mann hat uns daraufhin mit seiner Pistole bedroht. Da haben wir gemerkt: Wir haben keine andere Wahl und sind mitgefahren.

Wie ging es Ihnen nach Ihrer Ankunft in Deutschland? Haben Sie sich gut aufgenommen gefühlt?

Der Anfang war schwer für mich. Für mich war es sehr wichtig, die deutsche Sprache zu lernen, ich wollte die Menschen und die Kultur verstehen, eine handwerkliche Ausbildung beginnen oder weiter studieren. In Syrien war ich damals in Mathe eingeschrieben. Hier musste ich ein Jahr lang auf einen Sprachkurs warten. Zum Glück habe ich deutsche Freunde kennengelernt, die mir Kraft gaben und mir erklärten, wie das hier funktioniert, dass es hier normal ist, so lange zu warten. Für jemanden, der nicht weiß, wie das hier läuft, ist das echt schwer. Ich habe mich so oft gefragt, warum ich nichts machen konnte. Am Ende wollte ich sogar zurück in die Türkei. Das ist halt so eine Ambivalenz: Die Gesellschaft erwartet von dir, dass du Deutsch sprechen kannst. Gleichzeitig hast du das Gefühl, du darfst es nicht. Ich habe Männer kennengelernt, die wollten irgendwann kein Deutsch mehr lernen. Zum Glück habe ich nicht aufgegeben und versucht, mir die Sprache zu Hause selbst beizubringen. Es gab auch einen Lehrer, der hat gemerkt, dass ich lernen möchte und ist oft zu mir ins Heim gekommen.

Haben Sie sich also von Personen aus Deutschland gut aufgenommen gefühlt?

Ich habe zum Glück nur gute Erfahrungen gemacht. In Gesprächen mit meinen Freunden merke ich aber schon, dass Rassismus alltäglich stattfindet, sogar an meiner Hochschule. Ich glaube, das zentrale Problem ist fehlende Kommunikation, Verallgemeinerung und Vorurteile. Eine Frau, die ich mal gedatet habe, hat mir nach Monaten gestanden, dass sie davor Angst vor Flüchtlingen hatte. Jemand macht ein Problem und man fühlt sich betroffen. Mittlerweile habe ich das zum Glück nicht mehr, denn es gibt aus jedem Land Menschen, die Schwierigkeiten machen. Es werden so oft die negativen Beispiele verallgemeinert, anstatt eigene Erfahrungen zu machen.

Was denken Sie über die AfD?

Dass die Partei von immer mehr Menschen gewählt wird, macht mir natürlich Angst. Meine Freunde und ich fragen uns dann oft, ob wir hierbleiben dürfen, ob wir der Grund sind, warum die Menschen hier so unzufrieden sind. Dann fühlt man sich natürlich nicht willkommen. Das Problem ist, dass wir keine andere Möglichkeit haben. Ich wollte nicht einfach so Syrien verlassen. Ich musste alles aufgeben, neu anfangen wegen des Krieges, wenn ich dageblieben wäre, dann hätte ich kämpfen müssen oder ich wäre ein Verräter gewesen. Ich wollte keine Menschen töten. Und dann komme ich nach Deutschland, eine neue Sprache, neue Kultur, neue Menschen. Alles total anders. Das war schon schwierig.

Rezan Ali: „Ich bin ganz allein nach Deutschland gekommen, meine Familie ist noch in der Türkei und in Syrien“

Foto: privat

Wie geht es Ihnen jetzt, neun Jahre nach Ihrer Flucht?

Manchmal habe ich das Gefühl, ich bin verloren. Ich stehe zwischen der syrischen und deutschen Kultur und gehöre keiner zu 100 Prozent an. In Syrien hatte ich nicht die Möglichkeit, Normen und Werte, die mir durch meine Eltern vermittelt wurden, infrage zu stellen. Hier musste ich neue Perspektiven einnehmen, um mich in Deutschland anpassen und entwickeln zu können. Ich hatte das erste Mal die Möglichkeit, Entscheidungen selbst zu treffen – damals hat mein Vater das für mich gemacht. Das überfordert mich teilweise immer noch. Es wäre natürlich leichter gewesen, unter meinen syrischen Freunden zu bleiben, aber das wollte ich nicht. Ich bin ganz allein nach Deutschland gekommen, meine Familie ist noch in der Türkei und in Syrien. Das ist manchmal nicht einfach für mich, denn die Familie ist immer für einen da. Das habe ich hier nicht.

Welche Wünsche haben Sie an die Politik und Gesellschaft in Deutschland?

Ich glaube, gegenseitiges Verstehen ist enorm wichtig. Auf beiden Seiten gibt es Ängste und Sorgen, aber es fehlen die Gespräche. Genau das ist aber zentral, um sich hier wohlzufühlen. Viele verstehen nicht, dass sich die Menschen Mühe geben, aber erst einmal ankommen und die neue Kultur verstehen müssen.

Haben Sie dafür vielleicht ein Beispiel?

An der Schule, an der ich arbeite, wollten die muslimischen Eltern nicht, dass die Kinder mit in die Kirche gehen. Die Lehrerinnen haben sich darüber beschwert. Die Eltern hatten aber nur Angst davor, dass die Kinder ihren Glauben infrage stellen. Sie wussten nicht, dass es nur darum geht eine schöne Zeit zu haben und Lieder zu singen. Nachdem wir es ihnen erklärt hatten, war es kein Problem mehr und ein paar Eltern sind sogar mit in die Kirche gekommen.

Welche weiteren Schritte könnten Ihrer Meinung nach unternommen werden, um das Miteinander zu fördern?

Es ist wichtig, nicht zu mutmaßen. Wenn Geflüchtete ständig mit Vorurteilen konfrontiert werden, dann haben sie irgendwann auch keine Lust mehr sich zu bemühen. Genauso ist das auch für die Männer gewesen, die doch nur die Sprache lernen wollten. Es ist teilweise sehr schwer, mit Deutschen in Kontakt zu kommen, aber wie soll man sonst seine Sprachkenntnisse verbessern und die Kultur verstehen? Ich würde mir zum Beispiel wünschen, dass sich mehr Menschen ehrenamtlich engagieren. Die Hilfe des Lehrers hat mir total geholfen.

Wie sehen Ihre Hoffnungen und Träume heute aus?

Wenn ich fertig bin mit meinem Studium, möchte ich als Schulsozialarbeiter arbeiten. Ich glaube, dass ich Personen mit Fluchtgeschichte weiterhelfen kann, da ich drei Sprachen spreche und die syrische, aber auch deutsche Kultur verstehe. Mir ist es wichtig, dass ich mir Zeit für diese Menschen nehme, weil ich weiß, was es bedeutet, in so einer Situation zu sein. Ich möchte erst verstehen, wie sie ticken, bevor ich die richtige Hilfe anbieten kann.

Irgendwann werde ich ein Kinderbuch schreiben. Es handelt von einem Jungen, der von Syrien nach Deutschland kommt, von seiner Flucht und wie er die deutsche Kultur wahrnimmt. Ich habe in der Schule gemerkt, dass es so etwas noch nicht gibt und glaube, dass es den Kindern, die hier geboren sind, helfen kann. Ich war vor ein paar Monaten in Kroatien und in dieser kleinen Stadt gab es ganz alte und neue Häuser, die nebeneinanderstanden. Das sah so schön aus. Ich glaube wir können das auch, ob alt oder jung. Ich glaube, dass eine multikulturelle Gesellschaft funktionieren kann, wenn wir wieder aufeinander zugehen und Menschen als Individuen wahrnehmen und nicht nur als Teil einer Gruppe.

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