Türkei Im türkischen Wahlkampf arbeiten sich fast alle Parteien an den Geflüchteten aus Syrien ab. Präsident Erdoğan versucht, von der Stimmung zu profitieren
In der türkischen Landwirtschaft ist es üblich, ganze syrische Familien anzustellen, aber nur den Familienvater zu bezahlen
Foto: Diego Cupolox/Imago Images
Zwei Jahre, so lange würde es dauern, bis alle 3,5 Millionen Syrerinnen und Syrer aus der Türkei abgeschoben sind. So das Versprechen von Kemal Kılıçdaroğlu, Parteichef der kemalistisch-sozialdemokratischen CHP, für die Zeit nach Recep Tayyip Erdoğan, sollte der die Wahl am 14. Mai verlieren. Der Präsident wiederum verkündet, schon bis zur Stimmabgabe sei mit einer Million Abschiebungen zu rechnen.
Die übrige Opposition, mit Ausnahme der linken Allianz um die prokurdische HDP, überbietet sich ebenfalls mit xenophoben Vorschlägen. Ümit Özdağ, Abgeordneter der rechtsradikalen Partei des Sieges, hat die Kampagne „Bus nach Damaskus“ gestartet. Unterstützer werden aufgefordert, Geld zu spenden, damit
den, damit man Geflüchteten ein Ticket schicken kann. Bereits stattfindende Abschiebungen geschehen oft willkürlich und sind von der EU quasi kofinanziert. „Syrer werden einfach auf der Straße festgenommen und finden sich plötzlich in einem Abschiebezentrum wieder. Und sobald sie dort sind, ist alles mit dem EU-Logo bedruckt, von der Zahnpasta bis hin zu den Badeschlappen“, erzählt George Foster, Chef einer NGO aus Şanlıurfa.Von der Erdbeben-Katastrophe abgesehen, ist die Migration, vor allem deren Ablehnung, das Thema der kommenden Wahl. In den zurückliegenden Jahren geriet die „Flüchtlingsfrage“ zusehends in den Fokus der türkischen Parteien, ein erstarkender Ethnonationalismus hatte daran Anteil. Dass er zulegen konnte, liegt hauptsächlich an zwei sich überlagernden Themen: der Kooperation mit der EU bei der Flüchtlingsfrage und einer verschleppten Wirtschaftskrise.Seit Ausbruch des Bürgerkrieges in Syrien vor zwölf Jahren sind von dort Millionen Menschen in die Türkei geflohen. Zunächst wurden sie von Staatschef Erdoğan medienwirksam als „muslimische Brüder und Schwestern“ willkommen geheißen. Im Gegensatz zu EU-Staaten wie Griechenland oder Italien, vor deren Küsten Tausende von Migranten ertranken oder wo sie in Lagern interniert wurden, konnte Erdoğan seine Politik als humane Alternative darstellen. Das kam ihm auch wegen der ständigen Kritik an der Menschenrechtslage in seinem Land gelegen. Zugleich ging die EU dazu über, ihre Außengrenzen wirksam zu schließen. Deals und eine rege Migrationsdiplomatie führten dazu, dass schon in Libyen und Marokko Flüchtende aufgehalten, die Türkei zu Europas Türsteher wurde. Auch wenn nie klar war, wie viele Syrer in der Türkei jemals vorhatten, nach Europa weiterzuziehen. Unabhängig davon gilt: Wenn man Menschen ein vorübergehendes Domizil geben will, muss man sie irgendwie wirtschaftlich und rechtlich integrieren. So führte die Türkei in Abstimmung mit der EU temporäre Aufenthaltsgenehmigungen ein, mit denen freilich kein dauerhafter Schutzstatus verbunden war.Integration verhindertEine offizielle Arbeitserlaubnis zu bekommen, blieb schwer und teuer, da sie individuell bei den türkischen Behörden beantragt werden muss. Derzeit haben lediglich 140.000 Syrer eine legale Arbeitserlaubnis. Wer darauf verzichtet, arbeitet schwarz, in der Landwirtschaft, auf dem Bau oder in der Industrie. Und Zwang zur Schwarzarbeit, das ist gleichbedeutend mit Lohnverfall. Was Syrer verdienen, kann bei einem Viertel des Einkommens liegen, das türkische Arbeitskräfte für vergleichbare Tätigkeiten erhalten. In der Landwirtschaft ist es üblich, ganze syrische Familien anzustellen, aber nur den Familienvater zu bezahlen. Auch daran hat die EU ihren Anteil. Das weltweit größte „Cash-Programm“ deckt für Geflüchtete einen Teil der Grundversorgung ab, solange die sich in keinem festen Arbeitsverhältnis befinden. Das heißt, sie können trotz eines extrem niedrigen, ausbeuterischen Lohnniveaus überleben. George Foster erzählt, wie stark türkische Unternehmen von syrischer Arbeit profitieren: „Ein Unternehmen sagt zu, 200 Syrer anzustellen, und den Lohn bezahlt jemand anders. Im Prinzip kann man also eine Fabrik für sechs Monate eröffnen, und ein externer Geldgeber bezahlt die Arbeitskräfte.“ Damit werden durch EU-Hilfsgelder zugunsten türkischer Großbauern oder Bauunternehmer die Löhne gezahlt oder aufgestockt. Volkswirtschaftlich gesehen ist das für die Türkei eine komfortable Situation. In den arbeitsintensiven Agrarbetrieben im Südosten werden von den Landwirten sämtliche Arbeitskräfte genommen, die sie kriegen können. Fathi Aydin, ein mittelständischer Bauer, der mehrere syrische Familien für sich arbeiten lässt: „Wir sind froh, dass sie gekommen sind. Ohne sie könnten wir niemals eine solche Arbeitsmenge bewältigen.“Die sozialen Standards auf dem Land sind teilweise derart niedrig, dass sie unter denen für Arbeitslose und Schwarzarbeiter in den Städten liegen. Vor allem durch das Lohndumping im Agrarsektor wird es möglich, Exportüberschüsse zu erzielen und gleichzeitig Lebensmittelpreise im Inland trotz Inflation niedrig zu halten. Diese indirekte Subvention von Nahrungsgütern, nicht zuletzt durch die Ausbeutung von Flüchtlingen, hat mit der Wirtschaftskrise an Bedeutung gewonnen. Man sollte daher annehmen, dass die politische Elite hochzufrieden mit der Flüchtlingssituation im Osten des Landes ist. In Wirklichkeit jedoch sind die Migranten in den vergangenen drei Jahren immer stärker ins Visier der Regierungsparteien und der bürgerlichen Opposition geraten, verbunden mit einem an Einfluss gewinnenden Nationalismus, der sich vermehrt gegen Syrer wendet und seinen Ursprung teils in der Stabilisierung der AKP-Regierung seit ihrem Wahldebakel 2015 hat.Seinerzeit hatte die Erdoğan-Partei AKP die absolute Mehrheit verloren, auch dank der HDP, die sich in den Großstädten als linke Alternative etablieren konnte. Bis dahin basierte Erdoğans Erfolg auf hohen Wachstumsraten und dem damit einhergehenden Wohlstandsschub für eine neue Mittelschicht sowie einer vergleichsweise toleranten Politik gegenüber den Kurden. Mit dem ökonomischen Niedergang verlor dieses Modell an Wirkung, Erdoğan schwenkte auf eine nationalistisch-islamistische Allianz mit der rechtsradikalen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) um. Die Regierung tat alles dafür, sich an der Macht zu halten, indem sie stets von Neuem „Vaterlandsverräter“ ausmachte, ob nun die Gülen-Bewegung, ob kurdische oder linke Politiker. Dies führte zu einem Ethnonationalismus, mit dem sich auch die Sicht auf die syrischen „Brüder und Schwestern“ änderte. Vorrangig in der säkular nationalistischen Mittelschicht, die traditionell die CHP unterstützt, gewann ein gegen Migranten aus dem Nachbarland gerichteter Diskurs an Boden.„Ich bezahle Steuern. Sie bezahlen keine, bekommen aber unsere Steuern. Und man fragt sich, warum? Die türkische Gesellschaft ist sehr wütend, zu Beginn des Bürgerkriegs hat das türkische Volk vielen Syrern geholfen. Uns wurde gesagt, dort sei Krieg. Aber es gibt dort keinen Krieg mehr. Sie sind hier und haben ein leichtes Leben, ohne zu arbeiten“, ereifert sich İlker Yılmaz, Vorsitzender eines Industrieverbandes in Adana.Solche Narrative sind inzwischen weit verbreitet, angefeuert durch parteiübergreifende, fremdenfeindliche Ressentiments der Sorte: Syrer seien faul, wollten alles umsonst, lebten von Steuern und EU-Geldern, verschmutzten die Straßen, würden Türken die Arbeit wegnehmen, weil sie eine niedrigere Bezahlung akzeptieren. Das alte Lied, wenn eine nationale Mittelschicht in Abstiegspanik gerät und Arbeiterschichten, die keine Arbeit mehr finden, für sich gewinnen will. Wer Angst hat, alles zu verlieren, klammert sich an die Nation. Wer nichts mehr hat, hat nur noch die Nation. Eine Stimmung des „Türken zuerst“ gewinnt die Oberhand.Auf die Frage hin, ob die billige Arbeitskraft der Geflüchteten für seinen Sektor nicht wichtig sei, gibt İlker Yılmaz folgenden Ausblick: „Schau die Trends an. Schau auf Spanien. Dort oder in Italien und Frankreich kommen viele Leute aus Nordafrika zur Erntezeit, um dort zu arbeiten. Es wird in der Türkei genauso sein.“ Die Notwendigkeit migrantischer Arbeit wird anerkannt, aber eine dauerhafte, auf Gleichstellung basierende Integration abgelehnt.Die Abschiebe-Quoten, mit denen sich die Parteien jetzt im Wahlkampf überbieten, sind zwar unrealistisch, schaffen aber den Boden für Ausgrenzung, Übergriffe und Ausbeutung. Die EU hat mit ihrer Migrationspolitik maßgeblich dazu beigetragen.Placeholder authorbio-1
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