Stell dir vor, es ist Europawahl, und alle gehen hin! Diesmal hat es geklappt, die Wahlbeteiligung war höher als 2019. Offenbar haben die dramatischen Appelle, die Europäische Union zu verteidigen und die Demokratie zu retten, die Wählerinnen und Wähler aufgerüttelt. Doch das Ergebnis ist: durchwachsen. Aus den Zahlen der 27 EU-Länder ergibt sich kein klares Bild. In Finnland hat die Linke zugelegt, in Frankreich haben die Nationalisten triumphiert. Die einen wählten fürs Klima, die anderen für die Ukraine, manche auch für ein Ende des Kriegs.
Das Ziel der Europawahl, ein politisches Stimmungsbild für die gesamte Union zu zeichnen, wurde verfehlt. In Deutschland und den meisten anderen Ländern haben nationale Themen den Wahlkampf b
t. In Deutschland und den meisten anderen Ländern haben nationale Themen den Wahlkampf beherrscht. Europäische Öffentlichkeit? Fehlanzeige, immer noch.Die ganz große Koalition in Brüssel hältAuch die Zahlen zur Sitzverteilung im neuen Europaparlament helfen kaum weiter. Einerseits lässt sich daraus der befürchtete Rechtsruck ablesen. Die Parteien links der Mitte haben Mandate verloren, rechte und rechtsextreme zugelegt.Doch die „demokratische Mitte“ – also die ganz große Koalition aus Konservativen, Sozialdemokraten und Liberalen – hält. Rechtspopulisten und Nationalisten verfügen nicht über genügend Sitze, um die etablierten Parteien zu gängeln oder zu blockieren. Ende gut, alles gut?Macron, der Europa-AnführerMitnichten. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen fühlt sich zwar bestätigt. Gestützt auf die „Pro-Europäer“ läuft sie sich für eine zweite Amtszeit warm. An ihrer Politik will sie nichts ändern – Pro-EU, Pro-Ukraine und Pro-Rechtsstaat heißt die Devise. Doch das Wahlergebnis gibt das nicht her.Auch wenn es auf dem Papier anders aussehen mag: Die 370 Millionen Wahlberechtigten haben kein „Weiter-so“ gewollt. Im Gegenteil: Sie haben der etablierten Politik und ihren Europa-Wahlprogrammen eine massive Klatsche erteilt. Besonders deutlich ist das in Frankreich. Dort hatte Präsident Emmanuel Macron den Wahlkampf persönlich geleitet; in großen Reden hat er sich sogar als Anführer der EU präsentiert. Das Ergebnis: Er und seine liberale Partei wurden von Marine Le Pen vernichtend geschlagen.Giorgia Meloni sitzt fest im SattelNicht viel besser sieht es in Deutschland aus. Hierzulande wird es zwar vorerst wohl kaum Neuwahlen geben wie in Frankreich. Doch der Wahlschock hat, wenige Monate vor den drei Landtagswahlen im Osten, auch die deutsche Politik erschüttert. Bundeskanzler Olaf Scholz ist angezählt.Nimmt man noch den Wahlsieg von Giorgia Meloni in Italien hinzu, wo die Postfaschisten fester im Sattel sitzen denn je, so wird das ganze Ausmaß dieses europapolitischen Erdbebens deutlich. Die drei größten EU-Länder schicken einen geharnischten Denkzettel nach Brüssel.Waffen, Sanktionen, AufrüstungUnd da soll sich in der EU gar nichts ändern? Mehr Geld und Waffen für die Ukraine, neue Sanktionen gegen Russland, Aufrüstung und Bürokratie-Abbau? Von der Leyen, die zweite? Genau das planen die EU-Granden, die ihren Kurs schon lange vor der Europawahl abgesteckt hatten. Gerade weil es in den Mitgliedsländern so turbulent zugehe, müsse Brüssel ein Hort der Stabilität und Kontinuität bleiben – und weitermachen wie bisher. Doch von der Leyen, Macron und Scholz sollten sich nicht täuschen: Ein Mandat haben sie dafür nicht.Und mehr Erfolg als bisher verspricht diese Politik auch nicht. Ganz im Gegenteil. Die Krise und der Krieg werden noch schlimmer werden, das Vertrauen in die Demokratie wird weiter erodieren.