Kein Nacheinlass: Ausgeschlossen beim Theatertreffen

Kolumne Eine Gruppe schwarz gekleideter und mit Headset ausgestatteter Agent:innen hinderte unsere Kolumnistin am Theaterbesuch, nur weil sie elf Minuten zu spät kam. Wann ist das Theater zu einem Hochsicherheitstrakt mutiert?
Ausgabe 20/2024
Diesen Teil von „Die Vaterlosen“ durfte unsere Autorin dann doch noch sehen
Diesen Teil von „Die Vaterlosen“ durfte unsere Autorin dann doch noch sehen

Foto: Armin Smailovic

„Das dürfen wir nicht!“, sagt mir einer der Einlasser im Haus der Berliner Festspiele. Ich komme exakt elf Minuten zu spät zur Vorstellung von Die Vaterlosen unter der Regie von Jette Steckel. Die Inszenierung der Münchner Kammerspiele ist Teil der Auswahl des diesjährigen Theatertreffens in Berlin. Meine verspätete Anwesenheit macht drei Menschen sofort höchst nervös. „Parkett links, hier möchte noch jemand rein“, kommandiert eine Einlasserin in ihr Headset und drückt professionell auf den Knopf in ihrem Ohr; sie sieht aus wie eine Agentin in einem Spionagethriller, die einen Terroranschlag verhindern muss. Dann sagt sie: „Tut mir leid, das geht jetzt nicht mehr. Sie müssen warten und können erst in der Pause rein!“ Wann denn die Pause sei, will ich ganz freundlich wissen. „In zweieinhalb Stunden.“ Ich stöhne auf und erläutere, dass ich Journalistin bin und über das Theatertreffen berichte, sodass es natürlich ideal wäre, wenn ich die Inszenierungen auch sehen könnte! „Sie können sich die Live-Übertragung oben auf dem Bildschirm ansehen“, tröstet sie mich. Ich stampfe die Treppe hoch, steuere den nächsten Einlasser an und rattere wieder meinen Text runter, der meine Tätigkeit umreißt. „Das künstlerische Team hat einen Nacheinlass nur für die ersten zehn Minuten gestattet“, weiht er mich ein. „Ich darf Sie nicht reinlassen, ich darf das nicht!“, flüstert er, seine Augen sind vor Angst geweitet. Ich lasse also den armen Mann in Ruhe und geselle mich zu den anderen Ausgeschlossenen, die traurig vor dem Bildschirm sitzen, auf dem natürlich absolut gar nichts zu erkennen ist.

Ich weiß nicht, wann das angefangen hat, dass Theater zu Hochsicherheitstrakten mutierten. Überall sehe ich nur noch diese Agent:innen in schwarzen Outfits mit Headsets und wachsamen Blicken. Das Theatertreffen hat diese Torwächterhaltung perfektioniert. Wo ich denn hinwolle, versperrte mir am Eröffnungsabend einer den Weg zur Tür nach draußen. „Nach Hause?“, fragte ich unsicher. Das dürfe ich, nur Rauchen sei hier nicht gestattet! Ah ja.

Awareness-Teams zum Wohlfühlen

Dabei hatte der Intendant der Berliner Festspiele, Matthias Pees, bei seiner Eröffnungsrede von der neuen Notwendigkeit eines behutsamen Umgangs miteinander gesprochen. Für das Publikum gebe es jetzt ein Konzept; wir würden behutsam begleitet, wenn wir uns unwohl fühlten. Als ich aber vergeblich in den Saal wollte, war dieses Awareness-Team nirgendwo zu erblicken. Dabei hätte ich gerne gesagt: „Guten Tag, ich fühle mich unwohl, ich darf den Theaterabend nicht sehen!“

Diese merkwürdige Kontrolliertheit, das Denken am Geländer: All das macht sich natürlich auch inhaltlich und ästhetisch in weiten Teilen der Auswahl bemerkbar. Alles ist verpackt in nachvollziehbare Aussagen, kommt geliefert in Eindeutigkeit, verdaut sich als leicht verständlich. Dass ein künstlerisches Team entscheidet, nach zehn Minuten kein Publikum mehr zuzulassen, ist ja das eine. Doch Tschechows Die Vaterlosen ist auch ein Abend, der über mehrere Stunden einen zutiefst toxischen Mann ins Zentrum rückt, genüsslich gespielt – das war selbst auf dem Bildschirm zu erkennen – von Joachim Meyerhoff, dessen toxisches Verhalten drei Frauen erst recht in seinen Bann zieht. Weil man das heute kritisieren möchte, dürfen die Frauenfiguren immer mal sagen, wie unerträglich sie ihn finden, während sie sich ihm entgegenräkeln. So viel zum gedanklichen Stand des Feminismus auf der Bühne.

Der bisher einzige Ausbruchsversuch aus dieser Theaterstarre war Riesenhaft in Mittelerde vom Schauspielhaus Zürich. Eine chaotische Tolkien-Adaption, in der diverseste Menschen (eben auch welche mit sogenannten Einschränkungen) zu einer Performance-Musik-und-Sing-Feier zusammenkommen, die die Fantasywelt nutzt, um Identitäten radikal neu zu besetzen und zu denken. Und wofür sonst ist Theater da?

Theatertagebuch

Eva Marburg studierte Theater- und Literaturwissenschaften in Berlin und New York. Nach Arbeiten als freie Dramaturgin und Autorin am Theater, studierte sie Kulturjournalismus an der UdK in Berlin und ist seit 2018 Fachredakteurin für Theater bei SWR2. Für den Freitag schreibt sie regelmäßig das Theatertagebuch.

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