Chaïm Soutine, Künstler der klassischen Moderne: Die Rebellion ist rot
Porträt Chaïm Soutine wurde 1893 in einem Schtetl bei Minsk geboren und emigrierte 1913 nach Paris. Wie außerordentlich sein Beitrag zur klassischen Moderne ist, zeigt jetzt unter anderem eine Ausstellung
Das Foto zeigt den Künstler Chaïm Soutine. Das Gemälde “L’Idiot du village” ist 1920 während eines Aufenthalts des Malers in den Pyrenäen entstanden
großes Bild: mahJ, kleines Bild: Adagp
Das Schöne an der Kunstgeschichte ist, dass es in ihr immer mal wieder was zu entdecken oder wiederzuentdecken gibt. Chaïm Soutine ist einer von denen, die die Kunstgeschichte zwar nicht vollständig vergessen, aber immer nur so mitgeschleppt hat. Die beiden Deutschlands, man kann es kaum anders sagen, haben ihn besonders verdrängt. Jetzt kann man sein Werk in einer Ausstellung in der Kunstsammlung NRW ansehen, über sein Leben und seine Zeit im feinen Katalog Auskunft finden und vielleicht noch einmal in einem Roman an seinem Schicksal teilhaben: Ralph Dutli erzählt in Soutines letzte Fahrt dieses durchaus nicht glückliche Leben von seinem schrecklichen Ende her, eine Fahrt, verborgen in einem Leichenwagen, auf der vergeblichen Suche nach medizinischer Hil
inischer Hilfe für den Staatenlosen, der im „Amt für jüdische Angelegenheiten“ im von den Deutschen besetzten Paris die Nummer 35702 erhalten hatte. Eine Todesnummer, so oder so.Man muss sich tatsächlich zu Chaïm Leben und Werk ein wenig hinzufantasieren, denn er selber hat kaum Material hinterlassen, kein Tagebuch, keine aufschlussreichen Briefe, keine theoretischen oder politischen Äußerungen. Was wir haben, sind allenfalls ein paar Eckdaten aus einem kurzen und dramatischen Leben. Und natürlich die Bilder.Vorzeigestück der SchickeriaDie Märchen-Episode dieses Lebens ist rasch erzählt: Im Jahr 1922 entdeckt ein reicher amerikanischer Kunstsammler unter den vielen so ambitionierten wie mittellosen Malern in Paris den aus Belarus stammenden jüdischen Künstler Chaïm Soutine, damals 29 Jahre alt, und, wie man so sagt, noch unter den Außenseitern ein Außenseiter. Das Bild, das ihn dann vollends berühmt machte – für jeden Künstler und jede Künstlerin gibt es dieses Werk, das man im Nachhinein zum Schlüssel erklärt – ist Le Patissier aus dem Jahr 1919. Es ist das Porträt eines jungen Konditors, ein Lehrling vielleicht. Was die Farben anbelangt, sind erkennbar Van Gogh und Cezanne Bezugspunkte, doch bei Soutine zeichnet sich schon etwas ab, was erst später entdeckt werden sollte, eine kubistische Dekonstruktion, eine Rebellion der Teile gegen das Ganze, und ein Eindringen der Außenwelt in den Menschenkörper. „Expressionistisch“, um noch eine Schublade aufzumachen, das heißt: Es geht nicht darum, was ist, sondern darum, was geschieht. Jetzt gerade und hier, was man wiederum „impressionistisch“ nennen kann. Ach, hol der Teufel alle diese Zuschreibungen. Chaïm Soutine hat mit kräftigen, oft fast schmerzhaften Farben und mit dem Mittel der analytischen Verzerrung auf eine Umwelt reagiert, die ihm immer fremd blieb, eine verstörte Welt nach dem Krieg, die gleichwohl sich schon wieder auf eine bürgerliche Ordnung einrichtete.Nur als jüdisches ist Chaïm Soutines Lebensschicksal wiederzugeben, aber er hat nie etwas Jüdisches gemalt. Entweder hatte er keine Erinnerung an ein Leben im Getto oder es interessierte ihn nicht. Keine Spur von der poetischen Verklärung wie bei Marc Chagall, genauso wenig Flucht in Abstraktion oder Metapher. Er ist ein Maler der Augenblicklichkeit; alles, was er malt, ist hier und jetzt, es ist wild und zerstört, aber es bleibt immer nahe an der konkreten Wirklichkeit. Was man nur wissen kann, dass er aus einer Welt kam, in der es eine dreifache Unterdrückung gab, die politische Unterdrückung im Zarenreich, geistige Unterdrückung durch die ländliche Orthodoxie und wirtschaftliche Unterdrückung durch die Klasse der Besitzenden. Für jemanden wie ihn gab es gar keine andere Möglichkeit als die Emigration; und dass sie nach Paris führte, hatte nicht nur mit dem Ruhm als Stadt der Künstler zu tun, sondern auch mit der Existenz einer Kultur, in der das Migrantische sozusagen der Normalfall war.Soutine ist nie ein Franzose geworden, aber gerade darin wiederum ein typischer Vertreter der „Ecole de Paris“. Das war keine feste Künstlergruppe, keine stilistische oder thematische Bewegung, nicht einmal eine konsistente „Szene“. Vielmehr war die „Ecole de Paris“ eine Sammelbezeichnung für all diese Künstlerinnen und Künstler, die aus den unterschiedlichsten Ländern hierhergekommen waren, mit einer großen Hoffnung, der Befreiung durch die Kunst. Ein Maquis, ein Sumpf eher denn die später romantisierte Bohème.Die neuen Impulse kamen nicht aus theoretischen Überlegungen oder aus Aufmerksamkeitsstrategien im Kunstbetrieb; sie waren direkte, konkrete Reaktionen auf die Lebenserfahrungen in einer Stadt, deren bürgerliche Schicht sich zwischen gönnerhaftem Wohlwollen und Verachtung bewegte. Als Soutine in den späten 20er und frühen 30er-Jahren zu etwas Ansehen und Wohlstand gekommen war, war ihm immer noch keine Heimat zuteil. Der Antisemitismus schlug ihm selbst in seinen besten Jahren in Paris entgegen, manchmal auf eine herablassend-liberale Art, zunehmend in aggressiver Form. Der rechte Kulturkampf wurde seinerzeit mit Worten geführt, die uns vertraut vorkommen: „Ausländische Künstler“ hieß es da in den Postillen der bürgerlichen Rechten, hätten sich das Recht angemaßt, „französische Kunst“ zu repräsentieren. Damit war es dann schnell vorbei.Und auch das Kunst-Märchen dauerte nicht lange. Der Kunstsammler Barnes aus der ganz anderen Welt kaufte Soutine nicht nur Bilder ab, er ließ ihn baden, neu einkleiden, richtete ihm ein Atelier ein. Ein bisschen erinnert das an Jean Renoirs Film Boudu sauvé des Eaux aus dem Jahr 1932: Eine Bürgerwelt nimmt für eine Zeit den wilden, schmutzigen Außenseiter auf und der Prozess solcher Integration geht gründlich schief. Soutine, aus dem Elend gerettet, wird ein Vorzeigestück für die internationale Kunst-Schickeria und genauso schnell auch wieder durch ein anderes ersetzt. Und doch hätte er wohl ohne diese Märchen-Episode nicht so intensiv arbeiten können, wären uns wohl nicht so viele von seinen Bildern erhalten geblieben.Le Patissier gehört zu Soutines vielleicht bekanntester Werkgruppe. Dabei geht es um Portraits von Angehörigen verschiedener kleinbürgerlicher oder proletarischer Berufe, meist junge Kerle, die noch forsch und selbstbewusst erscheinen, deren ent-harmonisierte Züge, die Durchdringung von Innen- und Außenwelt und die Gewalt der Farben schon auf die Auflösung ihrer Welt weisen. Soutine verwendete dabei als Bezugspunkt ein Genre der populären Grafik; die Bilder von jungen Lehrlingen in mehr oder weniger possierlichen und mehr oder weniger humorvollen Zusammenhängen, urbane Variation von „Heile Welt“. Schon beim Konditor zeichnet sich ab, was beim Metzger unübersehbar wird: Die Umwelt verliert ihre Ordnung, das Material rebelliert. Das Teigige und Fleischige, das Wuchernde und Vernarbende gewinnt die Oberhand. Das triefende und füllende Rot, das zur Leitfarbe wird, erklärt die Farce zu Ende: Noch glauben die Menschen, in ihrer Welt einen Platz zu finden, in Wahrheit sind sie schon in der Hölle.A mentsch on glick …Wie in seiner Serie von Berufsdarstellungen nimmt Chaïm Soutine auch in seinen Portraits und in seiner Landschaftsmalerei populäre Bildkonstruktionen auf, die Ikonografie einer vergeblichen Restauration der bürgerlichen Welt. Die Gesichter entwickeln sich in Richtung auf eine Auflösung wie bei James Ensor; in Soutines Welt gibt es nichts, was gerade, was kreisrund, was harmonisch oder ornamental wäre. Keine Ordnung, eher ein Wuchern, Wachsen und Vernarben, das auch eine Stadt wie ein verderbendes Stück Fleisch erscheinen lässt und eine „Nature morte“ ganz direkt in das Bild des Sterbens verwandelt. Man könnte Soutines Bilder als Dokumente einer Welt ansehen, die in sich selber schmilzt, deformiert, verbrennt.Und im Rot endet auch der Lebensroman, die letzte Fahrt des Chaïm Soutine: „Wer der Kindheit entkommt, darf kein Paradies erwarten. A mentsch on glick is a tojter mentsch. Die einzige Erlösung gibt es nicht. Die einzige Lösung ist die Farbe. Sie ist die letzte mögliche Religion. Nein, ich hatte mich verschrieben: Rebellion. Ihre roten Heiligen sind: Zinnober, Karmesin, Drachenblut, Roter Ocker, Indischrot, Marsrot, Pompejanischrot, Purpur, Amarant, Kirschrot, Krapprot, Rubin, Inkarnat“. Nehmen wir sie mit, diese rote Rebellion des Chaïm Soutine.Placeholder infobox-1
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