Alles beginnt und vieles endet damit: Hunger. Vielleicht ist ja der Hunger an allem schuld, an der Sünde, an der Gesellschaft, an der Tyrannei, an den Kriegen, am Kapitalismus. Macht ist ein anderes Wort für die Fähigkeit zu bestimmen, was, wann, von wem und unter welchen Umständen gegessen werden darf. Deswegen, zum Beispiel, lassen Kolonialisten die Kolonisierten nicht nur hungern, sie errichten auch kulinarische Regeln, nach denen sich unterscheidet, was von den Kolonialisten und was von den Kolonisierten gegessen werden darf. Daraus wird klar, dass Askese oder Verzicht auf bestimmte Nahrung immer auch Teil einer symbolischen Ordnung ist. Schließlich wird unten gefressen und oben gespeist. Hungern-Müssen ist eine Funktion der Ohnmacht; Hungern-Können e
Hungerstreik: Hungern als Waffe
Macht Nach knapp 100 Tagen ist in Berlin ein Hungerstreik von Klimaaktivisten zu Ende gegangen. Was macht ihn so wirkmächtig? Und warum scheitert er? Eine kleine Kulturgeschichte des Widerstands von der Sklaverei bis zur Umweltschutzbewegung
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Wolfgang Metzeler-Kick befand sich Ende Mai für das Klima bereits über 80 Tage im Hungerstreik
Foto: Imago / Wolfgang Maria Weber
n ein Zeichen der Überlegenheit. Zeichen der Überlegenheit einer Klasse über die andere, einer Kultur über die andere, Zeichen aber auch der Überlegenheit des Geistes über den Körper, oder ins Patriarchalisch-Faschistische gewendet: ein Triumph des Willens.Fünf Gründe zu hungernFür das Hungern-Wollen gibt es fünf mehr oder weniger gute Gründe: Sorge um die eigene Gesundheit (Wir wollen uns nicht kaputt fressen). Sorge um die Welt (Wir wollen nicht die Natur kahlfressen.) Das Nahrungstabu (Wir wollen lieber sterben als uns gegenseitig aufzufressen.) Die Spiritualisierung (Wir verzichten darauf, den Körper übermäßig mit Nahrung zu versorgen, damit sich der Geist reinigen und erheben kann.) Das Opfer (Die Götter verlangen, wenn schon nicht mehr den Tod, so doch einen symbolischen Akt der Selbstdisziplin.) Alle diese Gründe für das Nicht-Essen sind in der Regel in religiöse, kulturelle, gesellschaftliche und „wissenschaftliche“ Diskurse eingebettet. Letztendlich gibt das alles nur Sinn, wenn man es auf die eine oder andere Weise mit den anderen teilt – und sich gleichzeitig wiederum von anderen unterscheidet. Nicht einmal der eigenen Gesundheit wegen kann man Nicht-Essen für sich allein praktizieren; es bedarf eines allgemeinen medizinischen Diskurses und noch allgemeiner eines ästhetischen Körper-Ideals. Wie im Essen so ist auch im Nicht-Essen fundamental und untrennbar das Leibliche mit dem Semantischen verbunden, was das Essen/Nicht-Essen in eine Reihe mit Sexualität/Nicht-Sexualität oder Gewalt/Nicht-Gewalt stellt.Die Spaltung der Gesellschaft läuft auch entlang der Linien Essen, Sex, AggressionWenn wir uns die Spaltung unserer Gesellschaft näher ansehen, von der gerade so viel die Rede ist, wird rasch kenntlich, dass sie nicht nur entlang sozialer und ideologischer Grenzen verläuft, sondern auch entlang der Linie von Kulinarik, Sexualität und Aggression. „Die“, sagen die Rechten – und meinen damit die Grünen, die Linken, die Liberalen – wollen uns die Bratwurst nehmen, uns zum Veganismus zwingen und Insekten zu fressen geben. Sie wollen uns also auf so subtile Weise hungern machen, wie sie durch „Frühsexualisierung“ die Ordnung der Familie untergraben wollen. Und ja, durch ihr performatives Nicht-Essen will diese „Elite“ uns, dem „Volk“, eine moralische Überlegenheit vormachen, gegen die nur Anti-Performances helfen: Bratwurst-Essen mit Markus Söder, Grillfest der AfD, zum Beispiel.Wenn die erwähnten mehr oder weniger guten Gründe für’s Nicht-Essen gesellschaftlich sanktioniert und kontrolliert sind, so gibt es andere, eher nicht so gute Gründe, die an den Rändern geschehen. Da ist das diktatorisch-sadistische Hungern-Machen: Andere Menschen hungern lassen ist eines der größten Verbrechen; es wurde immer eingesetzt von den Mächtigen gegen die eigene Bevölkerung oder gegen die „Unterworfenen“. Nichts schrecklicheres als Eltern, die ihre Kinder hungern lassen (müssen); es ist aber auch eines der unmenschlichsten Waffen des Krieges – und des Bürgerkrieges. Und auf der anderen Seite gibt es den Hungerstreik als Waffe der Opfer gegen die falsche Herrschaft. So wie der jetzt in Berlin zu Ende gegangene Hungerstreik von acht Klimaaktivisten, die Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) auf diese Weise dazu bringen wollten, in einer Regierungserklärung „die Wahrheit“ über die Klimakrise auszusprechen.Mit Mahatma Gandhi änderte sich das Wesen des HungerstreiksDer politische Hungerstreik ist, wenn sich die entsprechenden Kulturgeschichten nicht irren, recht eigentlich eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Das mag vor allem damit zusammenhängen, dass es erst da eine Öffentlichkeit gibt, die möglicherweise die Partei des freiwillig Hungernden ergreift. Es muss allerdings auch einen Adressaten der Macht geben, der für die Form eines solchen Opfers in der einen oder anderen Form empfänglich ist. Die Geschichte des Hungerstreiks beginnt, was die amerikanische Geschichte anbelangt, mit der Nahrungsverweigerung von Afrikanerinnen und Afrikanern bei den Überfahrten in die Sklaverei. Hier war die Beziehung des Leiblichen zum Semantischen noch fundamental: Die Menschen waren bereit, zu sterben, um nicht „Besitz“ zu werden, und umgekehrt wurde die Gegenmaßnahme, die Zwangsernährung, nicht etwa um der Mitmenschlichkeit willen, sondern des Besitz-Wertes wegen durchgeführt. Der Mensch im Hungerstreik droht sich auf zwei Weisen den Kreisen der Macht zu entziehen, nämlich der politischen Macht (der Mensch, der willentlich verhungert, entzieht sich der Obrigkeit und ihrer Ordnung) und der ökonomischen Macht (er verweigert die fundamentalen Dinge von Produktion und Konsum). Ein entsprechendes Verhalten findet sich bei Verbannten und Zwangsarbeitern im zaristischen Russland. Auch hier ging es darum, den eigenen Körper als Opfer gegen die totale Fremdbestimmung einzusetzen.Seit dem passiven Aufstand der afrikanischen Menschen auf dem Weg in die amerikanische Sklaverei sind die beiden Pole, Hungerstreik und Zwangsernährung, Grundlage einer fundamental asymmetrischen Auseinandersetzung zwischen Unterdrückten und Ausbeutern. Während der Hungerstreik der afrikanischen Sklavinnen und Sklaven von der nationalen Mythologie der USA weitgehend verdrängt wurde, gelang es Mahatma Gandhi im September 1932 durch einen sechstägigen Hungerstreik gegen das britische Kolonialgesetz, das die „Unberührbaren“ weiterhin von den Wahlen ausschließen wollte, zum ersten mal eine „Weltöffentlichkeit“ herzustellen. Und damit veränderte sich auch fundamental die „Grammatik“ des Hungerstreikes. Nun konnte es nicht allein um die eigene Situation gehen, sondern um allgemeinere Dinge der Gerechtigkeit und des Friedens. Des Weiteren lässt sich von hier aus unterscheiden zwischen dem Hungerstreik einer Gruppe und dem einer „bedeutenden Person“. Die beiden Pole Hungerstreik und Zwangsernährung entfernten sich indes voneinander. Die Zwangsernährung wurde im 20. Jahrhundert weitgehend medizinisiert oder „psychiatrisiert“. Damit konnte umgekehrt freilich die Nahrungsverweigerung auch als Krankheit betrachtet werden, weshalb in der modernen Gesellschaft ein Hungerstreik in eigener Sache nahezu ausgeschlossen ist. Umgekehrt „erklärt“ Nawalnys Hungerstreik, dass Russland today keine moderne Gesellschaft ist.Feministinnen testen die Grenzen ausDen Übergang zur modernen Form des Hungerstreiks markieren vielleicht die feministischen Aktionen der zehner Jahre des 20. Jahrhunderts, die schon ganz bewusst und taktisch auf die Herstellung medialer Öffentlichkeit zielten. Und damit erst hatte der Hungerstreik, der mittlerweile auch diesen Namen trug (hunger strike, grêve de la faim, huelga de hambre, golodovka …) auch das Bürgertum erreicht, eine angeeignete Form des rebellisch heroischen Widerstands, die freilich auch mit ihrer Verbürgerlichung einen Teil ihrer archaischen Unbedingtheit verlieren musste. Das öffentliche Opfer für die gute Sache musste von beiden Seiten vom tödlichen Ausgang entkoppelt werden. Der moderne Staat kann es sich nicht leisten, Menschen im eigenen Territorium öffentlich verhungern zu lassen, und der moderne Mensch kann es sich nicht leisten, den öffentlichen Hungertod bis zur Auslöschung der eigenen Person zu riskieren.So wie die Grammatik des Streiks hatten sich auch die Formen der Disziplinierung vervielfältigt. Neben der Psychiatrie drohte auch eine Justiz mit dem Mittel der Zwangsernährung, die sich das Recht auf Strafe – das letzte Recht auf das körperliche Subjekt – nicht nehmen lässt. So wie ein Gefangener nicht Selbstmord begehen darf, darf eine Dissidentin nicht im Hungerstreik sterben. Man testet also gegenseitig die Grenzen aus und bestimmt sie im freiwilligen oder erzwungenen Abbruch: Wie weit geht die eine oder die andere Seite, und gelingt es, die gemeinsame Basis des humanistischen Miteinanders aufrecht zu erhalten oder zu verändern? Der Staat, der sich nicht erpressen lassen will, der einzelne, der zum zweitgrößten Opfer bereit ist (das erste ist der öffentliche Selbstmord wie etwa in der Selbstverbrennung), sie erklärten einander den Krieg, und es muss, irgendwie und irgendwann, auch einen Friedensschluss geben. Kurzfristig scheint da immer die Seite der Macht zu gewinnen, langfristiger ist das schon eine andere Sache: Der Hungerstreik ist, spätestens in seiner bürgerlichen Phase, nicht mehr allein aktuelles Geschehen, sondern wird auch Teil des Erinnerns, Teil des Erzählens. So wie der Hungerstreik ein Kurzschluss zwischen Körper und Semantik ist, ist er auch ein Kurzschluss zwischen individuellen und allgemeinen Interessen und Werten. In manchen Zuständen der Spannung sind Kurzschlüsse unvermeidlich.Bei der Verweigerung des Militärdienstes, beim Protest gegen unfaire Gerichtsurteile, bei drohender Abschiebung oder der Aberkennung von Menschen- und Bürgerrechten und schließlich bei der vollkommenen Ignoranz gegenüber ökologischen Katastrophen kommen individuelle und soziale Aspekte des Hungerstreiks immer wieder zusammen. Und was noch mehr als Paradoxon zusammen kommen muss, insbesondere wo der Hungerstreik neben der politischen eine religiöse Bedeutung hat (die im übrigen gar nicht bewusst sein muss), ist der Aspekt der Opfer-Verpflichtung und das Tabu der Selbsttötung. Wer bei einem Hungerstreik stirbt, hat zwar die größte mögliche Verdammung dessen ausgesprochen, gegen das er streikt, hat sich aber auch bis zu einem gewissen Grad selbst verdammt. Ins Weltliche gewendet taucht dieser Widerspruch auch wieder beim Hungerstreik für den Klimaschutz auf: Schadet man mit dem Hungerstreik nicht seinen allernächsten, der eigenen Familie, den eigenen Kindern mehr als man der großen Sache nutzt? Oder wäre umgekehrt der Verzicht auf das drastische Mittel des Hungerstreiks eine Kapitulation vor der Macht, die die Zukunft dieser allernächsten Menschen bedroht?Symbolische Radikalität und praktisches WischiwaschiFür den bürgerlichen, den demokratisch-liberalen Menschen wird der Hungerstreik zu einer ethischen Herausforderung, wenn nicht gar zur Falle. Nirgendwo begegnen sich so dramatisch die beiden Aggregatzustände des Kleinbürgertums: Symbolische Radikalität und praktische Wischiwaschikeit. Jemand macht ernst (wenn auch nicht in dem Maße, in dem ein verschleppter Sklave ernst machen muss), das berauscht und ernüchtert zugleich. Zumeist ergibt sich daraus eine Forderung nach Moderation. Keine der beiden Seiten, bitte, möge es zu weit treiben. Der Hungerstreik soll im Rahmen einer wenn auch dramatischen Performance bleiben, ein politisches Aktionskunstwerk; wo man anderswo einen Teil des öffentlichen Raumes besetzt (zum Beispiel, indem man sich auf eine Straße klebt), besetzt man so einen Teil des öffentlichen Diskurses (indem man zum Hinsehen zwingt). Eine Voraussetzung dafür freilich ist das Vorhandensein eines solchen. Was, wenn es in dieser Öffentlichkeit an Interesse sowohl an der großen Sache (hier des Klimaschutzes) als auch am Leiden des einzelnen erheblichen Mangel gibt? Wenn man nun mental wie medial zum bewährten Mittel der Psychiatrisierung greift – So einer muss doch irgendwie verrückt sein? Was, wenn gar die „Härte“ des staatlichen Gegenübers, einer Regierung zum Beispiel, die sogar das moderierende Gespräch ablehnt, belohnt würde? Was aber auch, wenn der Hungerstreik aus dem Rahmen der bürgerlichen Vernünftigkeit heraus gefallen wäre, weil man ihn mit so viel mythischem und historischen Ballast beschwert hat, dass er fundamental unzeitgemäß und unangemessen erscheint (inmitten einer Welt, in der permanent „echter“ Hunger produziert wird)? Der Hungerstreik besteht also zugleich als Pendant zur kulinarischen Disziplinierung (mit dem Höhepunkt der „Zwangsernährung“) und zum kulinarischen Code (mit dem Höhepunkt einer Politisierung jeder Art von Nahrung). Tatsächlich wird ein Hungerstreik in einer Gesellschaft, in der die kulinarischen Codes so weit auseinander driften wie in der unseren, auf eine archaische Weise rätselhaft. Was, wenn es niemanden mehr gibt, dem das zu Denken gäbe?
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