Was motiviert Russlands Präsidenten Wladimir Putin jetzt zu einer nur kurz zuvor angekündigten Reise nach Nordkorea? Wirtschaftliche Ziele können nicht das Hauptmotiv sein. Der Handelsumsatz zwischen Russland und der Demokratischen Volksrepublik Korea betrug im Jahr 2023 bis November rund 28 Millionen US-Dollar. Der russische Warenaustausch mit Südkorea dagegen belief sich allein von Januar bis August 2023 auf elf Milliarden Dollar.
Putins Reisegrund liegt in der Geopolitik. Kein anderer Staat, nicht einmal Belarus, unterstützt Moskaus militärisches Vorgehen in der Ukraine so entschieden wie Nordkorea, mit dem Russland eine 39 Kilometer lange Grenze bei Chassan nahe Wladiwostok verbindet. Der Ukraine-Krieg wurde zum Katalysator der russisch-nordkoreanischen Bez
ischen Beziehungen. Nordkoreas Staatschef Kim Jong-un rühmte in einer Grußbotschaft an Putin zum russischen Nationalfeiertag am 12. Juni die „heilige Sache der russischen Armee“. Russland und die nordkoreanische Volksrepublik, so Kim, seien „Waffenbrüder“ mit einer „weitreichenden strategischen Beziehung“.Noch schärfer als der Staatschef hatte Kim Yo-jong, Kims Schwester und Abteilungsleiterin im Zentralkomitee der herrschenden Partei der Arbeit Koreas, Ende Januar 2023 im Partei-Pathos formuliert: Die vom Westen an die Ukraine gelieferte Militärtechnik werde „verbrennen“ angesichts des „unerschütterlichen Kampfgeistes und der Macht der heldenhaften russischen Armee und des Volkes“. Nordkorea hat bereits im September 2022 die umstrittenen „Referenden“ anerkannt, mit denen Russland von ihm kontrollierte Regionen im Osten der Ukraine zu Teilen seines Staatsgebiets erklärt hatte.Putin bemühte sich schon sehr früh um die Sympathie der nordkoreanischen Führung. Im Juli 2000, zwei Monate nach seiner Amtseinführung, besuchte er die damals vom Vater des heutigen Staatschefs geführte Volksrepublik. In der nordkoreanischen Hauptstadt Pjöngjang wurde er mit „Hurra, Putin“-Rufen empfangen. Mitglieder der Kinderorganisation „Junge Pioniere“ banden ihm ein rotes Halstuch um. Es war nicht nur eine Art Zeitreise in seine Kindheit, sondern auch eine Premiere für Moskau. Denn nie zuvor seit Gründung der Volksrepublik 1948 hatte ein sowjetischer oder russischer Staatschef Nordkorea besucht.Nordkorea als PufferzonePutins Visite im Juni 2024 ist der Gegenbesuch zum Aufenthalt Kims in Russland im September vergangenen Jahres. Dabei ging es um große Pläne. Nordkorea hat im November erstmals den erfolgreichen Transport eines Aufklärungssatelliten ins Weltall gemeldet. Die USA verurteilten den Start als Bruch von Resolutionen der Vereinten Nationen. Kims Regime ist an einer engen Zusammenarbeit mit der russischen Raumfahrtbehörde interessiert. Davon zeugte Kims Besuch auf dem Weltraumflugplatz „Wostotschnij“ am Amur nahe der chinesischen Grenze im September.Der Korea-Experte Konstantin Asmolow vom Zentrum für koreanische Studien der Russischen Akademie der Wissenschaften sieht Putins Reise nach Nordkorea als Teil seiner „Wendung nach Osten“. Mit China verbindet Russland dabei das Interesse, Nordkorea als Pufferzone gegenüber dem unter USA-Einfluss stehenden Südkorea zu stabilisieren. Zu erwarten seien bei diesem Besuch, so Asmolow, keine bahnbrechenden Verträge, sondern Rahmenvereinbarungen, eine Art Road Map für die weitere Kooperation.Russische Touristen im Wintersportzentrum Masik-RyongIm Westen gemeldete Lieferungen nordkoreanischer Artilleriemunition an Russland bestätigen weder Moskau noch Pjöngjang. Doch Asmolow erwartet, Russland werde die früher von ihm mitgetragenen Sanktionen gegen Nordkorea künftig unterlaufen. Zu rechnen sei auch mit geheimen Vereinbarungen, etwa über die Nutzung russischer Raketenträger oder den Austausch von Dual-Use-Gütern, die sowohl zivil als auch militärisch genutzt werden können. Im Gespräch sind zwischen beiden Ländern auch Infrastrukturprojekte wie ein regelmäßiger Zugverkehr und der Bau einer Brücke für den Straßenverkehr über den Grenzfluss Tumen.Diskussionen zwischen Nordkoreanern und Russen gibt es auch über die Nutzung des reglementierten russischen Internets für von der Führung in Pjöngjang ausgewählte nordkoreanische Nutzer. Bislang erlaubt Nordkorea nur ein Intranet. Asmolow deutet an, in diesem Bereich könnten auch staatsnahe Hacker beider Länder zueinanderfinden und Fertigkeiten austauschen. Zudem entwickeln Nordkorea und Russland eine Zusammenarbeit auf den Gebieten Gesundheitswesen, Kultur und Tourismus. Im März machten erstmals russische Touristen Urlaub im unter Kims Aufsicht gebauten modernen Wintersportzentrum Masik-Ryong. Das Moskauer Boulevardblatt Komsomolskaja Prawda bescheinigt dem dortigen Skiurlauber-Hotel „Komfort wie in der Schweiz“, deren Kurorte für Russen kaum noch zugänglich sind. In der Schweiz hatte Staatschef Kim einst als Jugendlicher eine Schule besucht.Außer Freizeitvergnügen sind für russische Nordkorea-Reisende auch Rohstoffe von Interesse. Bereits vor zehn Jahren ventilierten Unternehmer im Umfeld der russischen Staatsführung nach Pjöngjang-Reisen Investitionsprojekte im Norden der koreanischen Halbinsel. Dabei geht es unter anderem um die Förderung seltener Erden, von Wolfram und Molybdän, an denen Nordkorea reich ist. Eine Hilfe für die unter kriegsbedingtem Arbeitskräftemangel leidende russische Wirtschaft sind auch rund 35.000 nordkoreanische Arbeiter, die im Osten Sibiriens tätig sind. Diese Gastarbeiter gelten in Russland als sehr diszipliniert. Probleme mit Kriminalität, so Experten, gebe es kaum.Für die tägliche Kontaktpflege mit den Nordkoreanern hat Russland in Pjöngjang einen Diplomaten im Einsatz, der insgesamt 30 Jahre dort gelebt hat und des Koreanischen mächtig ist. Der 68-jährige russische Botschafter Alexander Matsegora, seit 2014 im Amt, war zuvor stellvertretender Leiter des Asien-Departements des russischen Außenministeriums. Kims Nordkoreaner mögen ihn, zumal er in Interviews das „mächtige Selbstverteidigungspotenzial“ seines Gastgeberlandes rühmt und dessen „zweifellose Bereitschaft, es im Fall einer Bedrohung einzusetzen“.