Nun debattiert das Land also wieder einmal über Gewalt gegen Politiker:innen. Und was fällt ihm dazu ein, dem Land? Mehr Polizeischutz, härtere Gesetze. Es ist der bekannte Reflex, gesellschaftliche Probleme mit dem Strafrecht lösen zu wollen. Das Problem: Es funktioniert nicht.
Angriffe auf Repräsentant:innen des Staats geschehen nicht zufällig; sie werden gezielt begangen. Die Opfer werden bewusst ausgesucht. Der Angriff gilt einer Partei, einer Regierung, die in den Augen der Angreifer:innen eine Gefahr sind. Eine Gefahr für Deutschland. In dieser Erzählung sind diejenigen, die Gewalt anwenden, die „Guten“. Sie stehen auf der „richtigen“ Seite der Geschichte, weil sie gerechtfertigten Widerstand leisten. Das dachte sich 2019
sich 2019 der Mörder von Walter Lübcke, als er den CDU-Politiker tötete, um Deutschland zu retten. Das dachten sich 2022 die Reichsbürger um Heinrich Prinz Reuß, die ein ganzes Waffenarsenal angelegt hatten, um Politiker:innen zu entführen, zu töten – und Deutschland zu retten. Das dachten sich vermutlich auch die jungen Männer, die den SPD-Politiker Matthias Ecke zusammenschlugen.Das Land, die Nation, das Volk steht am Abgrund und muss gerettet werden: Das ist der Sound der Autoritären. In seiner ersten Rede als US-Präsident sprach auch Donald Trump im Jahr 2017 davon, dass er den „American carnage“ stoppen werde, dass Amerika nicht länger hingemetzelt werde. Über Joe Biden sagt Trump, dieser sei „der schlimmste Präsident, den wir in der Geschichte unseres Landes hatten, er zerstört unser Land“. Ob Trump, Le Pen, Meloni oder Orbàn – sie alle erzählen von der existenziellen Bedrohung des eigenen Volkes. In Deutschland tut das die AfD. Alice Weidel beschwor im Bundestag das Bild eines „brennenden“ und „verwüsteten“ Deutschlands herauf. Die Bedrohung geht in dieser Erzählung aus von: „Migranten“ (also alle, die nicht deutschstämmig sind), Wokismus, Gendern, Heizungstausch und so fort.Auch Merz mischt mitDas Problem: Diese Erzählungen bleiben nicht im Kreis der autoritären Kräfte. Sie werden von demokratischen Politiker:innen übernommen und damit verstärkt und normalisiert. So prophezeite CDU-Chef Friedrich Merz im Januar 2024, noch im Laufe dieses Jahres würden Teile Deutschlands „unregierbar“ werden. Die Bundesregierung „ruiniere“ den Wohlstand Deutschlands, sagte der Parteivorsitzende der Freien Wähler, Hubert Aiwanger. Die Ampel „zerstört die Demokratie“: der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer. Der außerdem forderte: „Wir müssen die Grünen loswerden.“ Es ist erst diese Normalisierung, die den abstrusen Erzählungen vom drohenden Untergang Deutschlands Glaubwürdigkeit verleiht.An diesen Erzählungen ist nichts neu; seit Jahrzehnten wird in Politik und Medien in regelmäßigen Abständen eine Art Endzeit suggeriert. Deutschland ist, wenn man dieser Rhetorik glaubt, in konstanter Gefahr. Schon Anfang der 1960er-Jahre führte die CDU mit dem Slogan Wahlkampf: „Setzt Deutschland nicht aufs Spiel“. Ein Thema wird für das Deutschland-steht-am-Abgrund-Narrativ besonders oft instrumentalisiert: Migration und Einwanderung. Anfang der 1990er-Jahre fragte die Bild: „Die Flut steigt – wann sinkt das Boot? Fast jede Minute ein neuer Asylant“. Die Welt erklärte ebenfalls Anfang der 1990er-Jahre, dass das Grundrecht auf Asyl sich zur „existenziellen Bedrohung unseres Sozialwesens“ auswachsen könnte. Helmut Kohl sah einen „Staatsnotstand“, denn die „Grenze der Belastbarkeit“ sei „überschritten“. Der SPD-Politiker Sigmar Gabriel befand, dass die Ankunft von ein paar Hunderttausend Geflüchteten im Jahr 2015 die „größte Herausforderung seit der Wiedervereinigung“ sei. 9/11, Irak-Krieg, Elbhochwasser, Finanzkrise, NSU – alles nicht so wild. Die Grünen Ricarda Lang und Winfried Kretschmann unterstützten diese Erzählung ebenfalls, als sie 2023 schrieben: „Viele Landkreise, Städte und Gemeinden sind inzwischen an ihrer Belastungsgrenze – und teilweise auch schon darüber hinaus“. Eigentlich müsste Deutschland schon unzählige Male in den Abgrund gestürzt sein. Erstaunlicherweise gibt es das Land immer noch.In den Medien werden diese Untergangserzählungen nur selten infrage gestellt. Im Gegenteil: Die Bild-Zeitung oder Portale wie Nius gestalten sie aktiv mit. Und was heute noch dazu kommt: Der Untergangssound wird nun rund um die Uhr gesendet, auf Telegram, Tiktok, in den sozialen Medien. Klagen, dass die Demokratie „zerstört“ werde, die Belastungsgrenze erreicht sei oder irgendeine andere Apokalypse drohe, werden auf diesen Kanälen in Dauerschleife gespielt – propagandistisches Gold für autoritäre Kräfte und ihre Gefolgsleute. Sie erzeugen Angst, Hass – und den Eindruck, dass die Zeit für Widerstand reif sei. Physische Gewalt liegt dann nicht mehr fern.Die Gewalt schlägt auch auf die AfD zurückDiese Gewalt trifft nicht nur diejenigen, die als Gefahr markiert werden – aktuell die Grünen oder die SPD. Angst wirkt wie ein Gift, das keine Grenzen kennt; es breitet sich in der gesamten Gesellschaft aus. Die Gewaltbereitschaft steigt in allen politischen Lagern, also wird auch die AfD Ziel von Gewalt, was sie ironischerweise dafür nutzt, um die Erzählung vom drohenden Untergangs Deutschland zu stärken. Dabei ist die Tatsache, dass eine von Menschenfeindlichkeit geprägte Partei wie die AfD in den Parlamenten sitzt, einer der Haupttreiber der Gewalt – sie setzt den Standard der agitatorischen und apokalyptischen Sprache. Und die anderen folgen.Kurz nach dem Angriff auf Matthias Ecke in Dresden ist der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer in der Sendung von Caren Miosga zu Gast. Sie konfrontiert ihn mit seinen Aussagen, die Bundesregierung „zerstöre“ die Demokratie: Ob er nicht auch denke, dass er behutsamer mit den politischen Gegnern umgehen müsse? Es mag nicht überraschen, dass Kretschmer das verneint. Stattdessen spricht er von der Unzufriedenheit der Bürger und Bauern und erklärt gleichzeitig mit ernster Miene, dass Gewalt gegen Politiker durch nichts zu rechtfertigen sei. Dieser geistige Spagat ist dieser Tage bei manchen Politiker:innen beliebt, ja notwendig: Alle haben Schuld außer mir. Doch Narrative lassen sich nicht zurücknehmen oder gar eindämmen, wenn diejenigen, die sie verbreiten, ihre eigene Rolle und Verantwortung nicht überdenken.Also werden Polizeischutz und Strafrecht die einzigen Lösungen sein, die die Politik zu bieten hat, um die Gewalt einzudämmen. Ein Damm, der der Flut an Untergangs- und Bedrohungserzählungen nicht standhalten wird.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.