Schwarz-Rot-Goldene Selbstverdummung: Wir Deutschen waren doch schonmal klüger

Meinung In diesen Euros kann sich Deutschland mal wieder weltoffen und patriotisch präsentieren – gleichzeitig. Früher war das ein Widerspruch. Die schwarz-rot-goldene Selbst-Verdummung kam 2006 so richtig in Fahrt, jetzt ist sie unaufhaltbar
Passt wie die Faust aufs Auge: Heidi Klum in schwarz-rot-gold
Passt wie die Faust aufs Auge: Heidi Klum in schwarz-rot-gold

Foto: Imago/ActionPictures

Gesichter bunt bemalt, an den Autos flattern Fähnchen, T-Shirts in Signalfarben: Die fröhliche Länder-Party geht wieder los. Und Deutschland kann’s nicht erwarten, wieder mitzumachen bei der freiwilligen Kollektiv-Verdummung. Spätestens mit der WM 2006 überwand das Land sein Patriotismus-Tabu, was die meisten als Gewinn begrüßten, auch viele Linke. Warum soll Deutschland nicht das tun, was alle Welt tut: sich unverkrampft mit dem eigenen Land identifizieren, die Fahne schwingen und sich daran erfreuen? Die anderen machen es doch auch und tun niemandem weh damit.

Die Wende hin zum deutschen Patriotismus brachte, soweit sind wir uns wenigstens alle einig, die Weltmeisterschaft 2006. Hier fing es an mit den schwarz-rot-goldenen Fähnchen, die – die Jüngeren werden sich schon nicht mehr an diese Zeit erinnern – zuvor ein absolutes No-Go waren. 2006 jedoch wurde die WM in Deutschland zum „Sommermärchen“ verklärt, die Medien beförderten sie zu einer Art verspätetem bundesrepublikanischem Gründungsmythos mit Nation-building-Aura. Selbstverständlich handelte es sich um die aufgeklärte Variante. Motto: „Die Welt zu Gast bei Freunden“. Und so überraschte Deutschland die Welt damals mit einem dichten Teppich lächelnder Menschen auf den Straßen. Erst recht, wenn eine Gast-Mannschaft wieder gegen Deutschland verloren hatte – da zeigte man sich gönnerhaft. Aber wehe, es lief anders. Nach dem verlorenen Halbfinale gegen Italien gab es in Deutschland statt Lächeln den erhobenen Mittelfinger gegen Italiener und Boykott-Aufruf gegen Pizzerien.

Vorher hatte Deutschland eine, ja: verkrampfte Haltung zur nationale Identität und zu patriotischen Gesten – das war ein Zeichen von Rationalität und Aufgeklärtheit. Kaum jemand kommt auf die Idee, dass vielmehr die anderen Ländern auf dem Irrweg sein könnten mit ihrem offenen Nationalismus. Denn eine Kategorie wie die Nation bedient irrationale Instinkte, fungiert als Ersatzhandlung, als psychologische Krücke. Das war früher in vielen Kreisen verbreiteter Erkenntnis-Konsens in Deutschland. Der nüchterne Blick auf die menschliche Psyche und die Skepsis gegenüber irrationalen Ritualen waren vorherrschend. Rechtfertigen mussten sich diejenigen, die den nationalen Gestus wollten.

Heute ist es also andersherum. Und der neue Patriotismus zeigt, natürlich, bereits seine Schattenseite jenseits der bunt und durchaus migrantisch Feiernden auf der Fanmeile. So wurde vor Beginn der EM heiß diskutiert, wer in der deutschen Nationalmannschaft deutsch genug ist und ob es zu dem Thema Umfragen geben darf. Und während die einen aufgeklärt feiern, greifen die anderen zwei Mädchen an, deren Hautfarbe sie in Mecklenburg-Vorpommern nicht sehen wollen. Aber an der Nationen-Kategorie an sich wird nicht gezweifelt. Das Signal ist: Multikulti, na klar. Hauptsache national. Und Deutschland wirkt erleichtert über die Re-Irrationalisierung.

Es ist paradox: Je globalisierter und globetrottender die Welt wird, umso mehr finden nationale Kategorien Anwendung, um die Welt zu erklären. Rechtfertigen muss sich jetzt, wer der nationalen Kategorie nichts abgewinnen will. Wer soll die EM gewinnen? Wer nicht reflexartig „Deutschland“ antwortet, macht sich verdächtig, nicht auf der richtigen Seite zu stehen. Doch wer sagt, wie diese Seite aussehen soll? Selbst wer tippt, dass die deutsche Elf ein Spiel verliert, kann in bestimmten Kontexten mit Empörung bestraft werden. Denn er ist ein Störfaktor im Spiel, das heißt: Du brauchst Identifikation, und die gibt dir deine Nation. Für wen genau ist das ein Gewinn?

Giuseppe Pitronaci ist freier Autor und wohnt in Berlin. Er hat keinen deutschen Pass, dafür den italienischen, und interessiert sich nicht sonderlich für Fußball

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