Fußball-EM: Wir Reporter blicken nicht in die Köpfe der Kicker

Kolumne Wie verhalten sich Spieler abseits des Platzes? Sympathisch finden kann man jemanden schnell. Aber vor Fehleinschätzungen ist man nicht gefeit
Ausgabe 25/2024
Was denkt sich dieser Messi-Fan?
Was denkt sich dieser Messi-Fan?

Foto: Vladimir Zivojinovic/AFP/Getty Images

Kurz nach der Fußball-Europameisterschaft 2016 fragte meine Friseurin, die wusste, dass ich Sportreporter bin, ob Cristiano Ronaldo eigentlich nett sei. Im Finale des Turniers hatte er verletzt ausscheiden müssen, seine Teamkollegen aber auf eine Art unterstützt, dass er gar nicht egomanisch, sondern selbstlos wirkte. Hatte die Welt also all die Jahre einen falschen Eindruck von ihm gewonnen?

Ich konnte über Herrn CR7 nichts Schlechtes sagen, was seinen Umgang mit den Medien betrifft. Nach den Spielen mit Portugal nahm er sich immer Zeit, die Fragen zu beantworten, die aus einer Traube von Menschen zu ihm drangen. Ich sagte meiner Friseurin, dass ich Ronaldo immer freundlich erlebt habe – im Gegensatz zum oft muffeligen Bastian Schweinsteiger. Sie war über meine Aussage teils erfreut (Cristiano Ronaldo), teils irritiert (Schweinsteiger).

Aber kann man über den Charakter von Sportlern wirklich verlässlich Auskunft geben? Man begegnet sich in einem beruflichen Umfeld, in dem jede Seite eine Erwartung an die andere hat. Die Medien erhoffen sich eine griffige Aussage, die ihr Interview oder ihre Geschichte von anderen Veröffentlichungen abhebt, der oder die Befragte wiederum wissen, dass ein positives Bild von ihnen entstehen kann. Bekanntheit und ein interessantes Image schaden nie. Wer sich offen und freundlich gibt, kommt weiter als der missmutige Journalistenfresser.

Sympathisch finden kann man jemanden schnell. Es schmeichelt dem Berichterstattenden, wenn er glaubt, auch auf einer menschlichen Ebene Aufmerksamkeit zu erfahren. Doch vor Fehleinschätzungen des Gegenübers und vor Enttäuschung durch ihn ist man nicht gefeit. Ich hatte einmal ein Interview mit Amin Younes, einem Fußballer, der ein paar Länderspiele für Deutschland machte. Er kickte damals für Ajax Amsterdam, und seine Aussagen über diesen Verein waren eine Hommage an dessen große Tradition und spezielle Kultur. Tatsächlich führte er mit seinem Club zu dieser Zeit aber schon einen blutigen Kampf um baldige Freigabe, weil er ein besseres Angebot vorliegen hatte.

Dürfen Fußballer mit Jérôme Boateng rumkumpeln?

Oder Thomas Berthold, Weltmeister von 1990. Ihn lernte ich bei einer Fernsehtalkshow kennen und war angenehm überrascht, dass er kein bisschen schnöselig auftrat, sondern bodenständig. Wir plauderten hinterher über vegetarische Ernährung. Vier Jahre später wurde er fanatisches Mitglied der „Querdenken“-Bewegung und erzählte Quatsch über Molekularbiologie und empfahl Bücher, die in Deutschland indiziert sind. Kann man unter diesen Umständen noch angetan von ihm sein?

Schwieriger als für uns Reporter ist die Konstellation natürlich für die echten Wegbegleiter eines Stars. Können die vernünftig gebliebenen Ex-Spieler von 1990 mit Thomas Berthold unbefangen übers Damals in Italien plaudern? Dürfen Fußballer, die mit Jérôme Boateng in einer Mannschaft große Erfolge wie die Weltmeisterschaft 2014 oder Champions-League-Triumphe mit Bayern München gefeiert haben, rumkumpeln mit einem, der Gewalt gegen Frauen ausübt? Oder verpflichtet sie die gemeinsame Geschichte dazu, ihn nicht fallen zu lassen?

Reporter konnten lange nichts Schlechtes sagen über Boateng. Er war einer, der bereitwillig Interviews gab, in höflichem Ton, und sich anstrengte. Gegenüber meiner Friseurin hätte ich ihn als nett bezeichnet.

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Der Sportreporter

Günter Klein ist Chefreporter Sport beim Münchner Merkur. Für den Freitag schreibt er die Kolumne „Der Sportreporter“.

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