Wie sehr ihr Fußballstar Kylian Mbappé die Franzosen beschäftigt, zeigte sich in den Schlussminuten des ersten Europameisterschaftsspiels und in den folgenden Tagen. Mbappé erlitt eine Gesichtsverletzung, es floss das Blut der Nation, diagnostiziert wurde ein Bruch der Nase der Nation. Und diskutiert, ob eine Maske sie schützen würde. Flugs war sie angefertigt. In den Farben der Grande Nation. Spieler, die ein derartiges Schutzutensil schon tragen mussten, sagen, es sei eine echte Einschränkung. Kylian Mbappé leidet wenigstens patriotisch.
Kann einer, der als Sportler bewundert und verehrt wird, die Menschen auch über seinen originären Kompetenzbereich, das Toreschießen und Entscheiden von Fußballspielen, beeinflussen? Die Frage wi
e Frage wird immer wieder auch mit Bezug auf die US-Sängerin Taylor Swift gestellt. Es heißt, das republikanische Lager fürchte eine Wahlempfehlung für die Demokraten oder eine klare Positionierung gegen Donald Trump. Womöglich könne schon der Aufruf an die Millionen „Swifties“, überhaupt wählen zu gehen, einen spürbaren Effekt auf das Ergebnis haben.Kylian Mbappé ist diesen Schritt bereits gegangen. So wie er auf dem Spielfeld über das Tempo und die Handlungsschnelligkeit kommt, hat er die Dynamik der politischen Ereignisse aufgenommen: Kurz vor der Fußball-Europameisterschaft fanden die Europawahlen statt, sie brachten in Frankreich den rechtsextremen Rassemblement National nach vorne. Präsident Emmanuel Macron reagierte darauf und rief Neuwahlen der Nationalversammlung aus. Und die fallen in den Zeitraum des Fußballturniers in Deutschland.Mbappé appellierte an seine Landsleute, ihr Wahlrecht wahrzunehmen, er positionierte sich „gegen die Extreme“. Das klang zwar zunächst unverfänglich, weil er den RN nicht explizit benannte. Aber im Kontext der Aussagen von Teamkollegen wurde klar, was er meinte. Marcus Thuram und Ousmane Dembelé hatten aufgefordert, den Rassemblement National zu verhindern. Bei einem Turnier, das nach zwei problematischen Weltmeisterschaften (Russland 2018, Katar 2022) zur Entpolitisierung des Fußballs führen sollte und bei dem die deutsche Mannschaft auf Wohlfühlthemen setzt, überraschen die Franzosen mit einer klaren politischen Haltung und einem konkreten Anliegen.Kylian Mbappé ist uneitel und pragmatischMbappé ist Sohn einer Algerierin und eines Kameruners, er steht für eine Karriere aus den Banlieues heraus, den Satellitenstädten von Paris. In Bondy, dem Ort seiner Kindheit, ist Kylian Mbappé überlebensgroß auf der Fassade eines Hochhauses abgebildet. Allerdings: Kindheit und Jugend verliefen behütet, die Eltern waren erfolgreiche Sportler, ihr Leben war kein prekäres, und Kylian erfuhr dank seines Talents schon mit zehn Jahren die Segnungen des Nachwuchsleistungszentrums in Clairefontaine. Konservative Politiker wie RN-Frontmann Jordan Bardella, der mit 28 gerade einmal drei Jahre älter ist als Mbappé, zeichnen das Bild vom reichen Jungen, der im goldenen Käfig sitzt und von Bodyguards geschützt wird. „Ich finde es störend, wenn Sportler Leuten Lektionen geben, die 1.400 Euro pro Monat verdienen und die nicht in überbehüteten Vierteln leben“, sagt Bardella.Steht Kylian Mbappé für den bourgeoisen Mainstream, ist er etwa ein Günstling von Emmanuel Macron? Zwar entwand Mbappé sich als 19-Jähriger, als Frankreich 2018 Weltmeister wurde, den Umarmungen seines Präsidenten, jedoch gibt es einen unmittelbaren Draht zwischen ihnen. Und der Politiker hatte Mbappé auch immer gebeten, wenn möglich, doch noch in der französischen Liga weiterzuspielen, als nationales Symbol. Vor einem Jahr lehnte Mbappé ein Angebot aus der saudi-arabischen Liga ab, obwohl es ihm viele Millionen eingebracht hätte und er nach einer Saison wieder frei gewesen wäre. Auch mit dem Wechsel zu Real Madrid ließ er sich Zeit: Erst zur kommenden Saison wird er vollzogen, dann finden der Welt-Klub und der Spieler zusammen, von dem man erwartet, er werde dann von der Generation Lionel Messi und Cristiano Ronaldo die fußballerische Weltherrschaft übernehmen.Mbappé unterscheidet sich von den beiden aber grundlegend. Ronaldo ist eitler Individualist in einer Teamsportart, Messi definierte sich ausschließlich über seinen fußballerischen Genius. Kylian Mbappé ist uneitel, pragmatisch, gesellschaftlich interessiert. Vor der Europameisterschaft 2021 rief er aus eigenem Antrieb zur Corona-Schutzimpfung auf, als er bei der WM 2022 in Katar einen freien Tag hatte, nutzte er den nicht zum Erkunden der arabischen Luxuswelt, sondern besuchte die marokkanische Mannschaft in deren Quartier – aus Interesse für die Menschen, ihr Leben, das Land. Er wirkt stets geerdet, vernünftig. Nun entwickelt sich seine Rolle weiter: zum Gewissen der Nation. Ob sie angenommen wird, entscheidet sich unter anderem nächste Woche an den Wahlurnen.