Soll die Ukraine mit westlichen Waffen auf russisches Gebiet schießen dürfen? Im ersten Augenblick denkt man unwillkürlich, welch eine Frage! Natürlich darf der Angegriffene sich gegen den Aggressor wehren. Dementsprechend verlangt schon seit einiger Zeit ein Großteil der westlichen Kriegsbefürworter, Kiew Langstreckenwaffen zur Verfügung zu stellen, damit Russland in der Tiefe angegriffen werden kann. So soll Druck von den ukrainischen Streitkräften an der Front genommen und auf Moskau ausgeübt werden.
Wahrscheinlich, so die optimistischen Vertreter der Siegfraktion, könnte die Lage für Russland im nächsten Jahr, wenn Kiew entsprechend aufgerüstet worden ist und wieder ausreichend Soldaten ausgebildet hat, in der Ostukraine
sland im nächsten Jahr, wenn Kiew entsprechend aufgerüstet worden ist und wieder ausreichend Soldaten ausgebildet hat, in der Ostukraine und auf der Krim untragbar werden. Entweder würde sich dessen Armee zurückziehen oder aus einer Position der Schwäche um einen Waffenstillstand verhandeln müssen. Die Welt der Kriegslogik ist alles andere als metaphysischDer optimistische Pangloss aus Voltaires Novelle Candide konnte von der besten aller Welten fantasieren. Bekanntermaßen hatte er es nicht so mit der Realität, denn er war verstrickt in seiner metaphysischen Welt, in der alles gut war. Die Welt der Kriegslogik ist aber alles andere als metaphysisch. Sie ist äußerst dynamisch und – so der Kriegsphilosoph Carl von Clausewitz – tendiert zum Äußersten. Darum müsse Krieg politisch eingehegt werden. Das Problem ist, dass diese Grenzen oft nicht halten. So können bereits vermeintlich kleine Ereignisse große Wirkung erzeugen. Das gilt besonders dann, wenn die zwei größten Nuklearmächte der Welt direkt oder indirekt involviert sind. Deshalb war es keine Kleinigkeit, als vor Kurzem eine ukrainische Drohne ein Frühwarnradar der strategischen Streitkräfte Russlands in der Region Krasnodar zerstörte. Russland verfügt über zehn derartiger Systeme. Ihre Funktion ist es, anfliegende amerikanische Nuklearraketen früh zu erkennen, um schnell Gegenmaßnahmen einleiten zu können. Die maximale Frühwarnzeit beträgt 15 Minuten. Der ukrainische Angriff war – ob gewollt oder ungewollt – ein Eingriff in die russisch-amerikanischen Nuklearbeziehungen, der schlimmstenfalls mit einer russischen Reaktion „in kind“, also in gleicher Form, hätte beantwortet werden können. Das ist glücklicherweise nicht geschehen, was dafür spricht, dass die beiden Atommächte zumindest in Fragen, die ihr jeweiliges Überleben betreffen, noch miteinander kommunizieren. Gleichwohl stellt sich die Frage, wie konnte das passieren? Hat Kiew eigenmächtig gehandelt, um die USA tiefer in den Konflikt zu ziehen oder war es nur das Husarenstück eines übereifrigen Kommandanten? Hatte Washington seine Hand im Spiel, um Moskau angesichts seines jüngsten Manövers, in dem es den Einsatz taktischer Nuklearwaffen übte, seine Verwundbarkeit zu demonstrieren? Aber würden die USA damit nicht ein nuklearstrategisches Tabu brechen, von dessen Beachtung beider Überleben abhängt? Wussten die politischen Führungen in Washington und Kiew überhaupt von der riskanten Attacke, die wahrscheinlich vom ukrainischen Geheimdienst GUR geleitet wurde? Was haben die amerikanischen Kontaktleute beim GUR dazu gesagt? Fragen über Fragen, die eines zeigen: die Lage in der Ukraine ist überaus ernst und der Krieg einmal mehr eskaliert. Biden versucht, die neue Dynamik unter Kontrolle zu haltenVor diesem Hintergrund haben US-Präsident Joe Biden und in seinem Kielwasser Kanzler Olaf Scholz nunmehr entschieden, das bis dato bestehende Verbot für die Nutzung von gelieferten Waffensystemen auf russischem Gebiet zu lockern. Andere, wie Großbritannien, hatten zwar bereits zuvor erlaubt, mit den gelieferten Storm-Shadow-Raketen Ziele auf der Krim zu beschießen, doch ist deren Territorium besetztes ukrainisches Gebiet. Biden hatte sich zu diesem Schritt, russisches Gebiet attackieren zu lassen, bislang nicht durchringen können mit dem Argument, „einen Dritten Weltkrieg vermeiden zu wollen“. Da Moskau aber dabei ist, von russischem Gebiet aus die grenznahe Stadt Charkiw zu beschießen und seine Truppen in der Region massiv zu verstärken, ohne dass Kiew viel dagegen unternehmen kann, kam es zu einem Sinneswandel. Gleichzeitig versucht Biden, die neue Dynamik unter Kontrolle zu halten, indem er nur die Bekämpfung russischer Stellungen in der Grenzregion erlaubt, nicht jedoch den Einsatz weitreichender ATACMS-Raketen. Für die Abwehr russischer Luftangriffe am besten geeignet sind übrigens Patriot-Systeme, von denen Berlin bislang nur zwei geliefert hat. Ob die dringend erwartete dritte Batterie im Raum Charkiw stationiert wird, ist nicht bekannt. Bekannt ist allerdings, dass in den USA die ersten ukrainischen F-16-Kampfpiloten fertig ausgebildet worden sind und die Niederlande 24 dieser Jagdflugzeuge in Kürze liefern werden. Doch auch die russische Kriegswirtschaft läuft derweil auf Hochtouren. Die Eskalationsspirale dreht sich also weiter. Ihr sollte schleunigst Einhalt geboten werden. Denn, wie lehrt doch Clausewitz? Ohne wirksame Grenzen droht ein totaler Krieg. Dem könnte selbst ein Pangloss nichts Gutes mehr abgewinnen.