Am Rand von Wien

Interview Oskar Aichinger ist wieder spazierend in Wien unterwegs. Diesmal eroberte er die Randbezirke

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Spazieren darf man in den Weinbergen um Wien auch zu Corona-Zeiten. Und schön ist das auch
Spazieren darf man in den Weinbergen um Wien auch zu Corona-Zeiten. Und schön ist das auch

Foto: imago images/Volker Preußer

Jan C. Behmann: Herr Aichinger, wie geht es Ihnen?
Oskar Aichinger: Danke. Alles gut, aber schon sehr eigenartig. Die Straßen fast menschenleer, alle gehen sich aus dem Weg, belauern, beobachten einander. Abstand, Abstand, Abstand ist die message. Ich hoffe inständig, das davon nach der Krise nichts hängen bleibt. Obwohl mir sonst ein Abstand zu gewissen Menschen ganz recht ist, aber eben nur zu gewissen.

Sie haben nun bereits Ihr zweites Buch über das ziellose Spazieren veröffentlicht. Wohin ging es diesmal?
An die Peripherie, an die Ränder von Wien, auf weniger bekanntes, höchst unterschiedliches, aber reizvolles Terrain. Wälder, Weingärten, Auen, Stadtberge, Heurige, Industriezonen, Donau, Alte Donau, Neue Donau, Villenviertel, Fußballstadien, Gemeindebauten, Gasthäuser.

Nach welchen Kriterien haben Sie die Ziele ausgesucht?
Ich wollte schon so möglichst alle Himmelsrichtungen abdecken, aber völlig unsystematisch, und nicht in einer Reihenfolge, wie sie der Uhrzeiger vorgibt. Ich suche mir einen Ausgangspunkt und gehe in eine bestimmte Richtung los. Alles Weitere ergibt sich, hauptsächlich durch Neugierde in jeder Hinsicht: Licht, Geruch, Wind, Häuser, Gedenktafeln, Märkte, Bäume, Straßenzüge.

Seit 30 Jahren Netzkarte

Was zeichnet die Randbezirke Wiens aus?
Dass sie alle einen ganz unterschiedlichen Charakter haben, oft auch innerhalb der Bezirke. Es gibt sehr ländliche Gegenden, dann wieder viel Gewerbe, Industrie. Von Südwesten bis Norden umrahmen Hügel die Stadt (der Wienerwald, östlichster Teil der Alpen), von Nordosten bis Süden ist es flach, zum Teil mit Auwald (Nationalpark Donauauen).

Ohne die Wiener Linien, kämen Sie hier nicht an. Was verbindet Sie mit dem Nahverkehr in Wien?
Ein ziemlich inniges Verhältnis. Ich besitze seit beinahe 30 Jahren eine Jahresnetzkarte.

Erklären Sie uns, was ein Heuriger ist.
Ein Lokal, in dem Winzer ihren eigenen Wein ausschenken, hauptsächlich heurigen, also jungen Wein. Dürfen tun sie das, seit ihnen Kaiser Joseph II. das 1784 erlaubt hat. Wenn sie geöffnet haben, erkennt man die Lokale durch einen Föhrenbuschen, den man an die Hausmauer hängt bzw. steckt. Deswegen heißt es auch: "Ausg´steckt is!" Und daher der auch gebräuchliche Ausdruck "Buschenschank".

Ab nach Transdanubien

Ich war letztens zwischen Floridsdorf und Aspern unterwegs, und mir fiel schmerzlich auf, wie viel Beton in Wien verbaut ist. Grau in grau, Funktionbauten. Wo und wie fällt Ihnen das auf?
Da waren Sie genau in der richtigen Gegend dafür, in Transdanubien, wie wir sagen, also jenseits der Donau. Hier wächst Wien sehr stark und auch schnell, also Beton. Ja, das ist nicht immer schön, wäre nichts für mich. Ich bin ein überzeugter Cisdanubier.

Jetzt ist es aktuell mit der öffentlichen Geselligkeit vorbei. Wie verändert das Ihr Spazierengehen?
Wenig. Ich gehe ja oft alleine oder mit meiner Frau, das ist zum Glück noch erlaubt.

Ihre Bücher sind so detailreich und voll mit lokalen Wissen. Wie läuft die Recherche?
Ich interessiere mich halt für jeden Blödsinn, und da bleibt doch einiges hängen. Wenn mir etwas neu ist, mache ich ein Foto oder schriftliche Notizen, um mich zu erinnern. Zu Hause schaue ich dann noch im Lexikon der Straßennamen, im Historischen Lexikon Wien, in "Österreichische Architektur" von Friedrich Achleitner und natürlich im Internet. Ich bin kein Wikipedia-Verächter.

Haben Sie denn eine Smartwatch und wissen, wie viel Sie so laufen?
Ja, seit ich alt werde und weiß, dass 10.000 Schritte gesund sind. Aber bei mir werden es eh meistens mehr.

Wo und wie schreiben Sie die Bücher?
Zu Hause am Laptop. Manches kritzle ich unterwegs in Notizbücher, aber die brauche ich dann selten, weil ich mich meistens ziemlich gut erinnere.

Einholung durch sich selbst

Ich habe gesehen, Sie haben nun auch einen Youtube-Kanal. Warum?
Corona. Da kommt man auf solche Ideen.

Wie sieht denn Ihr Alltag im sehr strikt abgeriegelten Österreich aus?
Die Gasthäuser, die Heurigen gehen mir ab. Sonst habe ich schnell einen Rhythmus gefunden, ich habe ja auch im normalen Alltag freie Tage, und die schauen so aus wie jetzt. Frühstücken, Zeitung lesen. Ab neun wird gearbeitet. Also geschrieben, geübt, komponiert, gemailt und so weiter. Dazwischen nach Bedarf eine kleine Mahlzeit, dann wieder weiter. Irgendwann am Nachmittag versiegt die Energie, dann muss ich hinaus. Am Abend wird gekocht, fern geschaut oder gelesen. In der Nacht packt mich öfter die Schreibwut, dann muss ich noch einmal an den Computer.

Ihr eigentlicher Beruf ist Musiker. Wie bringen Sie sich als musischer Mensch durch den Tag?
Es gibt Tage, da unterrichte ich, die sind natürlich dadurch geprägt, wenn auch nur für Stunden. Und es gibt Tage, da wird geprobt, und es gibt welche, da wird unterichtet und geprobt, und dazu auch noch geschrieben.

Perspektivisch: Wohin geht die nächste (schriftstellerische) Reise, ohne vor sich fortzulaufen?
Derzeit versuche ich mich an Fiktionalem. Ich möchte wissen, ob ich das kann. Dabei ist es unmöglich, vor sich fortzulaufen, weil man ständig von einem selbst eingeholt wird. Gute Erfahrung.

Oskar Aichinger: Fast hätt ich die Stadt verlassen. Picus Verlag, Wien 2020. 20€

Oskar Aichinger, Jahrgang 1956, in Oberösterreich aufgewachsen, studierte Montanistik in Leoben und Musik am Mozarteum in Salzburg. Seit 1990 als Pianist tätig, zahlreiche Veröffentlichungen. Lebt und spaziert in Wien. www.oskaraichinger.at

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