Fußballkultur: Sobald die Kugel rollt, wird Kunst egal
Hochkultur am Ball Ein ungleiches Paar. Kunst und Kicken finden auch während dieser EM auf unterschiedlichen Partys statt. Dabei lässt sich der Bund das Kulturprogramm zur EM viel kosten. Wieso tut sich die Kunst so schwer mit Fußball?
Das Gemälde „Fußballspieler“ von Konrad Lueg, Sammlung Deutsche Bank im Städel-Museum in Frankfurt am Main
Foto: Städel Museum/BPK
Fünf Spieler in rot-weiß-gestreiften Trikots bejubeln ihr Tor. Ein Mitspieler klopft der Nummer 10, dem Torschützen, auf die Schulter und tätschelt seinen Hinterkopf. Fußballspieler heißt das Gemälde von Konrad Lueg, das im Frankfurter Städel-Museum hängt und 1963 entstand. Lueg malte hierfür ein Zeitungsfoto ab. Die bei Köpfen und Schuhen in monochromen Farben wiedergegebene Detailtreue lässt die Vorlage erahnen. Kunst greift hier Alltagskultur auf, heißt es in der Bildbeschreibung. Anders gesagt, das Profane, der Fußball, wird hier durch den Künstler geadelt.
An diesem Wochenende der zweiten Gruppenspielphase der EM ist in der Frankfurter Innenstadt einiges los. Am Vorabend spielten hier Dänemark gegen England
r Frankfurter Innenstadt einiges los. Am Vorabend spielten hier Dänemark gegen England. Die Müllwerker haben die Innenstadt bereits fleißig von Kotze, Müll und Urin befreit. Der Boden klebt, was aber auch an dem Seifenblasenkünstler liegen könnte, der Kinder und Erwachsene am Römer gleichermaßen verzaubert. Die Stimmung ist wie bei einem andauernden Festival verkatert, aber beseelt. Schottische Fangruppen segeln trinkend und singend ohne Kompassnadel an den Eiscafés vorbei. Polnische und österreichische Fans machen sich frisch gekämmt auf den Weg zur Fanzone am Mainufer, und man spürt schon die Vorfreude auf das anstehende dritte Gruppenspiel der deutschen Mannschaft am Sonntag gegen die Schweiz. Alleine auf der Fanzone werden 30.000 Menschen erwartet.Im Städel-Museum, auch wenn das Haus sich direkt auf der gegenüberliegenden Flussseite befindet, ist außer in dem Gemälde von Lueg recht wenig bis gar nichts von Fußballeuphorie zu spüren. Im Museumsrestaurant findet stattdessen eine schicke Hochzeit statt. Akkurat in Würfel geschnittene Desserthäppchen werden auf weißen Tellern gereicht.Demonstrativ fußballignorantKonrad Lueg hatte aber recht. Fußball lässt sich ohne Kunst und Kultur nicht denken. Umgekehrt gilt das genauso. Dennoch gibt es hierzulande noch immer einen sperrigen Zugang, wenn es darum geht, Massensport und Hochkultur zusammenzudenken. Zwei Fragen tun sich auf: Wieso ist das so? Und für wen ist das gedacht? Wie bei der WM 2006 wird die EM 2024 von einem landesweiten Kulturprogramm begleitet. Dafür stellte der Bund über die eigens dafür gegründete Stiftung Fußball & Kultur Euro 2024 13,2 Millionen Euro zur Verfügung. Unter dem Motto „Vom Fußball berührt“ gibt es seit dem vergangenen Jahr zahlreiche Veranstaltungen zum Thema Fußballkultur.Darunter das Theaterstück Endgame 24 am Maxim-Gorki-Theater in Berlin, das Haus der Kulturen der Welt (HKW) beleuchtet hier fünf Wochen lang interdisziplinär das „Ballett der Massen“, in Essen fand eine Ausstellung zum Mythos Bergarbeiterfußball statt, in Hamburg wird unterdessen Fußballoper zelebriert. Zu den Programmpunkten zählt auch die Outdoor-Ausstellung Radical Playgrounds am Berliner Gropius-Bau. Dort gibt es eine Skateboard-Minirampe auf Opel Corsas von Florentina Holzinger, einen kleinen Techno-Dancefloor für Familien, eine archäologische Ausgrabungsstätte und andere interaktive Installationen, die explizit zum Spielen einladen. Fußball wird hier nur von einigen älteren Kindern gespielt, die Bälle mit Vollspann gegen eine Blechwand pfeffern. Ob die Bälle Teil des Inventars sind oder privat mitgebracht wurden, war beim Besuch nicht eindeutig herauszufinden. Dass Radical Playgrounds Teil eines bundesweiten Fußballkulturprogramms sein soll, wissen die allerwenigsten.Die Stiftung beschreibt ihr Kulturprogramm folgendermaßen: „Es öffnet einen Spiel- und Resonanzraum für die Vielfalt der persönlichen und emotionalen Berührung mit dem Fußball und lenkt den Blick auf das Individuell-Verbindende eines Spiels, das für alle da ist. Im Mittelpunkt stehen Werte wie Zusammenhalt und Gemeinwohl, die sowohl für den Fußball als auch die Kultur prägend sind – auch und gerade im Wissen um die schwindende Bedeutung dieser so wichtigen, gesellschaftlich verbindenden Kräfte.“ Besonderer Wert werde auf Partizipation und Diversität, auf Nachhaltigkeit und auf Barrierefreiheit gelegt. Ein besonderer Fokus liegt auf dem Thema „Deutsche Fußballkultur im europäischen Kontext“. Dazu heißt es weiter: „Trotz der europaweiten Annäherung des Spitzenfußballs haben sich die nationalen Fußballkulturen mit ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Strahlkraft bis heute vielerlei Eigenheiten bewahrt: in Form unterschiedlicher Organisations- und Vereinsstrukturen, Wettbewerbe oder Fankulturen.“Die UEFA EURO 2024 eröffne die Möglichkeit, den Eigencharakter der Fußballkultur in Deutschland in ihrer Breite und Vielfalt zu zeigen und ihr im europäischen Austausch eine exponierte Wahrnehmung und neue Impulse zu geben. Das klingt in etwa so emotional und leidenschaftlich, als äße man nach einer durchzechten Nacht einen Döner mit einer Pinzette.Fußball lieben oder hassen? Eine Frage der Klasse?Ob man Fußball liebt oder hasst, war und ist bis heute nicht nur eine Frage der individuellen Vorliebe und Persönlichkeit. Es ist auch eine Frage der Herkunft und des gesellschaftlichen Status. Während meiner Kindheit im Ruhrgebiet fiel mir der Zugang zum geradezu religiös zelebrierten Fußball nicht leicht. Fußball im Ruhrgebiet bedeutete nämlich nicht nur Gemeinschaft und Malocher-Romantik. Es bedeutete immer auch Hooligans, Neo-Nazis und körperliche Gewalt. Sehr oft trugen in meiner Schule jene, die an einem Tag im BVB-Trikot zum Unterricht erschienen, am nächsten Tag ein T-Shirt der Böhsen Onkelz. Doch rechts waren sie laut eigener Aussage nie. Gegrölte Stadiongesänge und ekstatische Anfeuerungen wie „Sieg!“ waren nicht nur befremdlich, sondern auch beängstigend.Ich erinnere mich aber auch an bildungsnähere und wohlhabendere Familien, in denen Fußball zur Abgrenzung kategorisch abgelehnt wurde. Sehr oft gab es in diesen Häusern keinen Fernseher, weil er Inbegriff für Unterschichtenunterhaltung und Massenverblödung war. Und ohne Fernseher kein Fußball. Damals war die Welt vermeintlich einfach, aber diese klassistisch verkrampft wirkenden Vorbehalte existieren bis heute, wie man an der Kommunikation der Fußballkulturstiftung unschwer erkennen kann.Auch heute trifft man viele Menschen aus vermeintlich gebildeten Kreisen, die ihre plakative Unwissenheit über Fußball wie eine Monstranz vor sich hertragen, nicht zuletzt weil man sich damit kritisch positionieren will. Wollte man sich einst von der Arbeiterklasse und dem kuttentragenden Pöbel in der Kurve abgrenzen, wird heute mit demonstrativer Fußballignoranz auch (linke) Kritik an globaler Kommerzialisierung, diffus nationalistischen Tendenzen und Großveranstaltungen geübt. Besonders humor- und erfolglos zeigten sich die Boykottaufrufe zur WM 2022 in Katar, als man glaubte, dass ein schwarzer kalter Fernseher in Bad Salzuflen irgendetwas an der größenwahnsinnigen Politik der FIFA ändern würde.Heutige Fußballkultur ist wie die Welt jedoch komplex und widersprüchlich. Fußball ist Kapitalismus und eines der größten Medienereignisse überhaupt. Das Spiel selbst kann kunstvoll und brillant sein, aber auch grob und unästhetisch. Zu meiner Studienzeit waren es Bücher von Klaus Theweleit und Christoph Biermann, die mir einen feuilletonistischen, vielleicht auch intellektuellen Zugang zu dem Spiel eröffneten und mir zeigten, dass man sich intensiv mit ihm befassen kann, ohne sich mit Schland-Fans gemein machen zu müssen. Magazine wie 11 Freunde boten einen anderen Blick auf Fußball, der auch auf die soziokulturellen Hintergründe des Sports einging.Heute ist Fußball vor allem auch Pop, Rap und Mode. Luxusmarken wie Louis Vuitton bedienen sich des Themas und bringen eigene Fußballtrikots und Fußballschuhe heraus. Balenciaga gestaltete mit Adidas ebenfalls Trikots, die zu absurd hohen Preisen verkauft wurden. US-Stars wie Travis Scott und Drake tragen Trikots von PSG und Juventus Turin, ohne vielleicht je gegen einen Ball getreten zu haben. Fußball wird, weil er eben so vielschichtig geworden ist, ständig gentrifiziert. Es geht um Verdrängung, aber auch um Wiederaneignung. Es gibt Fußball-Influencer:innen auf Youtube, Tiktok und Instagram, die mehr Geld verdienen als echte Profis. Fußball und Rap sind heute für viele Kinder aus prekären Verhältnissen die einzigen Möglichkeiten und Traumräume des sozialen Aufstiegsversprechens.Braucht Kunst mehr Fankultur?Aber auch die Kunstwelt sollte mehr vom Fußball lernen, wie Saskia Trebing im Kunstmagazin Monopol schreibt: „In der Museumswelt herrscht eine gewisse Skepsis gegenüber Affekten und dem Spektakel, was zweifellos seine Berechtigung hat. Doch wenn die Kunst von der Fankultur des Sports lernen will, heißt das auch, die Gefühle des Publikums ernst zu nehmen und ab und zu ein wenig Stadionatmosphäre zuzulassen.“ Deshalb könne die EM, so ihr Gedankengang, ein Anstoß für Museumsgängerinnen und -gänger sein, ihre Unterstützung für die Kunst nicht nur mit ironischer Distanz zu zeigen. Auch Kultur brauche „Ultras“, sonst sehe die Politik sie schnell als entbehrlich an. „Ein bisschen mehr Begeisterungsfähigkeit könnte der Kunstwelt also nicht schaden.“Heißt also: Mehr Herz, weniger Verstand. Gemeinsam ist Kunst und Fußball aber auch, dass sie nur halb so viel Spaß machen, wenn man sie nur konsumiert. Meine eigentliche Liebe zum Sport hat sich erst durch das Spielen entwickelt. In Neukölln habe ich eine Hobbygruppe, die sich regelmäßig trifft. Meine Mitspieler kommen unter anderem aus Syrien, England, Brasilien, Tunesien, Deutschland, der Türkei und Mexiko. Es sind Friseure darunter, Schauspieler, Comedians, Ärzte, Journalisten, Lieferdienstfahrer, Tontechniker, Frührentner und Musiker. Viele leben erst seit wenigen Jahren in Berlin. Sobald der Ball aber rollt, geht es weder um Sprachkenntnisse noch um akademischen Background, Religion oder Geld. Das ist in der Tat verbindend, respektvoll und versöhnend. Um das zu erfahren, brauche ich jedoch keine Kunst, keinen Handke und keinen Camus – und auch keine kommerzialisierte EM.
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