Europawahl auf Tiktok: Enthemmung gewinnt

Propaganda Freude und Hohn bei Rechten, Trauer, Enttäuschung und schwarzer Humor auf der anderen Seite: Was können die Tiktok-Reaktionen auf die Europawahl über den Erfolg der AfD aussagen?
Ausgabe 24/2024
Europawahl auf Tiktok: Enthemmung gewinnt

Illustration: der Freitag

Auf eher leisen Sohlen schleichen sich am späten Sonntagabend die ersten Videos in die Newsfeeds. Sie kommentieren Hochrechnungen. Die bevorzugte Form dafür: das ARD-Wahlstudio mit Jörg Schönenborn – nur in Miniatur, in Ausschnitten der Show und überzogen von Schriftzügen, Deutschlandfahnen-Emojis oder traurigen Smileys. In einem der populärsten Videos steht nur: „Die Jugend wählt rechts!“ Dazu sieht man ZDF-Moderator Christian Sievers, der die Erfolge der AfD in der Altersgruppe der unter 30-Jährigen in zwei Statistiken präsentiert. Mit knapp einer halben Million Aufrufe ist es eines der wenigen Videos, die eine solche Aufmerksamkeit für das Thema auf Tiktok generieren können.

Weniger Einzelklicks, dafür aber eine höhere Gesamtanzahl gibt es für Videos, in denen Tiktoker sich selbst vor Hochrechnungen oder die Wahlstatistiken in andere Clips stitchen, um die Ergebnisse zu kommentieren. Freude und Hohn bei Rechten, die Grafiken der Wahlergebnisse mit Aufnahmen ihres eigenen Wahlzettels – natürlich mit Kreuz bei der AfD – oder mit Gigi D’Agostinos zum Nazi-Trend gewordenem L’amour toujours unterlegt. Trauer, Enttäuschung und schwarzer Humor auf der anderen Seite: Man sieht traurige Clowns als Gesichtsfilter, Schwarze Creator, die hektisch herumschauen und ironisch fragen: „Wer war das?“, oder verzweifelte Lippensynchronisationen zum Audioschnipsel: „Scheiße, och nee! Ich komm’ hier nicht mehr raus!“

17 Prozent für die AfD in der Altersgruppe der 16- bis 24-Jährigen: Wie konnte das passieren? Auffallend ist: Rechte Propaganda auf Tiktok und anderen Social-Media-Plattformen setzte in den vergangenen Wochen nicht auf direkte Wahlappelle, sondern das weitaus indirektere, aber effizientere Propagieren und Popularisieren autoritärer Weltbilder. Sahra Wagenknecht und ihr Bündnis gingen auf Tiktok ähnlich vor: keine direkten Wahlaufrufe, dafür viele Reden zu Krieg, Frieden und steigenden Lebenshaltungskosten sowie unterstützende Gastauftritte von Peter Maffay oder Jan Josef Liefers.

SPD-Spitzenkandidatin Katarina Barley hingegen warb noch am Wahlsonntag fürs Wählen: „Heute ist endlich Europawahl“, und wandte sich gleich mit „3 Bitten“ ans junge Publikum. Daniel Caspary von der CDU zählte in Countdown-Clips die Tage bis zur Wahl und Terry Reintke von den Grünen ließ sich vor ihrem Wahllokal in Duisburg filmen – auch mit Appell: „Auf jeden Fall demokratische Parteien wählen.“ Martin Schirdewan und die Linke luden mit einem Gewinnspiel nach Brüssel ein: Das Video, das am besten erklärt, warum es die Linke in Europa braucht, gewinnt.

Klicks, Likes und Impressionen konnte von ihnen nur das Bündnis Sahra Wagenknecht sammeln. Etwas erfolgreicher war auch Volt, vor allem mit kurzen Clips zu ihrem Verhältnis zu anderen Parteien.

Gefunden haben die Parteien auf Tiktok also kaum einen anderen affektrhetorischen Zugang zu den Wahlen als den, den die Plattform mit ihren automatisiert geschalteten Informationstafeln selbst gelegt hatte. Dort wurden Jungwähler zwar über den Ablauf der Wahlen, die Funktion des EU-Parlaments und Fake News im Wahlkampf aufgeklärt, aber eben nur das. Klicks und Kommentare bringt die Europawahl als politischer Prozess vergleichbar wenige – zumindest nicht so viel wie die rechte Propagandashow: Die Wahl verfängt als Thema nicht, wahlentscheidende Themen wie Krieg und Migration hingegen schon. Das verhält sich on- wie offline: Wer die Hot Topics mit Enthemmung besetzt, gewinnt.

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