Geschichtsschreibung In den 90ern erfanden die Bands der Hamburger Schule eine neue Sprache für Pop. Seit einer NDR-Doku über die damalige Szene tobt ein Streit: Wer gehörte damals dazu und wer nicht? Was die Beteiligten sagen
Dirk von Lowtzow (Tocotronic), Jochen Distelmeyer (Blumfeld), Bernd Begemann, Die Goldenen Zitronen, Die Braut Haut ins Auge
Collage: der Freitag, Material: Imago Images, Petra Gall
Wie lange ist das jetzt her, 30 Jahre? Oder sogar schon 35? Ende der 80er, Anfang der 90er machten sich in Hamburg Musiker:innen auf die Suche nach einer neuen Pop-Sprache. Männliche Macht und Dominanz sollten infrage gestellt werden; die nationalistischen Auswirkungen der Wiedervereinigung beklagt und bekämpft. Ein gemeinsamer musikalischer Nenner existierte nicht – auch wenn die Mehrheit der Bands das klassische Rock-Instrumentarium bevorzugte. Blumfeld, Die Sterne, Die Braut haut ins Auge oder Tocotronic galten als vielversprechende Neuerer. In Kneipen wie dem Sorgenbrecher, dem Golden Pudel oder Heinz Karmers Tanzcafé wurde in langen, bierdunstigen Nächten diskutiert und gestritten. Meist war man sich einig, dass man sich nicht einig war. Nur in der Ablehnung
ng des neckisch von der Frankfurter Schule hergeleiteten Namens herrschte Konsens: Wenn schon eine Schublade, dann doch bitte Diskurs-Rock. Den Medien, Plattenfirmen und nachrückenden Bands waren solche Befindlichkeiten überwiegend egal. Und schon bald wurde alles, was deutsch sang und dazu Gitarre spielte, als Hamburger Schule verkauft.Eine detailreiche Chronik dieser Zeit hat der Autor Jonas Engelmann gerade mit seinem Band Der Text ist meine Party. Eine Geschichte der Hamburger Schule (Ventil) vorgelegt. Dass plötzlich alle wieder miteinander streiten, liegt jedoch an einer kompakteren Dokumentation, die der NDR Anfang Juni zeigte, ein zweimal 30 Minuten langer Film von Natascha Geier. Jetzt wird vor allem über die Frage gestrittten: Wer gehörte dazu und wer nicht? Auf Facebook wurde sofort versucht, die Deutungshoheit über die eigene Jugend, das eigene Schaffen zurückzuerobern. Wer nicht an den richtigen Tresen trank wurde aussortiert und beschimpft, wie „die Macherin dieses Käses, Natascha Geier“. Am meinungsstärksten zeigte sich der Songwriter Bernd Begemann, der in der NDR-Sendung kaum vorkam: „Natascha Geiers sogenannte ,Doku‘ zur Hamburger Schule ist ignorantes Ego-Gewixe“, schimpfte er und eröffnete damit den Diskurs über den Diskurs-Rock. Schnell zog er auch über alte Kollegen her: „Stattdessen bekommen wir (…) DIE GOLDENEN ZITRONEN? (…) Die niemand jemals als Hamburger Schule identifiziert hat? Die sehr spät zur Party kamen und vor allem linksradikales Dogma beitrugen? K-Gruppen-Mief, in dem Gesinnung und Parolen auf einmal das Wichtigste wurden und gnade dem, der nicht mitzog? Es war unter anderem diese Dogmatik, die unsere Szene spaltete, implodieren ließ.“ Begemann tritt als geistreicher Entertainer auf, hier wirkte er wie ein Wutbürger, der auf dem Schulhof die Hosen runterlässt. Was hat ihn bloß so aufgebracht, und welche Rechnung hat er mit den Goldenen Zitronen noch offen?„Geschichtsschreibung produziert halt Schmerzen“, sagt Ted Gaier von den Goldenen ZitronenDer Streit um die Deutungshoheit über die eigene künstlerische Bedeutung ist ein guter Anlass, um bei einigen Protagonist:innen nachzufragen, wie es tatsächlich war. „Was mir als Erstes auffällt, ist, wie emotional getriggert alle sind“, sagt Ted Gaier von den Goldenen Zitronen. „Damit hätte ich jetzt nicht gerechnet. Geschichtsschreibung produziert halt Schmerzen. Was mir als Zweites auffällt, gerade wenn ich mein heutiges Umfeld anschaue und das von damals, wie irre homogen diese Szene war. Weiß und deutsch, bürgerlich oder kleinbürgerlich sozialisiert, heterosexuell.“Wie viele, ist auch Bernd Begemann der Überzeugung, die Hamburger Schule habe Ende der 80er im ostwestfälischen Bad Salzuflen angefangen. Rund um das Label Fast Weltweit gab es dort eine Ursuppe von Musiker:innen, die sich am Gitarrenpop von britischen Bands wie Aztec Camera und The Smiths orientierten. Bernadette La Hengst gehörte dazu, auch Jochen Distelmeyer, Frank Spilker – und Bernd Begemann: „Alle hatten ein Bewusstsein voneinander und versuchten, etwas zu singen, was vorher noch nie gesagt wurde“, erinnert er sich.Die Autorin und Musikerin Kerstin „Kersty“ Grether sieht das ähnlich: „Bernd hat diese Szene als Erster nach Hamburg getragen. Er hatte einfach einen anderen Ton, das war alles nicht so flach.“ Zusammen mit ihrer Zwillingsschwester Sandra war Kerstin Grether die Erste, die in Spex, dem Leitmedium der deutschen Pop-Kritik, über die Hamburger Schule schrieb. Der drei Jahre ältere, durch Punk sozialisierte Ted Gaier, der Anfang der 80er aus Süddeutschland nach Hamburg gezogen war, konnte mit den Neuzugängen aus Ostwestfalen weniger anfangen: „Lustig, dass Bernd uns so viel Macht zuspricht, dass wir die schöne Bad Salzuflener Eintracht ruiniert hätten und unsere Musik beschreibt, als wären wir Slime. Das ist ein bisschen zu viel der Ehre“, sagt er spöttisch.„Die Klammer war, dass man gegen die Zustände in Deutschland arbeitete“, erinnert sich Myriam Brüger vom Label L'age d'orEs war vor allem der Austausch der Musiker:innen untereinander – auch mit Journalist:innen und Aktivist:innen –, der die Hamburger Schule so politisch und wandelbar machte. Während der Entstehung von Blumfelds L’etat et moi und Das bisschen Totschlag von den Goldenen Zitronen wohnten Jochen Distelmeyer und Ted Gaier gemeinsam in einer Wohnung. Es wurde vorgespielt, zugehört, geredet und dann das Unbehagen an Deutschland auf unterschiedliche Weise artikuliert. Heile Heile Boches, das Debütalbum der Kolossalen Jugend, machte 1989 den Anfang: „Ich war positiv erschrocken, wie expressionistisch Kristof Schreuf die deutsche Sprache zertrümmert hat“, erinnert sich Kerstin Grether. Mit Zeilen wie: „Was ich noch zu sagen hätte, dauert eine Zigarettenfabrik“, gilt der 2022 verstorbene Schreuf als eine der wichtigsten Stimmen des Diskurs-Rocks. Vieles war damals möglich.Myriam Brüger arbeitete für das Label L’age d’or, bei dem Heile Heile Boches erschien und später Alben von Tocotronic, den Sternen und weiteren Hamburger-Schule-Bands. Sie stellt fest: „Es gab keine ästhetische Klammer, und wenn es eine gab, dann war es die Einigkeit darüber, dass man gegen die Zustände in Deutschland arbeitete. Nicht unbedingt in politischen Texten, sondern durch eine Form von Haltung, die sich im Sozialen äußerte und in der Abgrenzung gegenüber allem Deutschtümelnden um uns herum.“Ähnlich sieht es auch Ted Gaier: „Für uns war ziemlich sofort nach dem Mauerfall klar, dass sich hier etwas ganz Übles zusammenbraut. 80.000.000 Hooligans beschreibt ja meine Erlebnisse in der Woche des Mauerfalls in Berlin. Tatsächlich war das Erste, was ich erlebt habe, als ich über den Grenzübergang Friedrichstraße gegangen bin, dass da Leute ,Deutsche Frauen, deutsches Bier, Schwarz-Rot-Gold, wir stehen zu dir‘ gesungen haben, diesen Böhse-Onkelz-Song.“„Es tut weh, wenn die Hamburger Schule auf einen Erzählstrang reduziert wird“, sagt Kersty GretherBernd Begemann war bereits Anfang der 90er eine Art Gegenpol zu den linksradikalen Goldenen Zitronen. Der Grund für seinen wütenden Rant gegen die Band liegt vermutlich in einem 30 Jahre zurückliegenden Streit. Begemanns Deutsche Hymne ohne Refrain vom Album Rezession, Baby empörte 1993 die politischen Aktivisten, wegen zu viel Nachsicht mit einem Volk der Täter. Auch für Die Goldenen Zitronen war die Zeile „Ich möchte dieses Land verstehen“ vor dem Hintergrund brennender Asylbewerberheime ein No-Go: „Wir wissen ja, warum das geschieht“, sagt Gaier. „Wir verstehen ja – und deshalb war unserer Meinung nach die Zeit für Aktivismus und Aufklärung.“Kersty Grether sieht eher die poetische Qualität des Songs: „Ich weiß nicht, was dagegen spricht, dieses Land verstehen zu wollen. Bernds erzählerisch-dichte Beschreibung von sauberen Fußgängerzonen, die sich anfühlen wie ein Gefängnis, das ist ja klassisch linke Kritik an so etwas wie einer autoritären deutschen Mentalität, die alle Probleme unter den Teppich kehrt. Es tut mir weh, wenn die Hamburger Schule auf einen Erzählstrang reduziert wird.“ Ähnlich sieht das auch Knarf Rellöm, der mit Huah! damals eine zentrale Rolle spielte: „Der Text ist nicht so, dass man sagen kann, dass Deutschland hier verherrlicht wird. Das ist eher so ein romantischer Irrläufer. Eigentlich vergleichbar mit Born In The USA von Springsteen. Ich finde es nur unverzeihlich, dass Bernd behauptet, die Goldenen Zitronen seien zu spät zur Party gekommen und hätten politischen K-Gruppen-Mief verbreitet. Das ist ja die Ausdrucksweise eines CDU-Politikers der 80er Jahre. Dabei wurde es ja gerade da interessant als Die Sterne, Blumfeld, Bernadette La Hengst und die anderen, die neu nach Hamburg gekommen waren, sich mit den Zitronen auseinandersetzten und sich gegenseitig Ideen hin und her warfen. Das war absolut politisiert. Bernd muss mir da nichts erzählen von wegen, da fing es an ideologisch und dogmatisch zu werden und die freien Ideen flossen nicht mehr. Das ist falsch!“Jetzt auch noch von Olli Schulz und Jan Böhmernann vertontEin wichtiges Thema, das in den Debatten nach der NDR-Doku auch immer wieder anklingt, ist der strukturelle Sexismus: „Ich finde aber schon, die Herren der Hamburger Schule könnten mal ein bisschen reflektieren, dass sie ein arger Männerverein waren“, schreibt Christiane Rösinger auf Facebook. „Das hat uns ja auch am Anfang gefallen. (…) Aber dieses Männermusikspezialistentum ist mir immer mehr auf die Nerven gegangen.“ Rösingers Lassie Singers gehörten neben Bernadette La Hengsts Band Die Braut haut ins Auge, den Mobylettes und Parole Trixi zu den wenigen Frauen-Bands der Szene. Huah! bestanden immerhin zu drei Fünfteln aus Frauen. „Wir haben mit Parole Trixi mal im Vorprogramm von Blumfeld gespielt und wurden ausgebuht. Jochen hat sich hinterher mit dem Publikum angelegt und uns verteidigt“, erinnert sich deren Sängerin Sandra Grether, die mit ihrer Schwester Kersty heute als Doctorella Musik macht. Auch Myriam Brüger weiß: „In Hamburg wurde viel geschrien zu der Zeit. Deine Argumente wurden nur gehört, wenn du sie laut vorgetragen hast. Da muss man Bock drauf haben …“ Dieser Ausschluss lief nicht darüber, dass jemand gesagt hätte: Du bist eine Frau, dich wollen wir hier nicht. Das hatte eher mit Habitus und Sozialisation zu tun. Das äußere Bild der Bands, sei es in Videos, Bandfotos, Artwork oder Pressearbeit, wurde sogar maßgeblich von Frauen mitbestimmt. Acht der in der Doku verwendeten Videoclips stammen von Deborah Schamoni. Viele Tocotronic-Videos von Jutta Pohlmann. Es gab Journalistinnen wie Clara Drechsler, Jutta Koether, Sandra und Kersty Grether, die über den Erfolg einer Platte bestimmen konnten. Weitere Frauen designten Plattencover, machten Pressearbeit und wurden ebenfalls von der Pop-Geschichtsschreibung vergessen.„Vom Kiez in die Charts“, so der Untertitel der NDR-Doku, haben es nur wenige Bands geschafft – eigentlich nur Tocotronic. Und jetzt haben auch noch Jan Böhmermann und Olli Schulz das „Hamburger-Schule-Gate“, die ganzen hitzig erregten Facebook-Posts, als launiges Hörspiel vertont, das Gelächter ist groß. Ein alter Freund, einst Betreiber des Plattenladens Slam im Hamburger Schanzenviertel, beendete allzu hitzige Debatten in seinem Laden gerne mit dem Satz: Was regt ihr euch alle so auf? Ist doch nur Musik.
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