Jamal Musiala heißt Schönheit: Warum ich diese EM liebe

EM-Rührung Unsere Autorin versteht ein Abseits erst, wenn die Computergrafik es ihr auf das Auge drückt. Aber man muss keine Expertin sein, um sich an den Spielen dieser Europameisterschaft zu freuen. Man muss nur Jamal Musiala zuschauen
Gleich, gleich: Jamal Musialas Fuß ist schon unterwegs zum 1:0 Führungstreffer gegen Ungarn
Gleich, gleich: Jamal Musialas Fuß ist schon unterwegs zum 1:0 Führungstreffer gegen Ungarn

Fabrice Coffrini/AFP

Kürzlich klagte hier Fatma Aydemir über den Rassismus deutscher Fußballfans. Da ist bestimmt was dran, aber sie ging so weit, der deutschen Mannschaft das Vorrundenaus an den Hals zu wünschen. Das fand ich nicht so schön, mag auch das Sommermärchen zweipunktnull hier und da arg herbeigeschwurbelt wirken, als Wunsch und als Wort. Wobei dann wieder rührend ist, dass jenes altmodische, ja prä-smartphonige „zweipunktnull“ immer noch verwendet wird von uns alten deutschen Knackern ohne oder mit Migrationshintergrund.

Auch gutgemeinter Rassismus à la Katrin Göring-Eckardt ist zum Fremdschämen. Die Grünen-Politikerin fand zwar massenkompatibel: „Diese Mannschaft ist wirklich großartig“ (und meinte mit „diese“ die unsrige). Wären in der deutschen Mannschaft aber „nur weiße deutsche Spieler“, schob sie hätte-hätte-fahrradkettig nach, fände sie sie nicht mehr so toll. Naja, danach wird nach dem 14. Juli auch kein Hahn mehr krähen. Der macht sich, in der gallischen Version, auf den Trikots der Franzosen sehr keck, während die Deutschen in pink kicken müssen. Immerhin dürfen sie weiterhin Trikot auf der ersten Silbe betonen, und nicht Trikot, mit der Betonung auf O, was mich als Frankreich-Fan immer wieder verwirrt.

Deppinnen-Klischee: Was ist ein Abseits?

Wo ich schon mal dabei bin, kann ich gleich ein weiteres Bekenntnis ablegen, ein doppeltes: Ich liebe Fußball. Und: Ich habe keine Ahnung. Beim Abseits erfülle ich jedes Deppinnen-Klischee und kapiere es nur, wenn die Computergrafik es mir aufs Auge drückt und die Kommentatoren mit den wolllüstigen Stimmen es in aller Ohren reiben, als wäre das völlig selbstverständlich. Mein Abseits-Aha-Erlebnis hält dann ungefähr fünf Sekunden lang – mein Gehirn hat gewissermaßen eine Abseits-Schwäche. Auch die Namen der Spieler kann ich mir nicht mal für die jeweilige Saison merken. Nur İlkay Gündoğan – das zweite G spricht man nicht! – bleibt im Kopf, und Jamal – Arabisch für, nomen est omen, „Schönheit“ – Musiala ist auch unvergesslich.

Ich liebe die Verheißung in den Namen und Beinen der Fußballer, ihre Begeisterung und ihr Ackern auf dem Feld, ohne das die Begeisterung nicht zu haben ist. Ich liebe die Geräusche, die die Fans machen, auf ihre Art unermüdlich ackernd, ich liebe die schrillen Kostüme, die es hinkriegen, sich gleichzeitig über die Nation lustig zu machen und dem Heimatland Respekt zu zollen. Ich liebe das mikrofonnahe Ploppen des Balls. Ich liebe die Autorität, die die Schiedsrichter auch dann noch ausstrahlen, wenn sie Murks pfeifen, und ich liebe, wie mein Sohn mir erklärt, dass es Murks ist: erregt und ernsthaft, als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt, denn das tut es auch nicht.

Schöne Fußball-Trikots, schöne Hymnen, sogar schönes Mackertum

Ich liebe die bewundernswerte Massenorganisation so vieler Menschen, Termine, Bedürfnisse, die Leichtigkeit und die Schwere: so leicht, Fußball zu gucken und so schwer zu verlieren. Ich liebe die Banalität und die ewige Wiederholung des Immergleichen. Vor allem liebe ich diese absolute Verlässlichkeit, die so ein Spiel hat: Es fängt an. Es gibt Rituale. Es gibt Regeln. Es hört auf. Das Verrückteste: Alle halten sich dran.

Ich liebe es – und bin zu Tränen gerührt – wenn die Kinder in ihren mit so viel Bedeutung beflockten Trikots die Helden auf den Platz führen, oder umgekehrt. Ich liebe die Zärtlichkeit in den Blicken der Spieler und der Zuschauer. Ich liebe das Lächeln und das Lässige und die Kraft und die Freude am Spiel, die, obwohl er es eifrig und nachhaltig versucht, noch kein Kommerz zerstören konnte.

Ich liebe sogar das grotesk Übertriebene, das Mackertum, die Sucht nach Stars und Geschichten, die medialen Schmarotzer, die Oberarmmuskeln, bei denen ich gar nicht weiß, ob sie etwas bringen, die Tätowierungen, die gespielte oder echte Bescheidenheit, den Gemeinschaftsgeist, die erschrockenen Reporterstimmen, wenn jemand blutet oder sich das Knie verdreht. Da ist einfach plötzlich so viel Machbarkeit, so viel Menschlichkeit in der Welt!

Ich liebe die schmerzvolle Beherztheit in den Gesichtern, wenn die Spieler ihre Hymne singen, Hand aufs Herz, der eigenen Bedeutung qualvoll-freudig in aller Demut bewusst. Sie singen – und das ist großartig – ihre stolzen Texte ohne Aggressivität, ohne Auftrumpfen, als wäre weltweit längst klar, dass kein Land über dem andern steht. Zwar liebt/achtet/schätzt/schützt man das eigene mehr, aber nicht, weil ein anderes weniger wert wäre, sondern weil man zufällig in dem einen zuhause ist.

Hauptsache, der Ball rollt immer weiter

So steckt in jedem sogenannten Spitzenspiel nicht nur die Möglichkeit von Frieden, sondern auch das Ackern all der anderen, unteren Ligen und Klassen, in den vielen Vereinen und Mannschaften, wo die ganz und gar Unberühmten fern jeder Kameratauglichkeit kameradschaftlich trainieren und froh sind, den Ball und den Kumpel und manchmal sogar das Tor zu treffen, weil sie den Sport lieben und den Trupp und das Bier danach und, kaum je ausgesprochen, das Gefühl dazuzugehören. Das dürfen bittebittebitte, auch nicht in Grevesmühlen, keine Nazirassisten kaputtmachen.

Für die Zugehörigkeit aller sorgen hoffentlich weiterhin all die Jugendtrainer, die in den sozial benachteiligten Vierteln ihre Jungs (und ein paar Mädchen) tranieren, dreimal in der Woche und am Wochenende Spiel, auf dem Weg von der F- zur D- zur C-Jugend, die sich durch kein verlorenes Spiel gegen übermächtige Gegner davon abbringen lassen, weil der Ball immer wieder rollt und nicht nach Herkunft oder Hautfarbe fragt, nur nach Zugehörigkeit. Neues Spiel, neue Chance.

All das kommt mir in den Sinn beim Anblick der schönen, gesunden Großaufnahme-Gesichter der superreich gewordenen Fußballer: dass ohne Fußball das Leben und das Land so viel ärmer wären. Und deshalb ist mir egal, ob es ein Sommermärchen zweipunktnull wird oder schlicht ein tolles Fußballspiel nach dem anderen. Hauptsache, es bleibt spannend. Hauptsache, es macht Spaß. Hauptsache, es geht weiter.

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Geschrieben von

Katharina Körting

Freie Autorin und Journalistin

2024 Arbeitsstipendiatin für deutschsprachige Literatur der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt

Katharina Körting

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