EM 2024: Kann ein neues Sommermärchen Olaf Scholz noch retten?

SPD Kathrin Gerlof macht sich Gedanken über Sport und Politik – und fragt sich, ob eine vierwöchige EM-„Fußballparty“ Olaf Scholz und die SPD noch aus ihrem Umfragetief herausziehen könnte
Ausgabe 24/2024
Die GroKo unter Angela Merkel wusste die gute Stimmung im Sommermärchen-Jahr 2006 für ihre Zwecke zu nutzen
Die GroKo unter Angela Merkel wusste die gute Stimmung im Sommermärchen-Jahr 2006 für ihre Zwecke zu nutzen

Foto: Guido Bergmann/Bundesregierung/Getty Images

Im Jahr 2006 – wir erinnern uns an das Sommermärchen? – veröffentlichte das Bundesinstitut für Sportwissenschaften eine Publikation, die sich mit der Frage befasste, ob Siege und Niederlagen der deutschen Fußballnationalmannschaft bei Europa- und Weltmeisterschaften Wahlerfolge nach sich ziehen. Die Verfasser:innen kamen zu dem Schluss, dass es einen Zusammenhang gibt, der „über anekdotische Belege hinausgeht“. Denn die allgemeine Stimmung sei das „logische Bindeglied zwischen Fußballplatz und Wahlurne“. Die Wahlforschung, so der Rat, müsse solch weichen Faktoren mehr Beachtung schenken. Der zu Recht mit großer Skepsis zu lesende Philosoph Peter Sloterdijk raunt gegenwärtig gar, für das dekadente Europa sei die anstehende Fußball-EM der neue Ernstfall – so wie es bereits Brot und Spiele in der Antike waren.

Die Umfragen für die regierende Koalition sehen nicht gut aus, nur noch ein Drittel der Wähler unterstützt sie. Natürlich kann man die Frage stellen, ob ein in weiten Teilen korruptes System und eine milliardenschwere Geldmaschine wie FIFA oder UEFA mit ihren Fußballspielen der Koalition auf die Sprünge und aus dem andauernden Umfragetief helfen kann. Vorausgesetzt, Deutschland fliegt nicht schon in der Vorrunde raus. Werden die Fans auf dem Kunstrasen der Berliner Meile nahe dem Reichstagsgebäude bei jedem Sieg der deutschen Nationalmannschaft denken: ,Was haben wir für eine tolle Koalition! Wenn nächstes Jahr Wahlen sind, kriegen die meine Stimme‘? Diese Frage ist, zugegeben, genauso unerträglich vereinfacht wie vieles, was über die flüchtige Substanz Wähler:innenwille geschrieben wird. Im Umkehrschluss müsste dann nämlich auch die Frage gestellt werden: Sind die Leute wirklich so doof?

Die Mächtigen haben sich immer gerne mit Fußballhelden gemein gemacht. Das war bei Helmut Kohl so, als er 1996 nach dem gewonnenen EM-Finale in die Umkleidekabine stürmte; und das hat Angela Merkel nicht anders gemacht, als sie 2010 nach einem 4:0 gegen Argentinien in Kapstadt die Kabine besuchte. Damals hatte Merkel rund 2,5 Millionen Facebook-Follower, der Nationalspieler Mesut Özil kam auf 31 Millionen. Und daraus wurden dann 33,5 Millionen für beide. Ein Momentum ohne Haltbakeitsdauer.

Viel nützlicher als die gute Stimmung im Sommermärchen-Jahr 2006 war für die damals schwächelnde GroKo die Möglichkeit, während der WM eine Menge Gesetze zu beschließen, die unter anderen Umständen für größere Aufregung gesorgt hätten. Die Mehrwertsteuer wurde erhöht, die Pendlerpauschale gekürzt, die Eigenheimzulage gestrichen. Etwas kleinlauter gefragt: Sind wir wirklich so doof? Dass es gerade mal elf Freunde braucht, um uns einzulullen und der Regierung freie Hand zu lassen?

Wähler:innen gelten inzwischen als dermaßen unberechenbar und kurzsichtig, dass es nur logisch klingt, der Politik zu raten, sich das zunutze zu machen, indem sie möglichst viel Geld in möglichst bombastische Arenen der Unterhaltung pumpt, um von den eigenen Unzulänglichkeiten abzulenken. Wie viele Sommermärchen bräuchte es gegenwärtig, um ausreichendes Vertrauen in die und hinreichende Verlässlichkeit für die Politik demokratischer Parteien zu bekommen? So wird kein Schuh draus. Wer wirklich meint, eine vierwöchige Fußballparty hätte das Potenzial, strukturelle politische Defizite zu verkleistern, sodass sich dies in Umfrage- und Wahlergebnissen niederschlägt, erklärte uns alle – die Regierenden und die Regierten – für rappeldoof.

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