Gegen Neoliberalismus hilft kein Aspirin: Bayer feuert zahlreiche Führungskräfte

Stellenabbau Der Pharmariese will bis 2025 die Verwaltung verschlanken und feuert zahlreiche Leute in den Chefetagen. Für die Belegschaft ist das kein Fortschritt – im Gegenteil
Ausgabe 26/2024
Pharmariese Bayer will bis 2025 zahlreiche Angestellte aus den Chefetagen feuern. Was bedeutet das für die restliche Belegschaft?
Pharmariese Bayer will bis 2025 zahlreiche Angestellte aus den Chefetagen feuern. Was bedeutet das für die restliche Belegschaft?

Foto: Imago/Sven Simon

Kann es wirklich sein, dass Mitarbeitende in Unternehmen nun endlich mitbestimmen können? Wird wahr, wofür Arbeitende, Gewerkschaften und Betriebsräte viele Jahrzehnte gekämpft haben? Ist moderne Arbeit wirklich faire Arbeit? Wenn man verfolgt, was beim Konzernriesen Bayer vor sich geht, seit im letzten Jahr der neue CEO Bill Anderson im Amt ist, könnte man das glauben.

Der Konzern soll ein neues Organisationsmodell bekommen, das mit weniger Hierarchie, Bürokratie und Strukturen auskommt. Entscheidungsprozesse sollen sich beschleunigen. Bayer sei zu träge und hätte ein veraltetes Betriebssystem, sagt der Konzern. Etwa 17.000 Führungskräfte sollen auf zwölf Hierarchiestufen zwischen dem Vorstandschef und den Kunden stehen. Im April 2024 schrieb Fortune sinngemäß übersetzt, dass der Pharmariese viele seiner Chefs und Chefinnen entlässt, damit 100.000 Mitarbeitende „selbstorganisiert“ arbeiten können. Das scheint die Befreiung der Arbeitenden von der Fuchtel der Vorgesetzten zu sein. Oder doch nicht?

„Dynamic Shared Ownership“ (DOS) heißt das neue Modell, mit dem das Unternehmen in die Selbstorganisation geführt werden sollen. Diese zielt im Wesentlichen darauf ab, in autonomen Teams dezentral Entscheidungen zu treffen und dafür alle anfallenden Aufgaben in eher klein zugeschnittenen Verantwortungsbereichen transparent für alle zu bearbeiten. Verantwortlich ist, wer für den entsprechenden Bereich am kompetentesten ist.

Führung soll auf diese Weise geteilt werden und sich situativ ergeben. Wie diese Verantwortungsbereiche und damit verbundenen Tätigkeiten besetzt und interpretiert werden, muss immer wieder miteinander ausgehandelt werden. Mitarbeitende erweitern durch häufigere Rollenwechsel schneller als gewöhnlich ihre Arbeitsbereiche und -qualifikationen.

Sie sollen zu Unternehmerinnen und Unternehmern im Unternehmen werden. Die Frage, die sie in ihrem jeweiligen Verantwortungsbereich antreibt, lautet: Was brauche ich in meiner Rolle? Das erinnert an die Losung: Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht. Die Entscheidungsbefugnisse, die mit den neuen Rollen einhergehen, verteilt Macht, die vorher bei Hierarchiestufen lag, zu Mitarbeitenden um.

Allgemein kann von einer Demokratisierung der Arbeit gesprochen werden. Zu schön, um wahr zu sein?

Stellenabbau und Mehrarbeit

Stutzig sollte machen, dass der Vorschlag, selbstorganisiert zu arbeiten, fast immer von ganz oben kommt, nicht von den Mitarbeitenden. Die wollen zwar verbesserte Arbeitsbedingungen, Graswurzelbewegungen für Selbstorganisation kommen aber vergleichsweise selten vor. Die Befreiung der Arbeitenden bei Bayer heißt schließlich gleichzeitig massiver Stellenabbau. Außerdem passiert Folgendes, wenn Organisationen formelle Strukturen abbauen: Es bleiben mehr Spielräume für informelle Strukturen. Häufig wird die Bürokratie durch Zweckprogramme ersetzt: Die Organisation gibt nicht mehr vor, wie ein Ziel zu erreichen ist, Hauptsache, es wird erreicht. Die Verantwortung für Entscheidungen der Organisation liegt nun bei den Mitarbeitenden. Entscheiden die sich falsch, kann sich das Unternehmen von Schuld freisprechen und sie den Mitarbeitenden zuschieben. Schließlich haben die den Weg zur Zielerreichung zu verantworten.

Wenn Mitarbeitende außerdem mehr Konflikte miteinander aushandeln müssen, die vorher von Vorgesetzten geführt wurden, dann heißt das schlicht, dass es zu mehr Machtkämpfen im Unternehmen kommt. Die Demokratieforschung zeigt das verlässlich. Selbstorganisation bevorzugt folglich Individuen, die Vorschläge einbringen, initiativ und konfliktfreudig sind. Romantiker nennen das „Arbeiten auf Augenhöhe“. Eine Studie der Universität Basel des Wirtschaftswissenschaftlers Michael Beckmann ergab hingegen, dass Mitarbeitende, die ihre Arbeitszeiten selbst verantworten, rund 80 Minuten mehr pro Woche arbeiten als diejenigen, die kontrolliert werden.

Das kommt einem Unternehmen wie Bayer gut zupass: Teure Managementposten werden eingespart. Mitarbeitende führen und organisieren sich selbst, aber bekommen nicht das Gehalt, was vorher die Managementposten bekamen – dafür arbeiten sie im Schnitt aber mehr als vorher.

Der Wegfall von Hierarchien kann sich zweifelsfrei bestärkend für manche Mitarbeitende anfühlen. Mehr Partizipation, da wo es Sinn macht, ist klug. Unnötige Regeln sollten in jeder Organisation erkannt und abgeschafft werden. Aber Selbstorganisation führt nicht per se zu mehr Fairness. Sie verlagert die Verantwortung auf die Individuen im Unternehmen, verspricht Mitarbeitenden aber, dass für sie jetzt alles besser wird, weil sie es endlich selbst in der Hand haben. Aber sich selbst organisierende Mitarbeitende lösen nicht die grundsätzlichen Probleme in der Formalstruktur einer Organisation. Sie verschleiern sie nur. Auffällig ist übrigens auch, dass in Unternehmen, die selbstorganisiert arbeiten, so gut wie keine gewerkschaftliche Interessenvertretung zu finden ist.

Jeder kämpft für sich allein. Das klingt wie der feuchte Traum der Neoliberalen.

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