Lea Ypi wirbt für eine moralische Version des Sozialismus
Interview Demokratie und Kapitalismus sind nicht kompatibel, sagt die Philosophin Lea Ypi. Wenn wir keine Alternative zu ihm entwickeln, verlieren wir gegen die Rechten. Was hat es mit einem moralischen Sozialismus auf sich?
Für Lea Ypi „jagt die Linke einem Diskurs hinterher“
Foto: Amelie Amei Kahn-Ackermann für der Freitag
Vögel zwitschern, Rasen fällt sanft zum Halensee ab, die Terrasse liegt noch im Schatten der prächtigen Villa aus dem frühen 20. Jahrhundert, gegenüber wurde 1922 der Außenminister Walther Rathenau ermordet. Im Wissenschaftskolleg Berlin, kann man denken, lässt es sich prima über eine moralische Version des Sozialismus sinnieren.
Die albanisch-britische Politikwissenschaftlerin Lea Ypi ist sehr bekannt geworden mit Frei, ihrer autobiografischen Schilderung über den Zusammenbruch des Staatskommunismus. Im Frühjahr erschien bei Suhrkamp ihre Untersuchung zur Einheit der Vernunft bei Kant. Moralischer Sozialismus war nun ihr Thema bei den diesjährigen Benjamin Lectures, für die sie in Berlin ist.
der Freitag: Frau Ypi, wenn moralischer
jamin Lectures, für die sie in Berlin ist.der Freitag: Frau Ypi, wenn moralischer Sozialismus die Antwort ist, wie lautete dann die Frage?Lea Ypi: Was ist falsch am Kapitalismus?Moralischer Sozialismus ist nicht unbedingt die Antwort auf Kritik am Kapitalismus, oder?Okay, nicht unbedingt. Aber unter seinem Dach kann man eine systemische Kritik des Kapitalismus entwickeln. Und ich denke, es ist notwendig, eine Art Erzählung anzubieten, die verschiedene Antworten auf die Frage, was eigentlich falsch am Kapitalismus ist, einweben kann. Dies betrifft nicht nur den politischen Einsatz, sondern auch die Epistemologie, also Theorie und Praxis.Frederic Jameson vermutete, dass es einfacher ist, sich das Ende der Welt als das Ende des Kapitalismus vorzustellen. Wie löst moralischer Sozialismus das auf?Er soll deutlich weiter gehen als die traditionelle marxistische Analyse, die auf die empirischen Widersprüche des Kapitalismus hingewiesen hat. Diese würden dann den Untergang des Systems provozieren und in eine Ära sozialer Revolution führen. In gewisser Weise bedeutet die Rückkehr zum moralischen Aspekt des Sozialismus den Hinweis, dass all das nicht automatisch erfolgt, wenn wir nicht über die zugrunde liegende moralische Frage eines sozialen und politischen Systems nachdenken. Ein Ende des Kapitalismus muss nicht zwangsläufig zum Sozialismus führen, weil auch Barbarei die Folge sein könnte, eine Art kompletter Regression, die Zerstörung der Umwelt oder Vernichtung der Menschheit. Wenn man keine moralischen Fragen stellt, besteht keine Notwendigkeit, den Kapitalismus durch ein System zu ersetzen, das überlegen sein könnte.Im Zentrum steht aber ein Vernunftbegriff. Was meinen Sie damit?Nun, ich verstehe Vernunft als kantische Fähigkeit der Organisation des Wissens mit einem Zweck. Und zwar mit einem moralischen Zweck. Das ist es auch schon. Eine Funktion und eine Fähigkeit, die aktiviert wird. Die sozialistische Tradition impliziert dann, dass es unmöglich ist, moralisch zu sein, ohne soziale Umstände zu berücksichtigen. Kant dachte, wir hätten die Fähigkeit zur moralischen Handlungsfähigkeit, aber ob das ausreicht, ob es letztendlich entscheidend ist für die Wahl der richtigen Maxime, wie Kant sagen würde, hängt von anderen Umständen ab. Genauer gesagt, sprechen wir von anthropologischen, gesellschaftlichen, kulturellen Umständen. Viele Dinge müssen zusammenpassen, damit wir Moral verwirklichen können.Dennoch, wenn man Moral und Sozialismus verbindet, klingt das ein bisschen wie „wahre Freundschaft“. Inwiefern ist das mehr als ein Pleonasmus?Ich denke, es gibt eine Kritik des Kapitalismus, die aus der sozialistischen Tradition kommt und in die Richtung geht, wie ich über die Wirtschaft denke. Über das Politische, über Familienleben. Und es scheint mir, dass es in dieser Tradition Ressourcen gibt, die wir nicht aufgeben sollten. Also nicht aufzuhören, kritisch darüber nachzudenken, wie wir den Kapitalismus überwinden können. Das ist teilweise der Grund, warum ich auf den Begriff Sozialismus zurückkomme, weil ich denke, dass er selbst diese Vision einer Gesellschaft enthält, in der die Menschen einander auf kantische Weise anerkennen, also, dass sie sich als Selbstzweck verstehen. Eine der Kernkritiken am Kapitalismus ist, dass er auf der Kommerzialisierung von Individuen basiert. Und dass Profit immer der Antrieb ist. Die sozialistische Kritik am Kapitalismus kann aufzeigen, dass der Markt den Menschen keine Freiheit ermöglicht. Er ermöglicht Freiheit für diejenigen, die Märkte gestalten, die mit einem Vorteil hineingegangen sind, die große Gewinne einfahren. Aber Märkte bedeuten den Tod für andere Menschen. Und da wird der moralische Universalismus wichtig: Wem Menschen als Spezies wirklich am Herzen liegen, muss über ein alternatives System nachdenken.Der Begriff Sozialismus enthält auch den Verweis auf ein historisches, dysfunktionales, oft brutales System. Noch dazu war es eine wachstumsorientierte und industrielle Ökonomie, oft schädlich für Menschen und Umwelt ...Der historische Staatssozialismus funktionierte nicht. Hier soll der moralische Teil den Unterschied aufzeigen. Wenn Sie moralische Prinzipien entwickeln, tragen Sie einer Kritik am orthodoxen Marxismus Rechnung. Die ersten Opfer des Staatssozialismus und Stalinismus waren Sozialisten, die ihn kritisierten oder bekämpften. Wenn man tatsächlich sozialistische Dissidenz in unseren Gesellschaften wiederbeleben will, kann man den Begriff aber nicht den Gewinnern der 1990er-Jahre überlassen und einer verengten Sicht auf Sozialismus zustimmen. Moralischer Sozialismus kritisiert sowohl den Staatssozialismus als auch den Kapitalismus. Ich finde, dass der moralische Sozialismus etwas hat, das uns heute ansprechen und inspirieren könnte, er zieht aus beiden Misserfolgen Lehren. Der Kernaspekt besteht darin, die öffentliche Vernunft mit einer antikapitalistischen Kritik zu verbinden. Dies kann nicht aus einer autoritären Geste kommen, sondern durch eine deliberative Form, also gemeinsames Aushandeln. Und das kann sogar die antikapitalistische Kritik der sozialdemokratischen Tradition wiederbeleben.Wie gehen wir aber mit Leuten um, die für Orbán, für Le Pen, für die AfD stimmen? Es ist deutlich, dass weder eine physikalische Gesetzmäßigkeit der Klimakrise noch die öffentliche Vernunft sie ansprechen.Ich denke trotzdem, dass man ein besseres Argument vorbringen muss, um sie zu erreichen. Darin unterscheide ich mich von vielen Linken oder Leuten in der Mitte, die denken, dass der Aufstieg der extremen Rechten aus einer mysteriösen, unerklärlichen Kraft entstammt, sozusagen aus der Unklarheit des menschlichen Geistes. Es macht keinen Sinn zu glauben, dass es eine Art tiefes Übel gibt, es hilft nicht, so etwas zu essenzialisieren. Oder es einfach einem Mangel an Intelligenz zuzuschreiben. Dies sind rationale Akteure, denen ein Diskurs präsentiert wurde. Und in Ermangelung eines besseren Diskurses haben sie sich dafür entschieden, dass dieser widerspiegelt, wer sie sind. Dagegen braucht man ein besseres Argument und Forderungen nach einer besseren Politik.Einer der Reize des Kapitalismus ist der Komfort, oder? Unser bequemes Leben wird von Menschen geschaffen, die realiter weniger Rechte haben. Moral stellt eine solche privilegierte Position infrage. Glauben Sie nicht, dass die extreme Rechte so beliebt ist, weil sie im Gegenzug vorgibt, Menschen ihrer Privilegien zu versichern?Die heutigen Faschisten beginnen mit der Kritik am Status quo und am Liberalismus. Genauer gesagt, am Neoliberalismus. Sie stellen es vielleicht so nicht dar, aber sie beginnen mit dem Unbehagen, das sozial aus dem Neoliberalismus resultiert. Dabei identifizieren sie zum Beispiel die EU, sie geben vor, dass EU-Regeln Ländern, Regionen die Kontrolle entzögen. Der Brexit-Slogan „take back control“ spielt darauf ab. So gibt die Rechte Menschen ein Gefühl von Handlungsfähigkeit, etwas, das sie ihrer Meinung nach verloren haben. Dieses Argument findet Anklang. Ich glaube nicht, dass die Leute, die sich über Einwanderung Sorgen machen, grundlos gemein sind. Sie empfinden ein Unbehagen, wenn sie auf Unterstützung angewiesen, Arbeitslosigkeit ausgeliefert sind oder nicht genug Geld haben, um eine passende Wohnung zu finden. Es gibt da echtes soziales Unbehagen, das Rechte ansprechen.Für eine neoliberale oder rechte Partei zu stimmen beinhaltet die Überzeugung, dass es mir besser und jemand anderem nicht so gut gehen sollte wie mir …Es scheint, dass die Erzählung, nach der mich die andere Person bedroht, im Kontext unserer Wirtschaft überzeugend ist. Sie schürt Feindseligkeiten gegenüber Fremden. Das liegt daran, dass wir keine andere Erzählung haben, die tatsächlich genauso gut erklären könnte, wie wir in die Krise der Gegenwart geraten sind. Das Problem ist: Die Linke hat keinen Diskurs zu Migration. Linke Gruppen werden das Thema bestenfalls beschweigen, weil sie so einen Diskurs nicht in den Kontext einer umfassenderen Erzählung globaler Ungerechtigkeit stellen können. Epistemisch scheint der Ansatz für Menschen mit einer anderen politischen Perspektive unverständlich. Die Linke jagt einem Diskurs hinterher, den sie auf diskursiver Ebene verloren hat und auf politischer Ebene nicht gewinnen kann. Deshalb ist es wichtig, eine viel grundsätzlichere alternative Erzählung zu konstruieren.Woraus bestünde die?Mir scheint, als hätten wir dieses neoliberale Denken verinnerlicht, das den Einzelnen für alles Gute und Schlechte verantwortlich macht. Das Problem des Aufstiegs der Rechten ist nicht losgelöst von den Misserfolgen der Parteien der Mitte oder des dritten Weges der Sozialdemokratie, die zu sagen versuchen: „Die Verbindung von Demokratie und Kapitalismus ist in Ordnung.“ Ich glaube nicht, dass Demokratie und Kapitalismus kompatibel sind. Das Problem liegt nicht bei Individuen, die Orbán wählen. Unser Problem ist, dasswir nicht den richtigen Weg entwickeln, um die Widersprüche des Kapitalismus anzugehen. Wir artikulieren nicht ausreichend, was mit unserer kapitalistischen Gesellschaft nicht stimmt. Wir fragen uns stattdessen, wie wir den Kapitalismus zähmen und ein bisschen mehr Demokratie schaffen können. Davon abgetrennt fragen wir uns auch, warum uns diese Faschisten belästigen. Diese Art unsystematischer Analyse wird nicht ausreichen. Wenn Sie keine Alternative konstruieren, werden Sie sehen, dass diejenigen gewinnen, die eine entwickeln.Placeholder infobox-1
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