„Sex. Jüdische Positionen“ im Jüdischen Museum Berlin: Liebe deinen Nächsten
Begehren Verbieten, verhüten, verführen: Das Jüdische Museum Berlin stellt dem Judentum mit der Ausstellung „Sex. Jüdische Positionen“ die Gretchenfrage: Wie hältst du’s mit der Sexualität?
Große pinke Buchstaben mit breitem Strich und abgerundeten Ecken: „SEX“, so prangt es über dem Durchgang zur Sonderausstellung im Jüdischen Museum Berlin. Das Schriftbild suggeriert: Es wird grell, es wird funky, aber es wird nicht sehr hart. Und diese typografische Ankündigung löst die Ausstellung Sex. Jüdische Positionen, die hier seit dem 17. Mai zu sehen ist, ein. Das Jüdische Museum Berlin hat, in Kooperation mit dem Joods Cultureel Kwartier Amsterdam, eine beeindruckende Sammlung an Texten, Objekten und Kunstwerken rund um das Thema Sex versammelt – die mediale und thematische Breite gehen hier Hand in Hand.
Sex ist eine der grundlegendsten Erfahrungen der Menschheit. Nach Essen und Trinken, Schlafen und Kommunizieren ist Sex eine d
eren ist Sex eine der notwendigen Voraussetzungen für das Fortbestehen der Gattung, er geht also jeder Kultur voraus. Zugleich wirkt Kultur auf Sexualität zurück: Wer wann mit wem wie viel und zu welchem Zweck Sex haben darf – all das ist kulturell geprägt, selbst in einer so vermeintlich befreiten Gesellschaft wie der heutigen westlichen. Doch das Bedürfnis nach gesellschaftlicher Ordnung tritt mit der Sexualität in fortwährenden Konflikt – sie bleibt unbezwingbar, unverständlich, unheimlich.Diese Spannung durchzieht auch die Ausstellung, was schon an den Kapitelüberschriften abzulesen ist: „Pflicht und Vergnügen“, „Kontrolle und Begehren“, „Sexualität und Macht“ – im Prinzip ist diese Unterteilung redundant, geht es doch im Grunde stets um denselben Konflikt. Nur der letzte Abschnitt der Ausstellung – „Erotik und das Göttliche“ – setzt tatsächlich einen anderen thematischen Schwerpunkt.Betritt man die Ausstellung, fällt der Blick als Erstes auf eine innige Umarmung – eine Fotografie der US-amerikanischen Künstlerin Elinor Carucci. Neben der Zärtlichkeit und Intimität, die das Bild ausdrückt, illustriert es zugleich den zentralen ersten Komplex: Die Aufforderung Gottes „Seid fruchtbar und vermehrt euch“ an die Menschen ist an ein heterosexuelles Paar gerichtet und wurde auch so von den antiken Rabbinen ausgelegt. Die erste religiöse Regel des Judentums für Sexualität lautet: nur in der Ehe, nur Mann und Frau, nur zum Zwecke der Fortpflanzung.Während damit zwar ein Masturbationsverbot für Männer verbunden ist – womit sich beispielsweise der zum Chassidismus übergetretene Ori Gruder in seinem Film Sacred Sperm auseinandersetzt –, sind die religiösen Gesetze nicht per se lustfeindlich. Im Iggeret ha-Kodesh, einem aus dem 12. Jahrhundert überlieferten kabbalistischen Werk, gilt der Sex eines verheirateten Paares als heilig, „wenn er zur rechten Zeit und mit der richtigen Absicht stattfindet“. Und schon die Rabbiner der Antike waren sich nicht nur darin einig, dass Sex stets einvernehmlich sein müsse – sie postulierten auch eine Pflicht des Ehemanns, seine Frau zu befriedigen. Darüber hinaus ist die Frau jedoch „vor dem jüdischen Gesetz“, wie es in einem Zitat der Sozialreformerin und Frauenrechtlerin Bertha Pappenheim heißt, „kein Individuum, keine Persönlichkeit, nur als Gattin und Mutter wird sie gewertet und beurteilt“.Erstickt vom Buch der FrauenAus dieser Spannung zwischen patriarchaler Einschränkung und prinzipieller Offenheit für Sexualität hat sich ein äußerst produktiver, kontroverser und seit dem 20. Jahrhundert auch zunehmend diverser Umgang mit Sexualität entwickelt. So suchten jüdische Feministinnen oder Vertreter:innen der queeren Community immer wieder nach Möglichkeiten, sich innerhalb der jüdischen Tradition zu verorten und zu verwirklichen. Die Ausstellung findet hierfür passende künstlerische und diskursive Beispiele, etwa das Werk von Nechama Golan, die sich auf einer Fotografie von transparenten Seiten des Sefer Nashim umhüllt zeigt, die sie zu ersticken drohen. Im Sefer Nashim (Buch der Frauen), einem Teil der Mischne Tora, dem Gesetzeskommentar von Maimonides, wird beispielsweise lesbischer Sex verboten. Aber man begegnet auch der Tiktokerin Miriam Anzovin, die Talmudstellen feministisch interpretiert – für über 30.000 Follower.Es ist die Stärke der Ausstellung, sich all ihren Gegenständen mit wohlwollendem Interesse und Verständnis zu nähern. Wie leicht würde es fallen, sich über die Probleme orthodoxer Jüdinnen und Juden lustig zu machen – sei es der mit magischen Zeichen versehene Daumenring aus dem 18. oder frühen 19. Jahrhundert, der von Masturbation abhalten soll, oder das mühsame Zählen der Tage vor und nach der Menstruation und der nötigen Reinigung in der Mikwe (Frauen gelten während der Menstruation als unrein, Sex ist verboten).Doch der kuratorische Blick ist ein zärtlicher. Dem sind auch so außerordentliche Objekte in der Ausstellung zu verdanken wie das Bild eines orthodoxen Paares, das auf dem Bett sitzt und in die Kamera lacht, während die Frau die Hand des Mannes berührt – eine in der Öffentlichkeit undenkbare Zurschaustellung von Intimität.Doch natürlich beschränken sich „Jüdische Positionen“ nicht auf Religion. Vom Gräfenberg-Ring (benannt nach dem jüdischen Mediziner Ernst Gräfenberg), der bis in die 1960er als Verhütungsmittel zum Einsatz kam, bis zu den Abtreibungskits, die der National Council of Jewish Women in den USA nach dem Fall von Roe v. Wade verschickte – der Kampf um sexuelle und geschlechtliche Selbstbestimmung ist als gesamtgesellschaftlicher auch von Jüdinnen und Juden ausgetragen worden, und zwar durchaus mit Einfluss auf die sie umgebende nichtjüdische Gesellschaft – man denke an Magnus Hirschfeld und Sigmund Freud, die natürlich in dieser Ausstellung nicht fehlen dürfen.Doch dieser wohlwollende Blick erzeugt mitunter eine Wohlfühlatmosphäre, in der nur wenig Irritation entsteht – als scheute man den Blick auf das Dunkle, Unverstandene, Gefährliche der Sexualität. „Die Geschlechtsorgane sind die empfindlichsten Organe des Menschen. Sie kennen keine Diplomatie. Sie sagen schonungslos die Wahrheit.“ Dieses Zitat des jiddischen Schriftstellers Isaac Bashevis Singer mag zwar humoresk anmuten, doch seine innere Wahrheit ist düster: Das Gegenteil von Diplomatie ist rohe Gewalt. Diese ist natürlich schwer ausstellbar, lediglich in einigen künstlerischen Werken klingt sie an.Auf besonders irritierende Weise zum Beispiel in den ausgestellten Stalag-Heften. Diese bis in die 1960er in Israel populären pornografischen Geschichten handelten von alliierten Kriegsgefangenen, die in deutschen Lagern von weiblichen SS-Angehörigen sexuell gedemütigt und vergewaltigt werden. Ihre Popularität nahm bezeichnenderweise nach dem Eichmann-Prozess, als die israelische Gesellschaft also über einen der Haupttäter der Shoah zu Gericht saß und diesen ultimativ – mit dem Tode – bestrafte, stark ab. Als habe es noch eines weiteren Beweises der Plausibilität psychoanalytischer Theorie bedurft.Von besonderer Schönheit ist indes der letzte Abschnitt, der den spirituellen Gehalt von Sexualität thematisiert. Man trifft hier auf eine Vertonung des „Lieds der Lieder“, einer Sammlung erotischer Gedichte, die nichts weniger als Teil der Hebräischen Bibel ist – und auf die Bilderserie Talmudische Episoden aus dem Babylonischen Talmud von Noa Snir, einem Auftragswerk für die Ausstellung. Die mit klaren Flächen und den Kontrasten fast schriller Farben enorm zeitgenössisch illustrierten talmudischen Szenen heben den universellen Charakter der sexuellen Erfahrung hervor: Wir versuchen doch alle nur, damit fertig zu werden, dass wir begehren.Placeholder infobox-1
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